Читать книгу Die Ring Chroniken 1 - Erin Lenaris - Страница 7

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4. Kapitel

Als die Transportmaschine nach vier Stunden brummend in den Sinkflug geht, öffnen sich die Fensterblenden. „Ooooh“, raunt es vielstimmig durch das Flugzeug. Die Aussicht kommt mir unwirklich vor, wie ein Foto aus einem Bildband, bei dem Kontrast und Farben verstärkt wurden. Die Werbefilme für die Adoptenausbildung haben nicht übertrieben.

Wir nähern uns einer Bergkette mit felsigen Gipfeln und üppigem Bewuchs weiter unten. Die Farben sind so satt und grell, dass es beinahe in den Augen schmerzt – Gelbgrün, Blaugrün, Schwarzgrün, Grün in allen Schattierungen. Polaris, die Hauptstadt des Regenrings, liegt am Fuß einer Bucht, umgeben von bewaldeten Hängen. Die Vegetation erstreckt sich über die Vorgärten bis zum Dach der bläulich schimmernden Türme und sprießt sogar zwischen den spiegelnden Glasflächen heraus.

Felix stößt einen Pfeifton aus. „Magnetautobahnen! Reee-gen-frisch!“ Er reckt den Hals und stemmt sich gegen die Haltebügel, um von seinem Innensitz einen besseren Blick nach draußen zu erhaschen. „Seht ihr die Selbstfahrspur? Die Powerschlitten müssen Energie für drei Pipeline-Shuttles haben!“ Wild fuchtelt er mit seiner Hand vor Milas Gesicht herum. „Schaut mal da, auf dem Dach! Das blaue Becken! Das muss ein Swimmingpool sein! Der fasst mindestens vierhundert Kubikmeter Wasser.“

In meinem Hirn rattert es. Vierhundert Kubikmeter, vierhunderttausend Liter. Das entspricht achtzigtausend Tagesrationen für meine Mutter und mich. Beim aktuellen Preis von zwanzig Liqui pro Zuteilung ist die Poolfüllung eins Komma sechs Millionen Liqui wert. Das sind tausendsechshundert Monatslöhne für eine Desinfektorin wie meine Mutter. Bei diesem Gedanken wird mir ganz schwindelig. Felix dagegen scheint das alles gar nicht zu belasten, stattdessen kommentiert er munter weiter, was er alles sieht. Von Mila höre ich kein Wort.

Wir haben Polaris überflogen und nehmen Kurs auf eine Anhöhe hinter der Stadt. Der Boden rast so schnell auf uns zu, dass ich Druck auf den Ohren spüre. Wir sinken und tauchen in die grüne Landschaft ein, bis das Transportflugzeug abrupt abbremst. Einen Moment lang rebelliert mein Magen, dann landen wir mit einem scharfen Ruck auf der Plattform direkt hinter einer glasgedeckten Halle.

Alle recken neugierig die Köpfe. Kaum dass unsere Haltebügel nachgeben und die Türen aufgehen, drängen wir sofort hinaus. Felix lässt Mila und mir mit einer eleganten Verbeugung den Vortritt in die kühle Luft des Regenrings.

Frisch riecht es hier, nach feuchter Erde und saftigem Grasschnitt. Gierig sauge ich den Sauerstoff ein, denn so klare Luft habe ich noch nie eingeatmet. Und alles ist so groß hier draußen, so weit! Der höchste Raum in unserer Siedlung ist der zweistöckige Aufgang zur Transportschleuse. Sonst gibt es nur kleine Kammern mit dicken Betonwänden. Wenn ich mich in unserer Wohnung eingeengt fühle, setze ich meinen Kopfhörer auf und tauche ein in die langsame Musik mit sphärischen Halleffekten. Dabei schließe ich die Augen und stelle mir vor, die Töne flögen durch einen hohen und luftigen Raum. Doch was ich hier erblicke, übertrifft alles, was ich mir je ausmalen konnte.

Der Pilot steigt als Letzter aus der Transportmaschine und bedeutet uns wortlos, ihm in das gigantische Gebäude zu folgen. An der Pforte nehmen wir uns von einem Tisch unsere Namensschilder, bevor wir in eine helle Galerie mit glänzend weißem Boden einbiegen. Filigrane Treppen schwingen sich zu einem zweiten Rundlauf hinauf, grüne Schalensessel mit fast unsichtbaren Füßen scheinen über dem Boden zu schweben. Die bogenförmige Glasfront bietet einen spektakulären Blick auf Polaris und lässt die Sonnenstrahlen ungehindert herein.

