Читать книгу Die Ring Chroniken 1 - Erin Lenaris - Страница 11
Оглавление8. Kapitel
Nach dem Mittagessen erhalten wir wieder eine Nomen-Nachricht. Als wir sie aufrufen, taucht ein Mini-Kohen auf unseren Händen auf. „Du bist meiner Ausbildungsgruppe zugeteilt“, sagt er freundlich. „Wir beginnen das Training um dreizehn Uhr am Schießstand.“
„Und keine Sekunde später!“ Vor Schreck werfe ich fast mein Trinkglas um, als Tarmos Hologramm an Kohens Stelle erscheint. Der Hologlatzkopf zeigt mit dem Finger auf mich. „Ich bin dein Chefausbilder und dulde keinen Verzug.“
Felix, Mila und ich stöhnen auf. Warum mussten wir ausgerechnet den kriegen? Mein Magen grummelt hörbar, während wir uns auf den Weg machen.
Bei der kleinen Waffenkammer neben der Trainingshalle werden wir schon erwartet. Kohen steht vor einem Arsenal an Gewehren unterschiedlicher Größe. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen schaut er sich um, als wollte er die Waffen bewachen. Natürlich fühlen sich die Ambos-Brüder davon magisch angezogen.
„Die Kanonen sind der Hammer“, sagt Dart.
„Der Riesenhammer“, bestätigt Bolt.
„Sagt der Ambos“, murmelt Felix.
„Finger weg“, kommandiert Kohen, da Dart nach einem der größeren Kaliber greift. Der zieht die Hand zurück, als hätte er einen Schlag gekriegt. Ich verberge ein Grinsen. Geschieht ihm recht.
Kohen erklärt die Funktionsweise der elektromagnetischen Gewehre, nennt Kaliberzahlen, Geschossgeschwindigkeiten und Akkulaufzeiten. Besonders scheint ihm zu gefallen, wie leise die Schüsse sind, vom Überschallknall mal abgesehen.
„Genug gequatscht!“ Tarmo betritt den Raum und geht schnurstracks auf die Waffen zu. „Lassen wir die Kanonen sprechen!“ Er nimmt das größte Gewehr von der Wand. Mit dem wuchtigen Zielfernrohr an seinem langen Lauf und dem massiven Kolben muss es sehr schwer sein, aber Tarmo hebt es mühelos. „Munition!“, befiehlt er in Kohens Richtung.
Kohen kneift den Mund zusammen und reicht ihm ein Magazin, das Tarmo mit lautem Klacken in die Kanone rammt.
Das monströse Geschütz scheint mit seinen riesigen Händen zu verwachsen. Mit großen Schritten stampft er zum Schießstand in der Trainingshalle. Er zeigt auf eine Metallplatte an der gegenüberliegenden Wand: fünf Zentimeter dicker Stahl, fünfzig Meter entfernt. Eine abrupte Bewegung, ein metallisches Schnappen, und die erste Kugel sitzt im Lauf. Ein scharfes Summen zeigt an, dass der Magnet läuft.
„Ohren zuhalten“, warnt Kohen noch rechtzeitig, bevor Tarmo feuert. Einmal, zweimal, dreimal. Die Einschläge donnern durch mein Trommelfell, meine Ohren pfeifen. Die Schüsse haben die Stahlplatte glatt durchschlagen.
„Mit dem Kaliber kann ich Terroristenfahrzeuge auf einen halben Kilometer Entfernung ausschalten“, meint Tarmo. Der Gedanke erheitert ihn offensichtlich.
„Das braucht es aber praktisch nie“, wirft Kohen ein. „Falls die Angreifer so früh entdeckt werden, übernehmen die Schutzdrohnen die Verteidigung. Wenn die Terroristen schon da sind, sieht das anders aus. Dann sind Großkaliber unbrauchbar. Dafür haben wir handlichere Pistolen.“ Kohen zeigt auf ein Regal mit kleineren Waffen. Die sind etwa so lang wie mein Unterarm, schlank und glänzend – direkt elegant im Vergleich zu dem Monstrum, das Tarmo mit den Fingern umklammert.
