Читать книгу Die Ring Chroniken 1 - Erin Lenaris - Страница 6
Оглавление3. Kapitel
Ich lande mit den Füßen voran, kippe auf die Knie und fange mich mit den Händen ab. Meine Handballen versinken in einer weichen Matte. Ich lasse mich auf die Seite fallen und bleibe keuchend liegen.
Mein rasender Puls beruhigt sich nur langsam. Sie wollten nie, dass wir uns gegenseitig umbringen. Wir sollten das nur glauben, um den ultimativen Gehorsam zu beweisen. Wenn WERT uns befiehlt zu springen, springen wir. Wenn sie uns befehlen, den besten Freund in einen Schacht zu stoßen, tun wir das. Darum geht es hier also. Diese Erkenntnis hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
„Helme abnehmen“, verlangt der Testleiter.
Ich hatte recht. Der bodenlose Schacht war ein Trugbild. Wir sind bloß eineinhalb Meter tief gefallen. Lediglich der Steg war echt.
Stöhnend reibt sich mein Gegner das Schienbein. Der rundköpfige Junge mit den schwarzen Stoppelhaaren muss aus einem anderen Trakt kommen, denn ich kenne ihn nur flüchtig vom Sehen.
„Tray Banner, nach links zu den Verlierern. Emony Keller, nach rechts zu den Siegern“, tönt es aus dem Lautsprecher. Feindselig starrt Tray mich an. Ich strecke meinen schmerzenden Rücken durch und folge dem Testleiter, der bereits im rechten Korridor verschwunden ist.
Dort wartet schon Felix. „Emo, du hast es geschafft!“ Freudestrahlend rennt er auf mich zu und umarmt mich ungestüm. Er drückt mich so fest an sich, dass mir ein gepresstes „Uff“ entweicht. Als er mich auf die Wange küsst, streifen seine Lippen plötzlich meinen Mundwinkel. Das überrumpelt mich fast noch mehr. Überrascht lache ich auf, schnell lässt Felix mich los und zieht verschämt grinsend den Kopf ein. Seine Wangen laufen knallrot an. Ich lache noch mal, um die peinliche Situation zu überspielen, und strecke ihm die erhobene Handfläche entgegen. Dankbar schlägt er ein.
Das ungeduldige Winken des Testleiters kommt uns jetzt gerade recht. Wir folgen ihm eilig. Nach ein paar Schritten hat sich Felix schon wieder gefangen. „Bei dem Test warst du klar im Vorteil, oder?“, sagt er, womit er mein Lügenfeuer meint.
„Zuerst war ich zu langsam. Fast hättest du mich runtergeworfen – oder zumindest der Typ, dem sie dein Gesicht aufgesetzt haben. Gegen wen bist du eigentlich angetreten?“
„Gegen dich natürlich.“ Felix schaut mich von der Seite an.
Verwirrt runzle ich die Stirn. „Und wie hast du bestanden?“
„Na das war doch klar. Ich pfeife, und du spurst nicht? Da war ich gleich fertig mit dir“, erwidert Felix provokant grinsend.
Ich starre ihn ungläubig an.
„Nur Spaß“, schiebt er nach und knufft mich in die Seite. „Mir war sofort klar, dass du das nicht sein kannst. Die Tussi auf dem Steg hat gar nicht auf mich reagiert. So ein Pokerface hast du nicht drauf. Dir sieht man sofort an, was dir durch den Kopf schießt.“
Dass das mal nützlich sein wird, hätte ich nie gedacht.
Der Testleiter bringt uns zur Transportschleuse. Während wir ihm hinterherlaufen, überfällt mich plötzlich so etwas wie Heimweh. Was natürlich absurd ist, schließlich habe ich meine Siedlung noch nicht einmal verlassen. Aber in wenigen Minuten muss ich es tun. Ich lasse meine Finger an der rauen Betonwand des Korridors, an den fleckigen, mit abgewetzten WERT-Werbestickern beklebten Abluftrohren und den vibrierenden, heißen Generatorkästen entlanggleiten. Ich horche auf das Rauschen der Klimaanlage und blinzle in die gelbstichigen, von toten Insekten gesprenkelten Lichtschienen. Meine Mutter nimmt die trüben Plastikverkleidungen der Neonröhren alle drei Monate ab, dabei hat sie nicht die geringste Chance gegen die Selbstmordmücken.