Zu Hause müssen wir uns vor der aggressiven Strahlung verstecken; hier fühlt sich das milde Sonnenlicht auf meinem Gesicht fast wie ein Streicheln an. Es ist schon nach neun Uhr abends, aber im August dämmert es so weit nördlich des Polarkreises nur für wenige Stunden, bevor die Sonne wieder aufgeht. Ganz nah stelle ich mich an die Scheibe, schließe die Augen und genieße die wohlige Wärme, die pure Energie. Es ist kein Vergleich mit dem mickrigen „Sonnensaal“ in unserer Siedlung. Das ist ein stolzer Name für den winzigen Raum, in dem sich die Leute rund um die Uhr auf ansteigenden Plastikbänken vor kühlen Tageslichtlampen aneinanderquetschen. WERT hat diesen Raum als „Gruß aus dem Norden“ gestiftet, damit wir Rauringbewohner unser Vitamin-D-Defizit wenigstens ein bisschen lindern können. Die Lichtzeit war immer eine schöne Abwechslung zu den Vitaminpillen, im Vergleich zur echten Sonne jedoch erscheint sie mir nun dürftig und blass.

Als ich die Lider hebe, sind die anderen schon um die Ecke verschwunden. Ich folge Felix‘ Pfeifen. Heute klingt es schräger als sonst.

„Der ist ja voll aus der Spur“, sagt ein Typ mit kantigen Schultern und erntet für seinen Kommentar Gelächter. „Hat wohl Schiss!“

„Mächtig Schiss“, mischt sich ein ebenso klotziger Kerl hinter ihm ein. Obwohl sich seine Stimme höher anhört, klingt er genauso aggressiv. Äußerlich gleichen sich die beiden bis aufs Haar. Na ja, bis aufs Haar nicht gerade: Der eine hat sich die linke Kopfhälfte kurz rasiert, während rechts blonde Gelstacheln in alle Richtungen abstehen, der andere trägt die gleiche Frisur spiegelverkehrt. Linkskahl und Rechtskahl halten sich für die Größten und finden auch gleich eine Fangemeinde. Unauffällig schiele ich auf ihre Namensschilder. Dart Ambos, Bolt Ambos. Brüder also.

Der Pilot führt uns in eine lichtdurchflutete Halle. „Das ist der Appellraum für die Sektorengruppe A. Wartet hier“, erklärt er und verschwindet.

Unruhig tritt Felix von einem Fuß auf den anderen. Ich schaue mir die Mädchen an, die sich um eine große Blondine geschart haben. „Olya Olienova“ steht auf ihrem Namensschild. Offensichtlich ist sie es gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen, und hat bereits einen Hofstaat um sich versammelt. Kein Wunder bei dem Puppengesicht und dem Selbstvertrauen, das sie ausstrahlt. Sie wirkt irgendwie reifer als die anderen, erwachsener, als sei sie ein oder zwei Jahre älter als wir. Ist sie wahrscheinlich sogar, denke ich. Bestimmt ist sie ein paarmal sitzen geblieben. Sie sieht nicht wie die hellste Kerze auf der Torte aus.

Sei nicht so gehässig, würde meine Mutter sagen und hinzufügen: Jetzt guck nicht so schamlos!

Also lasse ich den Blick durch den Raum schweifen, über die bodentiefen Fenster an seiner Westseite und die mit sattgrünen Farnen bepflanzte Wand gegenüber. Neben der Tür entdecke ich eine silbrige Säule mit einem Becken, in dem frische Tropfen glänzen. Ist das ein Wasserspender? Felix hat ihn auch schon erspäht. Als er näher tritt, springt eine Fontäne aus der Mitte der Schale. Lachend verrenkt er seinen Hals, damit er das Wasser mit dem offenen Mund auffangen kann. Seine Fröhlichkeit ist ansteckend. Die Mädchen kichern über seine Faxen, drängen sich zu ihm um den Brunnen und schubsen sich gegenseitig, um an den Wasserstrahl ranzukommen. Nach und nach folgen ihnen auch die Jungs.

Ich halte mich raus. Mir macht der Luxus Angst, denn den gibt es bestimmt nicht umsonst.

Erst jetzt fällt mir der große Glaskasten an der Stirnseite des Raums auf. Darin bewegt sich etwas. Eine Schlange, mindestens zwei Meter lang. Den spitzen Hornschuppen an ihrer Stirn zufolge muss es eine Sandviper sein. Ihre Schuppen sind rot wie frisches Blut. Sie hebt ihren dreieckigen Kopf und beobachtet uns mit ihren kalten Augen.