Der zuckt geringschätzig mit den Schultern. „Das Spielzeug überlasse ich dem werten Kollegen“, sagt er und verschwindet in der Waffenkammer.
Kohen atmet tief durch, bevor er fortfährt. Er will uns einen Schusswechsel vorführen, damit wir seine Bewegungen und seine Haltung beobachten können. Dazu nimmt er sich eine der Pistolen und lädt sie mit Übungsmunition. Danach schaltet er den Kampfsimulator ein und tritt in die Mitte des Schießstandes. Mit der Magnetwaffe im Anschlag dreht er sich wachsam einmal zum linken, dann zum rechten Ende der Bahn. Was passiert jetzt? Gespannt schaue ich Kohen an.
Da entdecke ich ein Flimmern in der Luft am rechten Ende. Mit leisem Knistern materialisiert sich das lebensgroße Hologramm eines schwarz vermummten Kämpfers, der sofort auf Kohen zustürmt.
Beeindruckt pfeift Felix. „Das sieht ja total echt aus!“
Mein Puls schlägt schneller. Ich wechsle einen Blick mit Mila. Die Horrorbilder von Terrorangriffen auf die Gaskraftwerke haben sich unauslöschlich in unsere Köpfe gebrannt: Schwer bewaffnete Männer springen aus einem Pipelineshuttle, das zur Wartung ins Kraftwerk geholt wurde. Sie formieren sich und rennen durch schmale Gänge, stürmen über Metallstege und mähen alles nieder, was ihnen im Weg steht. Das Trampeln ihrer Stiefel, das Klacken der Waffen, die Schüsse und die Schreie der Getroffenen werde ich nie vergessen. Wenn solche Bilder gezeigt wurden, haben meine Feuerameisen immer stillgehalten.
Das ist brutale Realität. Kraftwerksarbeiter sind die Zielscheibe solcher Attacken. Als Adoptin muss auch ich den Kopf hinhalten. Das hätte ich mir mal besser vorher überlegt. Ich stütze mein Kinn auf die Hände und spüre den Pulsschlag in meinem Hals.
Nun hat auch der linke Holoprojektor einen Gegner erschaffen. Doch Kohen ist darauf gefasst. Kaum hat er auf den rechten Angreifer geschossen, wendet er sich blitzschnell um und schaltet den linken aus. Seine Kugeln lassen die lebensechten Projektionen in einer roten Splitterwolke explodieren.
So deutliche Bilder hätte es gar nicht gebraucht.
Immer mehr Terroristen entstehen aus dem Nichts, stürmen los und sinken im Funkenregen zu Boden. Kohens Bewegungen sind sicher, kontrolliert und rhythmisch, aber die Gegner werden immer zahlreicher. Die schwarze Geisterarmee agiert unheimlich rasch und gespenstisch leise. Kohen ist umringt.
Blitzschnell wirft er sich auf die Erde und verbirgt den Kopf in den Armen. Die Holokrieger zielen über ihn hinweg und treffen sich gegenseitig. Ein roter Regen ergießt sich über Kohen. Eine Fanfare ertönt: Spiel gewonnen.
Nach Kohens beeindruckender Vorführung sind wir an der Reihe. Ich folge den anderen in den Waffenraum und nehme mir eine Pistole aus dem Regal. Sie ist überraschend leicht. Ihr Gewicht scheint sich zu verdoppeln, wenn man das Magazin einlegt. In der Trainingshalle suche ich nach der richtigen Fingerstellung. Obwohl der Griff Einkerbungen für Mittel-, Ring- und kleinen Finger hat, passt es bei mir einfach nicht. Meine Hände sind wohl zu klein. Bis auf die Größe ähneln meine kurzen, dicken Finger denen meines Vaters. Ich schlucke hart.
