Читать книгу Die Ring Chroniken 1 - Erin Lenaris - Страница 10
Оглавление7. Kapitel
Am nächsten Morgen weckt mich eine kalte, nasse Hand. Ich blinzle und erkenne Felix, der triefnass und aufgekratzt vor meinem Bett herumhüpft.
„Hörst du es nicht?“ Er wedelt mit den Armen vor meinem Gesicht wie wild herum. „Es regnet! Es! Reeegnet! Los, komm raus! So was Frisches hast du noch nie gesehen!“
Ich reibe mir die Augen und lausche. Schwere Tropfen trommeln an die Fensterfront und prasseln auf das Vordach unseres Schlafsaals. Felix zerrt mich hoch, ich stolpere ihm im Nachthemd hinterher. Draußen fallen schnurgerade Wasserströme vom Himmel, mit wechselnder Stärke, aber unablässig. Ungläubig schaue ich zu, wie die rauschenden Wassermassen ungenutzt im Boden versickern. In Polaris reden sie angeblich von „schlechtem Wetter“, wenn es wie aus Kübeln schüttet. Bei uns wäre das die Sensation des Jahrhunderts.
„Da guckst du, was?“, sagt Felix. „Hier fallen die Liqui vom Himmel. Los, lass uns in Geld baden!“ Mit diesen Worten zieht er mich auf den Balkon.
Der Regen platscht auf meinen Kopf, läuft mir in den Nacken und kühlt meine abgeklebte Operationswunde. Lachend breite ich die Arme aus, lege den Kopf in den Nacken und blinzle mit nassen Wimpern in den Himmel. Als Felix seine Zunge herausstreckt und den Regen auffängt, probiere ich das auch. Zu Hause schmeckt das Wasser abgestanden und meistens gechlort – hier ist jeder Tropfen frisch und sauber.
Inzwischen klebt mir das Nachthemd am Körper, und meine Haare sind patschnass. Wirre Strähnen hängen mir ins Gesicht, die ich lachend zur Seite puste. Ich spüre, wie Felix mich beobachtet. Leicht unsicher schaue ich an mir herunter. Meine Schlaftunika klebt mir inzwischen komplett durchnässt am Leib, und von den Haaren laufen mir kleine Rinnsale in den Rückenausschnitt. „Ich sehe aus wie eine zerzauste Wüstenrennmaus“, stelle ich fest, was Felix grinsen lässt.
„Ach was, du siehst doch immer toll aus“, erwidert er.
Einen Moment lang bleibt mir vor Überraschung der Mund offen stehen. Wo kommt denn das Kompliment plötzlich her? „Tust du wirklich“, bekräftigt Felix. Er zwinkert mich verschmitzt an, bevor er mich packt, an sich zieht und in einem selbst erfundenen Regentanz im Kreis herumdreht.
Durch den Lärm, den Felix und ich veranstalten, sind auch die anderen aufgewacht und gesellen sich zu uns auf den kleinen Balkon. Morry stellt sich direkt unter den Regenablauf am Dach, sodass der Wasserstrahl von seinem Kopf in alle Richtungen platscht. Sein nasses Gesicht glänzt ungewohnt rosig. Da fehlt doch was, überlege ich. Dann fällt es mir auf: Seine Pickel sind kaum noch zu sehen! Die Nomen-Gesundheitsoptimierung scheint zu halten, was sie verspricht.
Felix lenkt den Wasserstrahl aus der Dachrinne auf die Neuankömmlinge und grinst über die spitzen Schreie der Mädchen. Die tun so, als wären sie empört, doch ihrem anschließenden Kichern zufolge lassen sie sich die Regendusche nur zu gern gefallen. Die sonst so schüchterne Mila quietscht besonders begeistert. Lachend bespritzen wir uns gegenseitig, bis alle klatschnass sind. Doch allmählich spüre ich die Kälte und fröstele.
Olya streicht durch ihre wirren Haare und rümpft die Nase. „Kein Wunder, dass sie hier jeden Tag warm duschen“, sagt sie. „Ab ins Badezimmer.“
Badezimmer? Allein schon das Wort lässt mich an Lottogewinner und reiche Firmenbosse denken. So etwas gibt es im Rauring nicht, schließlich kommen wir nur einmal im Jahr zu einem richtigen Badevergnügen, wenn das große Waschfest gefeiert wird. Fünf Familien sparen gemeinsam auf eine Wanne Frischwasser, der sie schon Wochen zuvor entgegenfiebern. Sobald das kostbare Nass endlich da ist, planschen wir darin, bis es trüb ist wie Sojamilch – schließlich muss für die nächsten dreihundertvierundsechzig Tage wieder ein feuchter Lappen genügen.
