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Eisenbahn

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Der Bahnhof gleich hinter dem Garten von Dr. Ginella hornt, pfeift, rasselt, klenkt, dampft, zischt, raucht. Selbst nachts kündigt sich in der Ferne plötzlich ein schwaches Rollen an, schwillt zum Donnern eines durchfahrenden Güterzugs und verhallt erst nach langer Zeit. Im Gleis­areal hetzen und keuchen tagsüber zwei zweiachsige Verschiebedampfloks kurzatmig hinter den Güterwagen her. Die Geräusche des Bahnhofs bleiben mir Heimat, obschon ich mit fünf aus dem Quartier wegkomme; der Geruch heissen Schmieröls und halbverbrannter Kohle ist noch heute ein Zauber.

Die Güterzüge, verdreckt und zusammengewürfelt, kommen von fern, von viel weiter her als selbst die Schnellzüge. Diese hält der Bahnhofsvorstand an, die Güterzüge lässt er passieren; er verkriecht sich vor ihnen ins Stationsgebäude oder den langen Güterschuppen. Das in den plombierten Waggons oder mit Planen überdeckten Hochbordwagen transportierte Gut, unterwegs nach Deutschland oder Italien, duldet keinen Aufschub.

Unheimlich und der Verehrung würdig sind diese abgekämpften, zerbeulten, auf beschädigten oder ausgeleierten Achslagern vorüberhumpelnden Güterzüge. Sie kanalisieren den Krieg: In nur fünfzig Meter Distanz fahren sie an unsrem Haus vorbei. Zwar lautet die tröstliche Doktrin, dass Olten zuerst «drankäme», weil dort mit einem Bombenschlag das Eisenbahnkreuz der Schweiz zertrümmert würde. Doch ein Nachschlag auf die hiesigen Eisenbahnanlagen, die Brücke der Strassenunterführung, den Gaskessel und die wie Zunder brennenden und explodierenden chemischen Werke würde den Nord-Süd-Verkehr für eine gute Weile lahmlegen. Drum wohl holt die Mutter mich in Alarmnächten aus dem Gitterbett und trägt mich in den Keller. Später, im Haus ob der Stadt, ist dies nicht mehr nötig, obwohl der Krieg weiterwütet und die Bombardierungen näher rücken.

Im Süden des Bahnhofs staut ein fünfgleisiger Niveauübergang mit Fussgängerunterführung den Strom der Radfahrer aus Strengelbach und Vordemwald. Den Fussgängern vorbehalten ist die Passerelle, die der elektrischen Fahrleitungen wegen in einem Kasten aus feinmaschigem Drahtgitter hängt, das weit über meine Kopfhöhe reicht. Ein Totenschädel über gekreuztem Gebein warnt. Hier erfahre ich die fröhliche Brutalität der Eisenbahn.

Ich blicke durchs Gitter über die Gleise und auf die hoch gestapelten, blaugrünlich gestriemten Stämme der Holzkonservierung. Von Norden nähert sich das Höhöhö eines schweren Güterzugs in DampfDoppeltraktion, und einen Moment lang möchte ichʼs zum Stillstand bringen, das Dröhnen jagt die Angst vor sich her. Die vordere Lokomotive pustet aus dem Schatten des äusseren Bahnsteigdachs, die Passerelle beginnt zu vibrieren, die Angst schlägt um in ausgelassene Begeisterung. Die Maschinen donnern unter der Passerelle durch, zischender Dampf nimmt mir die Sicht und beinahe den Atem. Allmählich lichtet sich der wild wallende, vom Luftzug herumgewirbelte Nebel über einem schweren Rumpeln und Pumpeln wie im Bauch des Wolfs. Güterwagen, plump und machtvoll, rollen folgsam unter mir durch, in allen Farben von Rauch, Russ und Rost, Dach um Dach. Der Schwanz des Zugs wird vorbeigezogen, die auf- und abblakende rote Zugsschlusslaterne entfernt sich, die Luft ist wieder klar. Blaugrünlich der Stammstapel der Holzkonservierung.

Steht die Barriere des Niveauübergangs draussen im Altachenquartier offen, trete ich zwischen die Gleise und schaue nach Süden. Die Stahlschienen blitzen, die Luft flimmert; je ferner der Blick den Gleissträngen folgt, desto näher kommen sie sich, desto schwächer wird das Glimmern, desto stumpfer und dunstiger die Luft. Irgendwo hängt noch der Rauch des zuletzt vorbeigefahrenen Zuges. Italien – wo die Schienen sich schneiden.

Am Villenhügel hört man den Krieg und die Eisenbahn nur bei Westwind. Statt ihrer wird uns eine Märklin-Spielzeugbahn Spur 0 mit schwarzgespritzter Dampflok auf roten Rädern, Kohletender und einigen Personenwagen geschenkt; mir wäre ein müde kriechender Wurm von einem Güterzug lieber. Unter meiner Regie verkehrt die Bahn zwischen den Beinen des Esstischs und unter dem kleinen Buffet mit der Alabasterstanduhr aus Paris. Abenteuerlich istʼs, die Schienen erst zusammenzustecken und dann an düstere Orte zu schieben, die ich kriechend nicht erreiche, mich auf den besonnten Teppich in der Zimmermitte zu setzen und die Lokomotive loszuschicken. Sie erkundet in meinem Namen, da ich als Lokführer mitfahre. Auf sicheren Schienen unter dem leicht durchhängenden Stoffbauch des Ledersofas zirkulierend, nehme ich die Gegend in Besitz, und selbst an dunklen Orten wird das Unheimliche so schnell nicht nachwachsen.

Den Traum von einer Modellbahnanlage träume ich weit über die Kindheit hinaus. Meine Mutter, wohl um diese Leidenschaft wissend, hat mir den FCW-Katalog zugeschickt bis wenige Jahre vor ihrem Tod.

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