Kohen demonstriert, wie man die erste Kugel in den Lauf einlegt. Das klappt schon mal. Waffe einschalten – ich höre ein ansteigendes Pfeifen, das abrupt abbricht, eine Oktave über dem Startgeräusch von Tarmos Geschütz. Oberhalb des Abzugs glimmt eine grüne Leuchte auf und zeigt an, dass der Magnet bereit ist. Die Waffe vibriert.
Wir sollen ein Übungsziel anvisieren, wobei ein roter Laserpunkt den Einschlag markiert. Meiner taumelt wie betrunken über die Scheibe. Mist, warum kann ich das Teil nicht ruhig halten?
Zu allem Überfluss genügt es nicht, auf feststehende Scheiben zu schießen – wir bekommen auch Hologegner. Felix wippt ungeduldig auf den Zehenspitzen, bis er dran ist. Erst schießt er daneben, aber dann landet er einen Treffer nach dem anderen. Er scheint meine Bewunderung zu genießen, denn nach jedem Treffer zwinkert er mir zu. Nur widerwillig macht er dem Nächsten Platz. Als ich dran bin, habe ich immer noch nicht den richtigen Griff gefunden. Ich blinzle, das Ziel schlingert. Ich greife die Pistole fester, den Zeigefinger am Abzug.
Kohen tritt neben mich. Er wirkt ungehalten. „Wie ich vorher schon gesagt habe: Die linke Hand unterstützt die rechte, greift über die Finger der Führungshand, Zeigefinger fest unter den Abzug, Daumen nach vorne.“ Warum erklärt er das nur mir? Die anderen sind doch auch noch keine Profis.
„Waagrecht halten!“
„Tu ich doch.“
„Lass mich es dir zeigen.“ Er fasst mich am Arm. Ich stehe stocksteif, doch seine Hand liegt warm auf meinen Fingern. Die sind so verkrampft, dass er sie einzeln lösen muss, um sie in die richtige Position zu bringen. Vorsichtig dreht er die Waffe in die Waagrechte. Inzwischen starren mich alle an. Und alle sehen, dass ich am Schießstand eine Null bin, der man die Hand führen muss.
Der erste Gegner taucht aus dem Nichts auf. Mein Puls schießt in die Höhe.
„Ausatmen – Energie“, meint Kohen.
„Was?“ Nicht so schnell.
Der Gegner zielt auf mich. Ich stehe da wie angewurzelt. Im selben Moment trifft mich das Holoprojektil. Ein Stromstoß wirft mich zurück, und mein Nomen sendet ein Warnlicht aus, ich nehme einen Schuss wahr, meinen Schuss, höre mich schreien und die anderen auch. Ein Lampenpaneel über dem Schießstand brummt, flackert und erlischt.
Kohen reißt mir die Waffe aus der Hand. „Das reicht für heute“, meint er knapp. „Zwanzig Minuten Pause, dann Übungsraum zwei.“
Geknickt schleiche ich hinter den anderen her, wobei mir das Klirren der abgeschossenen Lampe und Olyas Gekicher noch in den Ohren hallen. Warum musste ich mich gleich am ersten Tag so blamieren? Gerade vor Kohen! Als er meinen Arm berührt hat, hätte ich vor Schreck fast einen Schuss ausgelöst. Ich glaube beinahe, seine ruhige Hand noch auf meinen zitternden Fingern zu spüren. Die Erinnerung löst ein leichtes Kribbeln in mir aus, das aber gleich wieder erstirbt. Nach diesem glorreichen Auftritt hält mich Kohen bestimmt für eine hoffnungslose Niete.