Aber im Regenring wäscht man sich täglich unter fließendem Wasser! Das muss ich unbedingt auch probieren. Ich nehme noch zwei tiefe Züge von der klaren Luft und folge den anderen Mädchen in den hell erleuchteten Duschgang.
Erst drehe ich die Dusche nur halb auf und verrenke mich unter ihrem Strahl, um die Pflaster in meinem Nacken und an meinem Arm trocken zu halten. Doch das elastische, silbrig glänzende Gewebe scheint dicht zu sein, und das warme Wasser ist eine Wohltat. Ich werde immer mutiger, bis ich den Strahl schließlich voll aufdrehe und das angenehme Nass über meine kalten Schultern laufen lasse. Es rinnt über meine Arme, perlt von der Haut ab und wärmt meinen ganzen Körper. Minutenlang drehe ich mich unter dem dampfenden Regen, kriege gar nicht genug von dem unglaublichen Kitzeln des Duschstrahls auf meiner Zunge und meinen Lippen. Ich schnuppere an allen Gelspendern, rieche Kräuter, Zitronen und andere Früchte. Schließlich entscheide ich mich für ein rötlich glänzendes Shampoo, das intensiven Blütenduft verströmt und meine verfilzten Haare glättet. Es tut mir fast leid, als der wunderbare Geruch mit dem Schaum den Abfluss hinunterfließt.
Nachdem ich die Duschkabine verlassen habe, fühle ich mich wie neugeboren. Das schlechte Gewissen, das sich normalerweise bei jeder Wasserverschwendung meldet, ignoriere ich heute ausnahmsweise. Ich vergrabe meine Finger in einem flauschigen Handtuch und rubble meine Haare trocken. So seidig weich waren sie noch nie.
Auch mein Hals hat sich verändert. Die Entzündungen sind so gut wie weg! Wo meine Haut gestern noch feucht und wund war, ist über Nacht eine rosige Schicht nachgewachsen. Ganz vorsichtig streiche ich darüber. Die neue Haut ist noch dünn und glänzend, doch absolut trocken. Anscheinend wurden die wunden Stellen gestern schon mit der Salbe behandelt. Bei all den Beruhigungsmitteln habe ich das wohl verschlafen.
Neben meinem Bademantel steht die rote Tube bereit, die mir Dr. Kaishen verschrieben hat. Um die frische Haut nicht gleich wieder aufzureißen, tupfe ich das durchsichtige Gel ganz vorsichtig auf. Es fühlt sich kühl an, richtig angenehm im Vergleich zu der grässlichen Brennsalbe, die ich zu Hause benutzen musste. Hinterher ist meine Haut ein bisschen taub. Dieses Schmerzmittel könnten wir uns daheim nie leisten.
Als ich überlege, wer mich gestern eingecremt hat, vom Hals über die Schultern bis zu den Oberarmen, schießt mir das Blut in den Kopf. Das war bestimmt Kohen.
Weil bis zum Frühstück noch etwas Zeit ist, gehe ich im Bademantel wieder hinaus auf den Balkon. Der Regen hat sich inzwischen verzogen, und das nasse Laub der Bäume funkelt in der Sonne. Polaris liegt im Tal unter einer Wolkendecke, nur die höchsten Glastürme ragen in wässrigem Blau heraus. Ich beuge mich über das Geländer, um die tropfenden Farnwedel auf der Wiese zu betrachten.
Mein Herz macht einen Hüpfer. Dort unten ist Kohen!
Was macht er denn da?
Klettern? Scheint ganz so. Er hängt an dem vordersten Pfeiler des Verwaltungsgebäudes und arbeitet sich langsam an der Stahlsäule hoch. In dem weißen T-Shirt sieht er ganz anders aus als im Arztkittel. Normaler. So wie einer von uns, nur viel attraktiver.