Langsam dreht sie ihren Kopf hin und her, als wollte sie sich jeden Einzelnen von uns einprägen. Dann bleibt ihr Blick an mir hängen. Offenbar fühlt sich auch Felix angesprochen, denn er fuchtelt wild mit den Armen vor dem Terrarium herum, wobei er eine fröhlich-freche Melodie pfeift. Ohne das dicke Panzerglas zwischen ihm und der Viper klänge das bestimmt anders.

Mit einem Mal öffnet sich die Tür hinter uns. Ein kräftiger Typ um die zwanzig mit kahl rasiertem, kantigem Schädel schreitet an uns vorbei und steigt auf ein kleines Podest neben dem Schlangenterrarium. Der Glatzkopf ist ein Stück kleiner als Felix, aber ein richtiges Muskelpaket. Er trägt einen dunkelroten Overall mit schwarz glänzenden Einsätzen und einem WERT-Logo auf der Brust. So wie er dasteht, breitbeinig und mit verschränkten Armen, und auf uns herunterschaut, zeigt er ganz eindeutig: Ich bin der Boss.

„Aaah, die neue Delegation aus Sektorengruppe A! Willkommen in Polaris“, begrüßt er uns und grinst. Irgendwie wirkt das süffisant. „Ich bin Tarmo, Cheftrainer in dieser ehrwürdigen Institution. Was gibt uns wohl die Ehre eures Besuchs?“

Wir wechseln verwirrte Blicke, denn der Spott in seiner Stimme ist unverkennbar.

„Ich glaube, ich erinnere mich.“ Er steigt von dem Podest und tritt auf uns zu. „Ihr wollt raus aus euren schäbigen Wüstenlöchern!“

Ich zucke zusammen. Das Mädchen vor mir starrt den Glatzkopf ungläubig an. Wie kann der sich so was erlauben?

Er redet ungerührt weiter. „WERT bietet euch die Chance dazu. Eure einzige Chance. Aber wenn ich euch so angucke …“ Er mustert uns aus zusammengekniffenen Augen, und viele der Anwesenden schrumpfen in sich zusammen. „Wenn ich euch so sehe, bezweifle ich, dass ihr mehr draufhabt als der letzte Wurf, den sie mir geschickt haben.“

Selten habe ich so eine unsympathische Stimme gehört. Dieser Tarmo spricht laut und abgehackt, jeder Satz klingt wie ein Angriff. Warum ist er so fies? Er kennt uns doch gar nicht.

„Immerhin habt ihr beim Praxistest das einzig Richtige getan“, fährt er fort. „Ihr habt die Anweisungen befolgt.“ Er legt eine bedeutungsvolle Pause ein. „Es gibt hier zwei eiserne Regeln. Regel Nummer eins: Ihr befolgt die Befehle. Regel Nummer zwei: Ihr. Befolgt. Die. Befehle.“

Quälend langsam fixiert er jeden Kandidaten, einen nach dem anderen. Ich halte seinem Blick stand. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor, allerdings habe ich keine Ahnung, woher.

„Und dann hofft ihr, dass die anderen noch schwächer sind als ihr. Ihr tretet hier nämlich gegeneinander an.“ Mit einer Handbewegung ruft Tarmo einen holografischen Bildschirm auf, der aus dem Nichts neben ihm aufleuchtet. Dort sind unsere Namen und unsere Testergebnisse aufgelistet. Mila Kern steht ganz oben. Ich entdecke meinen Namen im oberen Mittelfeld.

„Hier seht ihr euren aktuellen Punktestand. Nur die Besten werden übernommen. Versager werden nach Hause zu Mami zurückgeschickt. Erste Klasse beim Hinflug – Rückfahrt im Dritte-Klasse-Container-Shuttle!“ Tarmo lächelt, als würde er sich auf diesen Moment freuen. Er meint jedes Wort ernst. Das spüre ich genau.

„Diese Liste zeigt eure Theorie-Ergebnisse, aber das heißt noch gar nichts. Wir werden bald herausfinden, was ihr wirklich draufhabt. Bei den praktischen Prüfungen könnt ihr Pluspunkte erwerben, wenn ihr dort allerdings schlecht abschneidet, gibt es Minuspunkte. Und dann ist da noch die B-Note. B für Benehmen, für eure psychologische Eignung zum Adopten. Diese Wertung beeinflusst das Endergebnis genauso stark wie die Theorie. Sie zeigt, ob ihr wirklich in das WERT-Programm reinpasst.“

Ich schnaufe tief. Das sind ja glänzende Aussichten. Wirklich reingepasst habe ich bisher schließlich noch nirgends.