Ich schniefe und erschrecke vor meinem zerzausten Spiegelbild im Fenster. Da knufft mich Felix freundschaftlich in die Seite. Ich muss wirklich elend aussehen, so fest, wie er mich daraufhin in die Arme schließt. Seitdem er mich das letzte Mal auf diese Art getröstet hat, ist er um einen halben Kopf gewachsen. Ich verschwinde fast in seiner Umarmung. „Denk dir nichts wegen der kaputten Lampe“, sagt er. „Dieser Kohen hat dich aus dem Konzept gebracht. Der hatte die Finger noch viel zu nah an dir dran. Der ist an dem Schaden schuld, nicht du.“
„Er hat es doch nur gut gemeint“, erwidere ich schniefend. „Der Versager bin ganz allein ich.“
Den tiefen Stirnfalten nach ist Felix anderer Ansicht, doch er verfolgt das Thema nicht weiter. „Hauptsache, du lässt dich nicht runterziehen, Emo. Da kommen bestimmt auch noch Übungen für dich. Als Nächstes gibt es angeblich einen Reaktionstest. Bei dem kannst du es allen zeigen – ist schließlich keiner so auf Zack wie du.“
Ich bin mir da nicht so sicher, lächle Felix aber dankbar an. Ohne seinen Optimismus würde ich hier gnadenlos untergehen.
„Schnarchnasen können wir nicht gebrauchen“, beginnt Tarmo seine Einführungsrede zu dem nächsten Test. „Wir stellen jetzt die laute und hektische Arbeit im Kontrollraum eines Kraftwerks nach. Adopten müssen bei der Arbeit hellwach sein. Hinhören, hinschauen, schnell und korrekt reagieren. Ich zeige euch mal, wie man das macht.“
Kohen steht reglos an einem Schaltfeld in der Ecke des Raums, den Blick in die Ferne gerichtet. Wahrscheinlich wünscht er sich ganz weit weg, an einen Kletterfelsen in den Bergen hinter Polaris, wo er sich ungestört von Griff zu Griff vorarbeiten kann und keine Meute nervöser Rauringsiedler am Hals hat.
Auf Tarmos herrisches Zeichen hin drückt er einige Knöpfe an seinem Schaltfeld. Sofort taucht vor Tarmo ein großes Spinnennetz von eineinhalb Metern Durchmesser auf, in dem rote Holokugeln hängen. „Wenn ein Ball aufleuchtet, tippe ich ihn an.“ Lässig streckt Tarmo mal den einen, mal den anderen Zeigefinger nach den Kugeln aus, die in immer kürzerem Abstand aufblitzen. Immer schneller sticht er in die Luft, bis ich mit meinen Blicken kaum mehr nachkomme. Selbst von dem schrägen Piepen der Anlage lässt er sich nicht stören. Widerstrebend muss ich zugeben, dass mich das beeindruckt. Das hätte ich dem plumpen Muskelprotz nicht zugetraut. Die Anzeige stoppt bei hundert Treffern, ohne dass er nur einmal danebengegriffen hat.
Olya applaudiert begeistert. Tarmo wirft ihr einen amüsierten Blick zu und winkt Taiga herbei, das spitznasige Mädchen mit der Bobfrisur aus meinem Schlafsaal, das Olya ständig wie ein Schatten begleitet. „Jetzt ihr. Jeder hat drei Versuche. Der beste zählt.“
Taiga gibt sich einen Ruck und stellt sich vor das Spinnennetz. Anfangs erwischt sie die Leuchtkugeln noch ganz gut. Piepsen, blinken, piepsen, blinken. Gerade als Taiga glaubt, alles im Griff zu haben, wird der Rhythmus schneller. Ihre Bewegungen werden hektisch, sie erwischt die falsche Kugel. In dem Moment knistert eine elektrische Entladung. Ein Stromschlag trifft Taiga, und sie kreischt auf. Ihr Nomen registriert die Gefahr und projiziert eine gelbe Alarmleuchte in den Raum. Befriedigt schaut Tarmo in unsere fassungslosen Gesichter.
Kohen beobachtet uns, wobei er die Arme vor der Brust verschränkt.
„Keller!“ Tarmos Ton lässt mich zusammenzucken, als hätte er mir schon jetzt einen Stromschlag verpasst. Ich kriege den Beginn der Übung nur halb mit, lausche auf die Tonfolgen und muss tatenlos zuschauen, wie ein Holoball nach dem anderen wieder erlischt, bevor sich meine Finger zu einer Bewegung entschlossen haben.