Er klettert ohne Sicherung, hoch über der Wiese. Ich halte mich am Geländer fest und wage kaum zu atmen. Das Metall ist so glatt, dass Kohen eigentlich jeden Moment abrutschen müsste. Aber seine Füße finden Halt, wo keiner ist, an den Nieten des Stahlträgers und in den schmalen Spalten zwischen den Abdeckplatten des Pfeilers. Geduldig tastet er nach einer Griffmöglichkeit für seinen nächsten Zug. Kohen ist konzentriert, hält seinen Körper nahe am Pfeiler. Eine Haarsträhne klebt in seiner Stirn. Er hat die Arme so stark angespannt, dass die Sehnen deutlich hervortreten, doch trotz der Kraftanstrengung sind seine Bewegungen geschmeidig. Er bemerkt nicht, dass ich ihn beobachte. Sein Blick gilt nur dem nächsten Griff, der ihn ein Stück höher bringt. Ich könnte ihm ewig zuschauen.
Nachdem er oben angelangt ist, zieht er sich auf das Kapitell des Pfeilers hoch. Jetzt steht er im Profil da, atmet tief durch und streicht sich die Strähne aus dem Gesicht.
Er dreht sich um, schaut hoch und entdeckt mich. Verlegen hebe ich die Hand und winke zaghaft. Kohen lächelt zurück, so breit und spitzbübisch, dass mein Herz kurz aussetzt und seinen Takt erst wiederfindet, als Kohen sich auf den Balkon des Verwaltungstraktes schwingt und im Gebäude verschwindet.
Aus unserem Schlafsaal dringen Geräuschfetzen an mein Ohr und lassen mich aufschrecken. Ich bin spät dran. Eilig tapse ich auf Zehenspitzen ins Innere. Dort höre ich aufgeregte Stimmen. Unsere Trainingsoveralls sind da!
Olya hat ihren schon in der Hand. Mit leuchtenden Augen entfaltet sie den metallisch schimmernden Stoff und streichelt ihn andächtig. Auch in meinem Fach liegt ein solcher Overall, grau-glänzend mit weißen Einlagen. Definitiv schick, aber eng. Hoffentlich nicht zu eng.
Sofort probiere ich ihn an. Die knisternden Hosenbeine schmiegen sich weich um meine Oberschenkel, der Reißverschluss geht kinderleicht zu. Der Anzug passt wie angegossen, genau wie die elastischen Trainingsschuhe mit dem WERT-Logo im Gummiprofil. Für die Haare liegt eine sichelförmige Spange bereit. Wir sollen sie unbedingt immer hochstecken, damit das Nackenteil unseres Nomens frei bleibt.
Olyas Sanduhrtaille sieht in dem neuen Dress umwerfend aus. Sie tänzelt strahlend lächelnd vor uns her, genießt die neidischen Blicke und schwebt förmlich auf Wolken. Ich bin die Königin, sagt sie mit jeder ihrer Bewegungen.
„Lass dir den Spaß nicht verderben“, flüstert mir Mila zu. Erstaunlich, wie gut sie mich schon kennt. „Komm, wir gehen frühstücken.“
Im Speisesaal wartet eine bunte Vielfalt an Obst auf uns. Schnell stecke ich mir eine dicke, tiefrote Beere in den Mund und genieße die Geschmacksexplosion auf meiner Zunge. Ein Traum! Wenn das meine Mutter sehen könnte.
Felix lädt seinen Teller mit Fleisch- und Wurststücken voll und setzt sich zu uns an den Tisch. Er stopft sich eine blassrote Schinkenscheibe in den Mund und kaut mit vollen Backen. Ich kann ihn verstehen, denn nach sechzehn Jahren staubtrockenen Fleischimitats gibt es viel nachzuholen. Mila und ich kriegen allerdings nicht viel runter. Wir sind zu nervös in Anbetracht dessen, was heute auf uns zukommen wird. „Was machen wir wohl heute im Training?“, fragt Mila, wobei sie die Stirn runzelt.
Felix schluckt seinen Bissen hinunter und reckt das Kinn. „Wir werden uns der WERTschen Wohltaten würdig erweisen“, verkündet er. „Wir werden Schmieröl trinken, um zu Ehren der Firma die WERT-Melodie mehrstimmig zu singen.“ Felix imitiert die schleimige Stimme des Senators und seine einstudierten Gesten so treffend, dass man glaubt, Sark persönlich säße mit uns am Tisch.