Beim Anblick der Röhren wird mir seltsam zumute. Wann komme ich wieder hierher zurück? Wenn ich aus dem Adoptenprogramm rausfliege, dann schon ganz bald. Aber das darf nicht passieren.
Unter der Schleuse wartet ein kleines schwarz-weißes Flugzeug auf uns. Mit seinem glänzenden Äußeren und den schnittig-fließenden Formen wirkt der Jet zwischen dem klobigen Sichtbeton unserer Siedlung wie ein Fremdkörper. Wie ein elegantes, exotisches Tier, das gefangen und in einen Käfig eingesperrt wurde. Mein Vater hat mir einmal ein Foto von den schwarz-weißen Killerwalen gezeigt, die vor etwa hundertfünfzig Jahren ausgestorben sind. Diese Maschine sieht aus wie ein metallener Orca mit weißem Bauch und schwarzen Stummelflügeln. „Wow“, stößt Felix hervor und pfeift beeindruckt. Während wir die Gangway hinaufsteigen, streiche ich andächtig an dem mattschwarzen Geländer entlang. Das gebürstete Metall fühlt sich kühl und glatt unter meiner Handfläche an.
In dem taghell erleuchteten Innenraum des Fliegers warten schon die anderen Kandidaten. Zusammen mit uns fliegen sie zum Regenring. Felix berührt mit der rechten Hand seine Brust dort, wo das Herz schlägt, und klopft mit der linken auf seinen Rauring. Das ist die offizielle Begrüßung in unseren Siedlungen. Felix vollführt den Gruß mit feierlicher Miene, aber nur vereinzelt kommen reservierte Gesten zurück. Manche der anderen Adoptenanwärter starren uns richtig feindselig an – Konkurrenz liegt in der Luft. In dieser angespannten Atmosphäre fällt das schüchterne Lächeln eines rothaarigen Mädchens in der zweiten Sitzreihe besonders auf. Links und rechts von ihr sind noch Plätze frei, also nehmen wir sie in die Mitte. Ich ergattere den Fensterplatz.
In letzter Minute läuft schnaufend ein kleiner, pickliger Junge die Treppe hoch und bleibt unsicher im Gang stehen. „Hallo, ich bin Morry“, bringt er keuchend hervor. Weil keiner antwortet, schluckt er und fügt hinzu: „Morry Klein.“
„Das sehen wir“, ruft einer von hinten.
„Platz nehmen, anschnallen“, ertönt es aus dem Lautsprecher, und Morry sinkt in den letzten leeren Sitz.
Die Einstiegstür des Transporters schließt sich mit einem leisen Klicken, metallische Anschnallbügel senken sich über uns und fixieren uns auf den glatten Sesseln. Ich wage es kaum, mich in den schicken Sitzen zurückzulehnen. Unsere Polstermöbel zu Hause sind rissig und verschlissen. Diese riechen nach Lederimprägnierung und glänzen, als hätte noch nie jemand drauf gesessen.
Gedämpft hören wir das Schleifen der stählernen Schleusendecke, die sich langsam über uns öffnet. Der Antrieb des Transporters startet mit einem vibrierenden Summen. Als der Flieger senkrecht in den Himmel schießt, kribbelt es in meinem Magen.
„Wow, ultra-frisch!“, entfährt es Felix beim Start der Maschine. Niemand antwortet, und er behält weitere Kommentare für sich.