„Null Punkte. Absoluter Rekord. Der Nächste!“
Mein Magen verkrampft sich. Wie durch einen Schleier schaue ich zu, wie sich die anderen durch den Test kämpfen und den Schmerz bei Fehlgriffen zähneknirschend ertragen, ohne aufzugeben. Keiner stellt sich so blöd an wie ich.
Das kannst du auch, sage ich mir vor. Die Töne kommen immer zuerst, du musst nur hinhören. Ich hole tief Luft und warte auf mein nächstes Startsignal.
Eins, zwei, drei, vierfünf, sechssiebenacht … Horchen, schauen, tippen. Geht doch, denke ich ermutigt.
Ah, verdammt! Der Stromschlag wirft mich fast um.
„Fünfzehn Treffer für Keller“, meint Tarmo und wirft einen scharfen Blick auf Felix, der mir den Siegerdaumen zeigt.
Der Schmerz verebbt schneller als gedacht. Jetzt bin ich hellwach. Konzentriert verfolge ich die Blinkmuster bei den anderen. Morry bewegt sich fahrig, anscheinend bringt ihn das durchdringende Piepsen komplett aus dem Konzept. Nach dem Stromschlag schleicht er wie ein geprügelter Hund auf seinen Platz zurück.
Ich schnaufe gereizt. Das ist alles so unnötig, so würdelos! Stirnrunzelnd sehe ich zu Kohen hinüber. Der weicht meinem Blick aus.
„Kann man wenigstens den Ton mal ausschalten?“, fragt Felix. „Das Gefiepe tötet mir noch den letzten Nerv.“
„Das würde dir so passen“, entgegnet Tarmo knurrend. „Der Ton gehört dazu.“
Der Ton gehört dazu. Dreimal wiederhole ich den Satz im Stillen, ohne dass sich eine einzige Feuerameise rührt. Das stimmt also wirklich. Piepsen und Blinken gehören zusammen. Steckt da vielleicht ein System dahinter? Hat Tarmo eine feste Abfolge einprogrammiert, damit er locker abräumen und den großen Macker spielen kann, während wir hier verzweifeln? Zutrauen würde ich es ihm.
„Ist das wirklich ein Zufallsmodus?“, frage ich halblaut in Kohens Richtung. „Komplett unvorhersehbar?“
Tarmo hat es gehört und wirft Kohen einen drohenden Blick zu. Der steht immer noch mit verschränkten Armen und versteinerter Miene da. „Jawohl, ein Zufallsmodus“, antwortet er tonlos.
Ich horche auf. Seine flache Stimme lässt meine Ohrläppchen kribbeln. Aaa-ha! Wenn es ein System gibt, kann ich es knacken.
Konzentriert höre ich auf die Geräusche und beobachte die Abläufe aus Argusaugen. Die schrille Melodie frisst sich in mein Ohr. Sie wiederholt sich – und mit ihr die Positionen der Leuchtkugeln! Immer nach zwölf, nein, nach elf Tönen ändert sich das Blinkmuster. Wie genau ändert es sich? Die Holgramme tanzen vor meinen Augen.
Ich hab’s! Das Muster wird nach elf Tönen gespiegelt, erst horizontal, dann vertikal. Mit verbissener Anspannung verfolge ich die Übungen der anderen und zucke vor Mitgefühl, wenn sie unnötige Stromschläge einstecken, weil sie sich nur auf ihre Augen verlassen.
Als ich wieder dran bin, muss ich erst meine schweißnassen Hände am Overall abwischen, bevor ich mich in Position stelle. Ich lausche, spreche im Kopf die Abfolge mit, weiß, wie es weitergeht, und tippe mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die Hologramme. Es läuft, es läuft, ich erwische alle Leuchtbälle und blinzle perplex, als sich die Anlage abschaltet.
„Hundert Treffer, volle Punktzahl.“ Tarmo schaut zweimal auf seine Anzeige, erst erstaunt, dann angewidert, als wäre das ein schlechter Scherz. Während sein Blick von der Zahl zu mir wandert, verfinstert sich seine Miene immer mehr.