Mila kichert hinter vorgehaltener Hand. Ihr Stirnrunzeln ist kleinen Lachfältchen gewichen, als sie Felix bewundernd von der Seite her anschaut. Das spornt ihn zu weiteren Parodien an. Er beißt die Zähne zusammen und spannt die Muskeln an, bis die Sehnen aus seinem Hals hervortreten. „Dann rasieren wir uns die Haare ab“, ruft er. „Wir rennen mit dem Tarmoschädel durch die Wand. Durch. Die. Wand.“
Mila hält sich den Mund zu, damit sie nicht laut losprustet.
„Wir. Sind. Keine. Schwächlinge!“, stößt Felix hervor.
„Schsch, nicht so laut“, ermahne ich ihn zischend, halte mir den Finger an den Mund und blicke mich besorgt um. Wir sind hier nicht allein. An unseren Tisch wollte sich zwar niemand dazusetzen, aber Felix brüllt, als wäre der ganze Speisesaal leer. „Pass bloß auf, dass uns keiner hört“, warne ich ihn.
„Ach ja, stimmt“, erwidert Felix nun leiser. „Unsere Trainer haben ihre Riesenohren überall, allen voran dieser Kohen. Wie der sich gestern aufgespielt hat! Als ob er einen Stock im Hintern hätte.“
Der steht tatsächlich an der Tür. Jetzt ist er wieder ganz der Ausbilder mit dem silbernen WERT-Emblem auf der breiten Brust. Aber für ein kleines Lächeln in meine Richtung reicht es doch. „Der Trainingsbeginn für Sektorengruppe A wurde verschoben, und zwar auf jetzt sofort. In fünf Minuten sehen wir uns im Demo-Raum B“, verkündet er, dreht sich um und verlässt den Saal.
Schnell springen Mila, Felix und ich auf und eilen zu der angesetzten Übungsstunde. Als wir in unserem Trainingsraum ankommen, wartet Kohen schon auf uns. So wie er auf dem Podest steht, in dem nachtblauen Overall mit den glänzenden Einsätzen und den schwarzen Stiefeln, sieht er ganz anders aus als vorhin beim Klettern, strenger, distanzierter – richtig abweisend.
„Wir beginnen mit der Einführung in das Nomen-Implantat“, erklärt er, nachdem sich alle versammelt haben. „Ihr könnt die OP-Pflaster nun abziehen.“
Ich taste nach der ungewohnten Wölbung in meinem Nacken. Unter dem glatten Kunststoffverband spüre ich das harte Dreiecksimplantat. Ich drücke vorsichtig darauf und fühle einen stechenden Schmerz.
Kohen hält uns einen Eimer für die Pflaster entgegen. Ich wechsle einen zweifelnden Blick mit Felix. Auffordernd hebt Kohen die Augenbrauen.
Also gut. Wir sind schließlich keine Weicheier.
Ich zupfe mit den Fingernägeln an dem klebrigen Rand meines Armpflasters. Verdammt, tut das weh! Es fühlt sich an, als würde ich meine eigene Haut langsam abziehen. Doch Kohens Blick ruht immer noch auf mir. Also beiße ich die Zähne zusammen und reiße das Pflaster mit einem schnellen Ruck ab. Tränen schießen mir in die Augen, aber der Schmerz ebbt schnell ab. In meinem Armrücken steckt ein glänzendes Schaltfeld, umgeben von empfindlicher zartrosa Haut. Ich rupfe mir auch das Nackenpflaster ab und werfe es in Kohens Eimer. Anerkennend nickt er.
Ich freue mich und merke erst nach einiger Zeit, dass ich über das ganze Gesicht grinse. Schnell senke ich den Kopf zu meinem neuen Nomen-Schaltfeld im Handrücken.
Nachdem auch die anderen pflasterfrei sind, hebt Kohen die Stimme. „Die erste Grundfunktion ist das tägliche Gesundheits-Update. Bestimmt fragt ihr euch, warum auf eurem Armmodul seit heute Morgen ein blaues Kreuz leuchtet – tippt doch mal drauf.“
Sowie ich das Kreuz berühre, erscheinen über meiner linken Hand eine Uhr, ein Apfel, eine Spritze und ein Herz. Überrascht mache ich einen Satz nach hinten, wobei die schimmernden Symbole mithüpfen. Mein Armmodul blinkt. Anscheinend projiziert es die dreidimensionalen Hologramme in die Luft.