Nachdem wir die Flughöhe erreicht haben, geht das Brausen des Motors in ein sanftes Schnurren über. Ich schaue aus dem kugelrunden Fenster und sehe meine Heimat zum ersten Mal von oben. Dunkle, zerklüftete Hügelketten ragen wie langgezogene Inseln aus den rötlich-weichen Sanddünen. Immer wieder erkenne ich schwarz-graue Erhebungen mit bunten Flecken, die rundum von Förderbändern umgeben sind – gigantische Müllkippen für den Sonderabfall des Regenrings. Weiter hinten funkelt in der Sonne die schnurgerade stählerne Pipeline. Auf der plattgewalzten Piste daneben bewegt sich ein Pipeline-Shuttle im Schneckentempo voran und wirbelt Wolken von Wüstenstaub auf. Von hier oben wirkt das massive Panzerfahrzeug wie ein Spielzeugauto.
Unser Flieger beschleunigt und jagt entlang der Pipeline nach Norden. Die Fensterblenden schließen sich, sodass ich mir die verdorrte Welt unter uns nur noch vorstellen kann. Der Bau und die Wartung der Pipelines sind Arbeiten „erster Gefahrenordnung“. Mörderische Hitze, schädliche Sonnenstrahlung und immer häufigere Anschläge: Mein Vater war nicht der Erste und nicht der Letzte, der dabei ums Leben kam. Behutsam greife ich nach seinem Rauringsplitter an meiner Halskette. WERT hat uns zwar verboten, Privatgegenstände mitzunehmen, doch von dem Erinnerungsstück kann ich mich unmöglich trennen, sei es auch nur für eine Weile. Das kantige Metallstück ist das Einzige, was mir von meinem Vater geblieben ist. Warum gerade er? Wieso nur? Die Welt ist so ungerecht, schießt es mir durch den Kopf. Ich presse die Lippen zusammen, wie so oft in letzter Zeit.
Das Mädchen neben mir streckt sich in ihrem Sitz. Ich habe noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt, ganz im Gegensatz zu Felix, der sie offensichtlich sofort angesprochen hat. Gerade lässt er seinen Talisman vor ihren Augen baumeln, die sie vor Erstaunen weit aufgerissen hat. Mich wundert es nicht, dass auch er sich über das Privatsachen-Verbot hinweggesetzt hat. Ich kann ihn verstehen. Wer lässt schon freiwillig sein Glück zurück?
Vorsichtig, fast ehrfürchtig greift die Rothaarige nach dem Schmuckstück und betastet es mit ihren schlanken Fingern. Der kleine Globus fasziniert jeden, der ihn zum ersten Mal sieht. Sonnyboy Felix mit seinen schrägen Sprüchen ist ebenfalls allseits beliebt. Mit ihm gibt es immer etwas zu lachen. Dennoch verbringt er seine Zeit am liebsten mit mir, seiner alten Sandkastenfreundin. Ich bin froh darüber, denn ein Kumpel wie er ist unersetzlich. Mit Felix kann ich über alles reden, ohne dass ich je Angst haben müsste, er könnte das gegen mich verwenden. Seine Beinahe-Knutschattacke von vorhin hat mich schon verwirrt und war auch ein bisschen daneben, aber was soll’s – war bestimmt ein Versehen.
„Hallo, ich bin Emony“, mische ich mich in sein Gespräch ein.
„Hallo, Emony“, antwortet das Mädchen unsicher und schaut mich an. Ihr Kopf mit den dichten roten Locken und den riesigen grünen Augen scheint nicht zu ihrer schmalen Statur zu passen. Wie konnte so eine zarte Person nur diesen fiesen Aufnahmetest bestehen, frage ich mich.