„Raus hier, alle“, befiehlt er knurrend. Schnell drehen wir uns zum Ausgang.
„Du nicht, Keller!“ Seine Anweisung trifft mich wie ein neuer Stromschlag.
Breitbeinig stellt sich Tarmo vor mir auf. „Was soll das? Von null auf hundert? Du willst mich wohl verarschen?“ An seiner glatt rasierten Schläfe pulsiert eine dunkelblaue Ader. Bevor ich zu einer Erklärung ansetzen kann, geht er auf Kohen los und sticht ihm mit seinem Zeigefinger fast in die Augen. „Das warst du! Du! Du hast ihr den einprogrammierten Code verraten! Steckst du mit ihr unter einer Decke?“
Kohen hebt beschwichtigend die Hände. „Lass uns in Ruhe darüber reden – unter vier Augen“, bittet er und bedeutet mir zu verschwinden. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.
Wenn Tarmo mir die Punkte streicht, falle ich auf den letzten Rang. Dann bin ich vom ersten Tag an als Loser abgestempelt. Der Gedanke verfolgt mich bis zum Abendessen. Über die Felix-Witze am Büffet kann ich nicht lachen, sie kommen mir vor wie sinnloses Geplapper. Ich achte nicht darauf, was ich mir auf den Teller lade, setze mich neben ihn und schiebe das Essen appetitlos hin und her. Mila scheint es genauso wenig zu schmecken, denn sie verabschiedet sich schon nach der Suppe. Als ich es auch nicht mehr aushalte, entschuldige ich mich bei Felix und verlasse den Speiseraum in Richtung Schlafsaal. Ich brauche dringend frische Luft.
Draußen auf dem Balkon ist es düster, dichte Regenwolken verdecken den Blick ins Tal. Aus dem grauen Dunst greifen die Äste großer Bäume wie riesige Finger nach mir.
Mila kauert auf dem Steinboden. Die Helligkeit, die aus unserem Schlafraum dringt, hat eine Schar grüner Geckos angelockt, die durch die Lichtflecken huschen. Geduldig wartet Mila mit kleinen Obststücken in der Hand. Die flinken Tiere beobachten sie aus glänzenden, orange umrandeten Knopfaugen. Meine Schritte allerdings schrecken die Geckos auf, und sie suchen Schutz in der Dunkelheit.
Mila schaut hoch. „Wie geht‘s dir?“
„Nicht so toll. Wenn mir Tarmo die Punkte vom Reaktionstest abzieht, gehe ich mit einer glatten Null aus den ersten zwei Übungen. Das hat vor mir noch keine geschafft.“
„Das wäre echt unfair“, entgegnet Mila. „Andererseits haben wir hier noch drei Monate. Was zählen da schon die ersten Übungen?“
„Eine ganze Menge! Der erste Eindruck bleibt hängen. Wenn ich von Anfang an als Loser dastehe, habe ich einen verdammt schweren Stand.“
„Hmm, da ist was dran.“ Während Mila überlegt, wagt sich der erste Gecko zu ihren Fingerspitzen vor, stibitzt schnell einen Obsthappen und flitzt davon. „Du könntest Kohen bitten, dass er sich für dich einsetzt“, meint sie.
Ich sehe Kohens Gesicht vor mir. Mila liegt wohl richtig -wenn ich von irgendwem Hilfe erwarten kann, dann von ihm. Seine warme Stimme hat mich durch die Operation geführt. Sogar beim Schießtraining hat er mir unter die Arme gegriffen. „Andererseits …“ Mila seufzt. „So wie ich Tarmo kenne, würde der Schuss nach hinten losgehen. Von Kohen lässt er sich aus Prinzip nichts sagen, ist mein Eindruck. Die beiden können sich wohl nicht ausstehen.“
„Das Gefühl habe ich auch.“
„Du musst also mit Tarmo selber sprechen.“
„Ich weiß nicht …“ Das Grinsen des glatzköpfigen Chamäleonkillers taucht vor meinem inneren Auge auf, aber Milas Zuversicht gibt mir Mut. „Du hast recht“, stimme ich ihr zu. „Ich rede mit ihm.“
Bevor ich es mir noch anders überlegen kann, laufe ich los. Bestimmt kümmert Tarmo sich abends um seine Sandviper vorne im Appellraum. Auf dem Weg durch den Glasgang werden meine Schritte immer langsamer, und ich muss mich zwingen, weiterzugehen. Emony, los, weiter, befehle ich mir. Das ziehst du jetzt durch!