„Das sind eure Gesundheitsdaten“, erläutert Kohen. „Blutdruck und Blutzuckerspiegel, Vitaminversorgung und ein paar Feinheiten, die ihr fürs Erste übergehen könnt. Das Herzhologramm zeigt euren Puls.“
Tatsächlich. Die Miniatur über meiner Handfläche hüpft in rhythmischer Aufregung auf und ab. Felix grinst und greift nach meinem Herzchen. Das springt vor seiner ungestümen Bewegung weg und verschwindet. An seiner Stelle erscheinen medizinische Daten zu meiner Herztätigkeit. Verblüfft starrt Felix auf meine Hand. Als sich unsere Blicke treffen, pulsiert sein Herzhologramm schneller. Mit einem verschämten Grinsen wischt er es beiseite.
Mila hat uns mit zusammengekniffenen Augen zugesehen. Auch ihr Leuchtherz klopft auffallend hektisch. Rasch zieht sie den Ärmel ihres Trainingsoveralls über ihr Armimplantat.
Bevor ich fragen kann, was mit ihr los ist, fährt Kohen bereits mit seiner Einführung fort. Als Nächstes widmet er sich der Ortungsfunktion unserer Nomen. Dazu klipst er sich eine Verstärkermanschette ans Handgelenk, die sein Hologramm auf zwei Meter Durchmesser vergrößert und den Ton für alle hörbar macht. Mit schnellen Wischbewegungen holt er eine dreidimensionale Darstellung des Adoptenzentrums hervor und zoomt in den Demo-Raum, wo wir als kleine Figürchen zu erkennen sind.
Felix reißt die Arme hoch und winkt. Sein holografisches Abbild grüßt zurück. Er lacht begeistert, während ich mit den Zähnen knirsche. Felix ist wohl noch nicht klar, was das bedeutet: Wir stehen unter ständiger Beobachtung. Kohen sieht ganz genau, was wir tun. Ob wir schlafen, essen oder aufs Klo gehen: Er ist immer dabei. Und sicherlich nicht nur er. Bestimmt hat Tarmos Nomen die gleiche Funktion.
„Das ist ja die totale Überwachung!“, stoße ich hervor, bevor ich weiß, was ich sage.
Kohen hält inne und schaut mich ernst an. „Keine Sorge, WERT achtet selbstverständlich auf die Intimsphäre der Adopten. So deutlich sind die Hologramme nur in öffentlichen Räumen zu sehen. Ansonsten sind sie verpixelt.“
Klar. Selbstredend. Und warum werden meine Ohren dann heiß? Weil das Bullshit ist. Ich presse die Lippen zusammen, damit ich nicht mit wüsten Beschimpfungen um mich werfe. Kohen wippt unruhig auf und ab. Mein Trotz irritiert ihn sichtlich. Immerhin.
Olya hat andere Sorgen. „Ich kann Tarmo nirgends entdecken. Wo ist er auf dem Display?“
„Tarmo kann ich nicht anzeigen, weil sein Nomen eine höhere Statusgruppe hat als meines. Nur die mir zugeordneten Träger niedrigerer Nomen-Gruppen sind sichtbar“, erklärt Kohen. „Aber nun kommen wir zur Nachrichten-Funktion. Dabei zeichnet das Nomen wie eine innere Kamera eure Stimme und eure Bewegungen auf. Probiert das mal.“
Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Ich drücke den Aufnahmeknopf und gebe ein paar sinnfreie Sätze von mir. Während ich die Nachricht abspiele, leuchtet eine zwanzig Zentimeter große Emony auf meiner Handfläche. Ich ärgere mich über meine unordentliche Frisur und die ungewohnt hohle, fast blecherne Stimme.
Olya dagegen dreht sich mit eleganten Tanzschritten und schickt die Aufnahme an alle. Die Jungs rufen sie sofort ab, woraufhin sich eine zart schimmernde Miniatur-Olya auf ihren Handflächen wiegt. Sie starren die kleine Lichtgestalt mit offenen Mündern an. Fehlt nur noch, dass sie zu sabbern anfangen. Dart holt sich Olyas Oberkörper in Originalgröße aus dem Verstärker, grinst und befummelt das Hologramm. Die echte Olya kichert, da er ins Leere greift.