Tarmos Blick bleibt an Mila hängen. Oder besser gesagt an dem Chamäleon, das sich unter Milas Kleidung bewegt und plötzlich hervorlugt. „Ja, was haben wir denn da?“ Ein zynisches Grinsen breitet sich auf seinem kantigen Gesicht aus. „Wie lauteten die Anweisungen?“

Mila erstarrt und bringt kein Wort heraus.

„Keine persönlichen Gegenstände mitbringen!“, beantwortet Tarmo seine Frage selbst und zeigt auf das kleine Tier.

Mila drückt das Chamäleon schützend an ihre Brust. „Irri i… ist kein Gegenstand“, stammelt sie.

Anstelle einer Antwort greift Tarmo nach dem Tier und windet es ihr aus den Händen. Vor Angst rollt Irri wild mit ihren Kugelaugen. Hilflos strampelt sie in Tarmos brutalem Griff. Der hält das panisch zischende Reptil hoch und verkündet: „Jetzt werdet ihr erleben, was passiert, wenn ihr die Anweisungen nicht befolgt!“

Mit herrischen Schritten marschiert er zu dem Schlangenterrarium. Er schlägt gegen die glatte Wand neben dem Glaskasten, woraufhin diese zur Seite fährt und ein Schaltpult freilegt. Tarmo drückt einen Knopf und öffnet damit den Deckel des Terrariums einen Spalt breit. Er grinst sadistisch und entblößt sein rotes Zahnfleisch, während er das zappelnde Chamäleon über den Spalt hält.

„Nein!“, ruft Mila.

Triumphierend schaut Tarmo sie an und lässt das Chamäleon fallen. „Da, Sonora, ein Appetithappen für dich“, sagt er in die atemlose Stille.

Keiner von uns rührt sich, nur er selbst geht dichter an die Glasscheibe. Sein Blick ist starr, sein Atem beschleunigt sich. Dieser Mann ist verrückt. Völlig weggetreten. Und wir sind ihm ausgeliefert.

Die Schlange hat sich aufgerichtet und fixiert ihr Opfer aus ihren Schlitzpupillen. Sie weiß, wie der Kampf enden wird, das Chamäleon auch. In einer verzweifelten Abwehrgeste faucht es die riesige Gegnerin an und wird blitzschnell gebissen.

„Irri, nein!“ Milas Verzweiflung schneidet mir ins Herz.

Das Chamäleon will vor der Schlange fliehen, kann sich allerdings nur noch in Zeitlupe bewegen. Das hochkonzentrierte Nervengift lähmt seinen kleinen Körper rasend schnell. Irris Augen zucken, panisch sucht sie nach Hilfe, die wir ihr nicht bieten können, nach einem Ausweg, der nicht existiert. An ihrem Bauch erscheint ein schwarzer Fleck, der sich rasch ausbreitet.

Wie gelähmt beobachten wir diese Horrorszene, nur Dart und Bolt brummen enttäuscht, als sich die Schlange zurückzieht.

„Sonora kann ganz ruhig abwarten“, informiert uns Tarmo.

Jetzt hat er bemerkt, dass Mila sich abwendet und ihr Gesicht in den Händen verbirgt. Mit brutalem Griff zieht er sie an das Terrarium und zwingt sie zuzuschauen, wie die Schlange auf ihr Chamäleon zukriecht. Sich langsam aufrichtet. Das Maul mit den dolchförmigen Giftzähnen weit aufreißt und es über ihr erstarrtes Opfer stülpt. Sonoras Kopf scheint sich auszudehnen, während sie das Chamäleon mit ruckartigen Bewegungen herunterschlingt. Irri zappelt noch einmal schwach, doch sie verschwindet stückweise und unaufhaltsam in Sonoras Schlund.

Unsere Gesichter spiegeln Entsetzen und ungläubiges Staunen wider. Ich vergesse zu blinzeln. Warum tut denn keiner was? Das kann doch nicht erlaubt sein! Meine Finger zucken, und ich verspüre eine ohnmächtige Wut.

Nachdem Sonora endlich aufgehört hat zu würgen, macht sich Leere in mir breit. Meine Beine sind taub, und Tarmos Stimme dringt nur aus der Ferne an mein Ohr. Gedämpft höre ich, wie Tarmo von der Viper als „Herrscherin der Wüste“ spricht und ihre Opfer mit dem „Bunkerpack“ aus dem Rauring vergleicht. Damit meint er wohl uns.

Er entlässt uns mit der Botschaft des Tages: „Fressen oder gefressen werden. Das war die erste Lektion. Morgen folgt die zweite!“

Die Ring Chroniken 1

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