Als ich den Raum mit dem Terrarium leer vorfinde, ertappe ich mich dabei, erleichtert aufzuatmen. Aber ich kann nicht so einfach wieder verschwinden, das löst schließlich nicht mein Problem. Also warte ich beim Schlangenterrarium. Sonora liegt bewegungslos in ihrem Glaskasten. Was frisst sie wohl, wenn Tarmo gerade kein Chamäleon zur Hand hat?
Sonoras reglose Augen hypnotisieren mich. Die Viper und das Chamäleon. Tarmo und ich. Irri hatte keine Chance. Werde ich eine haben?
Das derbe Lachen von Dart und Bolt reißt mich aus den trüben Gedanken. Jeder sieht aus wie ein halber Tarmo. Breitbeinig stellen sie sich vor mir auf.
„Da ist ja die Hundert-Treffer-Bitch“, sagt Dart und schaut auf mich herunter.
Mein Rücken versteift sich.
„Hast du‘s schon gehört? Morgen ist Nahkampf dran. Da üben wir Terroristen auszuschalten. Wenn ich gegen dich dran bin, werde ich mich nicht zurückhalten. Ich liefere dir eine sehr realistische Show“, meint er und dehnt seine Worte, damit es effektvoller rüberkommt.
„Sehr realistisch“, betont sein Bruder.
Was für Schwachköpfe. „Realistisch?“, entgegne ich. „Echte Terroristen haben doch viel mehr Hirn als ihr. Viel mehr.“
Das hätte ich nicht sagen dürfen. Bolts Gesicht verzerrt sich vor Wut, er tickt völlig aus. Er springt auf mich zu, stößt mich gegen die Wand neben Sonoras Terrarium und schlägt auf mich ein. In die Ecke gedrängt, halte ich mir die Arme vors Gesicht, um seine wütenden Hiebe abzuwehren.
Obwohl ich von vorne attackiert werde, spüre ich eine Bewegung in meinem Rücken. Die Wand bewegt sich. Plötzlich lässt Bolt von mir ab. Desorientiert stehe ich da, bis ich dem erschrockenen Blick der Brüder folge. Unser Kampf hat das Schaltfeld für Sonoras Terrarium herausfahren lassen. Mein Atem stockt, als die Futterklappe des Terrariums langsam hochfährt.
Bolt hat mich gegen den Öffner gedrängt. Scheiße! Wie kriegen wir die Klappe bloß wieder zu? Wie hat Tarmo das letztens gemacht? Ratlos stehe ich vor der langen Reihe von Schaltern. Wo muss ich drücken? Beim letzten Mal hatte ich nur Augen für das Chamäleon.
Sonora setzt sich in Bewegung und schlängelt auf die offene Klappe zu. Futter, sie erwartet Futter. Hastig drücke ich einen großen Knopf. Die Klappe bleibt offen. Ich drücke noch einen. Das Terrarium reagiert nicht. Noch einen – nichts.
Verdammt, verdammt, verdammt!
Dart und Bolt stehen da wie angewurzelt und starren auf die züngelnde Viper. Mir laufen kalte Wellen über den Rücken, während ich erfolglos auf alle Schalter einschlage. Komm schon. Geh zu! Geh zu!
Zu spät. Sonora hat die Klappe erreicht, streckt ihren dreieckigen Kopf durch die Öffnung und gleitet langsam hinaus.