„Das reicht“, beschließt Kohen. „Das Nomen ist kein Spielzeug. Es bestimmt ab sofort euer Leben. Die WERT-Gesellschaft hält damit Kontakt zu den Adopten. Nachrichten aus der Zentrale sind daher umgehend anzunehmen.“
„Und wenn ich nicht rangehe?“, fragt Felix leicht trotzig.
„Du wirst rangehen.“
„Werde ich nicht.“
Kohen ruft in seinem Hologramm eine kleine rote Sprechblase auf und zieht sie auf den Miniatur-Felix. Bei dem großen Gegenstück blinkt das Handmodul rot, erst langsam, dann immer schneller.
Felix schaut in die Luft und pfeift unbeteiligt. Doch dann fährt sein Arm ruckartig nach oben. Er starrt ungläubig auf die Leuchtanzeige, schüttelt seine Hand hektisch und pustet sie an. „Ahh, heiß“, stößt er keuchend hervor.
„Dann heb ab“, erwidert Kohen ruhig.
Als Felix mit dem Daumen auf den blinkenden Knopf drückt, erscheint darüber ein kleiner Kohen. „Deshalb sind offizielle Nachrichten unbedingt anzunehmen“, erläutert der Mini-Kohen. Bei seinem großen Gegenstück zuckt der rechte Mundwinkel, doch er sagt nichts. Schade, mich hätte sein Kommentar schon interessiert.
„So eine ‚Brand-Blase‘ schicke ich jetzt an Tarmo“, verkündet Felix, der sich von dem Schock schnell erholt hat.
Ein Grinsen huscht über Kohens Gesicht, und seine weißen Zähne blitzen. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, denn die nüchterne Antwort folgt prompt: „Geht nicht – höhere Statusgruppe.“
In dem Moment betritt Tarmo den Raum. „Eine viel höhere Statusgruppe“, betont er. „Die niederen Gruppen hören den höheren zu, nicht umgekehrt. Ihr seid die unterste von allen. Der absolute Bodensatz. Das ist euch hoffentlich klar. Ihr befolgt die Anweisungen, sonst gar nichts.“ Tarmo tippt an sein Handgelenk. „Da, ich hab was für euch. Verbrennt euch nicht“, meint er und verschwindet genauso schnell, wie er aufgetaucht ist.
Alle tippen eilig auf ihre Blinklichter. Erst erscheint der WERT-Stecker mit der Erkennungsmelodie der Firma, dann kommt das allseits bekannte „Gesicht der Zukunft“. WERT wählt unter den erfolgreichen Adopten regelmäßig einen aus, der mit seinem Werbespruch die Abendnachrichten eröffnet. Besonders häufig auf Sendung ist der charismatische Typ mit den leuchtenden Augen, der jetzt vor uns auftaucht. „WERT hat mir die Chance meines Lebens gegeben. Die werde ich nutzen“, versichert er uns zum millionsten Mal. Sein Gesicht ist effektvoll ausgeleuchtet, seine Stimme versprüht Energie. Unwillkürlich rolle ich mit den Augen.
Doch mir ist keine Verschnaufpause gegönnt. Es geht schon weiter mit der Speicherfunktion des Nomens. „Jedes Datenpaket hat Platz für tausend Bücher“, erläutert Kohen. „Ein Mensch kann eine Million verschiedener Pakete in seiner Blutbahn tragen, ihr könnt also eine Milliarde Bücher abspeichern.“
Felix lässt einen beeindruckten Pfiff hören. „Und wie kommen die Schmöker in meine Adern?“
Kohen nickt, als hätte er auf die Frage gewartet. „Normal werden die Daten per Funk übertragen und vom Nomen in Aminosäuren übersetzt – tausendfach kopiert, damit nichts verloren geht. Aber man kann sich auch Datenplasma spritzen. Damit erhält man die Informationen noch hundertmal schneller.“
„Nein, Felix fragt, woraus das Nomen die Datenpakete macht“, mische ich mich ein. „Frisst es dafür unser Blut?“
Kurz lacht Kohen auf. „Keine Angst. Das Nomen gewinnt die Speicher-DNA zwar aus deinen roten Blutkörperchen, aber eine Eisentablette pro Tag gleicht das wieder aus.“
Schnell fasse ich mir ans Handgelenk und atme erleichtert auf, weil ich meinen Puls kräftig spüre. Dennoch ist mir mulmig. WERT packt uns mit Daten voll, die wir fortan durch unser Herz pumpen. Die Firma besetzt uns von innen.