„Mila weiß alles über Klimageschichte“, informiert mich Felix und schwenkt seinen Talisman hin und her, bevor er ihn wieder wegpackt. „Und über Petrografie, du weißt schon, Felsenkunde. Sie hat die Lerndateien komplett inhaliert.“
Verlegen lächelt Mila. „Petrografie ist mein Lieblingsfach. Die Erde hat so viele verschiedene Gesteine, und wir wohnen mittendrin. Ihr seid bestimmt auch neugierig, was hinter eurer Zimmerwand kommt, oder?“
„Nur der Technikraum, wir wohnen in der hintersten Ecke“, antwortet Felix. „Petrografie ist mir zu hoch. Schiefer, Schluff, Schlacke … die ganzen Feinheiten merkt sich kein Mensch! Im Test war ich nur bei den Kontrollkommandos gut.“
„Die muss man einfach nur auswendig lernen“, erwidere ich.
„Ein Hoch auf die Rumkommandier-Kunde“, sagt Felix. Die Anweisungskürzel der WERT-Zentrale für Gasbohrungen zu pauken, ist ziemlich stumpfsinnig, da hat er recht, aber das waren geschenkte Punkte.
„Emony war im Theorietest übrigens richtig gut“, redet Felix weiter. „Sie hat siebenundachtzig Punkte erzielt. Bei mir hat es nur für fünfundsiebzig gereicht, so dass ich mit Ach und Krach ins Programm reingerutscht bin.“ Seine Offenheit überrascht mich immer wieder.
„Was war denn deine Punktzahl?“, fragt er Mila.
Die duckt sich zwischen ihre Anschnallbügel.
„Spuck es schon aus!“, drängt Felix sie.
Mila rutscht noch tiefer in ihren Sitz.
„Wir verraten es auch niemandem.“ Felix beugt sich verschwörerisch zu ihr und flüstert: „Das bleibt unter uns. Versprochen!“
„Achtundneunzig Punkte“, meint Mila.
„Achtundneunzig Punkte??“, schreit Felix durch das Flugzeug und starrt sie an, als wäre sie das achte Weltwunder. Der halbe Flieger dreht sich zu uns um, und Mila verschwindet fast komplett hinter den Anschnallbügeln.
„Das ist der helle Wahnsinn“, fügt Felix etwas leiser hinzu. „Damit hast du die Adoptenstelle fast schon in der Tasche!“ Felix grinst über das ganze sommersprossige Gesicht. „Dich brauchen wir für unser Team. Bist du dabei?“ Er legt den Kopf schief und streckt ihr die Hand entgegen. Schüchtern lächelnd schlägt sie ein.
Plötzlich bemerke ich, wie sich etwas unter Milas Kleidung bewegt. Unter ihrem viel zu großen Hemd lebt irgendetwas. Neugierig schiele ich rüber.
„Irri, du brauchst doch keine Angst haben“, meint Mila leise und zupft vorsichtig an ihrem Reißverschluss. Ein schuppiges gelbes Bein mit Klammerzehen kommt zum Vorschein.
„Ein Chamäleon! Du hast ein Chamäleon mitgebracht“, platze ich heraus. Schnell halte ich mir den Mund zu. Hoffentlich hat mich niemand gehört, denn das ist höchstwahrscheinlich auch verboten.
Mila zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Ich konnte meine Irri doch nicht zu Hause lassen. Sie braucht alle vier Stunden Wasser aus der Pipette, das würde mein Vater bestimmt oft vergessen.“ Mir braucht sie das nicht zu erklären. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es Emil bei meiner Mutter wohl geht. Gibt sie ihm oft genug zu trinken, und sprüht sie seine Pflanzen oft genug mit Wasser ein? Eins steht jedenfalls fest: Sein Terrarium ist sicher blitzblank.
Irri lugt verschüchtert aus den Falten von Milas Brusttasche, lässt die Augäpfel ruckelnd kreisen und stellt ihren gelbgrünen Kopfschild auf.
„Ein Weibchen. Ein besonders schönes“, meine ich und erhalte für mein Lob ein dankbares Kopfnicken von Mila. Sie formt mit ihren Händen ein warmes Nest für das Chamäleon. Während sie dem Tier leise zuredet, lasse ich mich von ihrer weichen Stimme einhüllen und rolle mich auf meinem Sitz zusammen wie ein Chamäleon.