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Intermezzo: Zügelmann Holderegger, Dienstkollege

Juli oder August 1943; wir ziehen aus dem Bahnhofsviertel um ins Haus über der Stadt. Es ist Krieg, es ist friedlich. Ich freue mich und bin traurig. Dr. Ginella wird mich nicht mehr auf seinen Schultern reiten lassen. Das Haus am Hügel hat zwar einen Terrassengarten, doch statt des Weihers mit Fontäne nur ein Brunnenbecken aus Sandstein sowie einen Brunnenstock, dessen Wasserhahn noch nicht funktioniert. Das Haus kommt mir wie eine verrauchte Höhle vor. Noch wird umgebaut; zusätzliche Fenster sowie Fenstertüren auf die Veranda werden eingesetzt, aus einer schmalen Ostveranda im oberen Wohngeschoss wird ein Zimmer mit breiter Fensterfront, dunkelgrüne Tapeten werden heruntergerissen, die neue Holztäfelung im Wohnzimmer wird von Malermeister Laug naturbehandelt, die Türen an den Oberenden der Treppen werden entfernt, ebenso die Treppenverschalungen, aus einem finstern Flur im Obergeschoss soll ein heller Aufenthaltsraum mit Rattanstühlen und einem Tischchen werden. In dieses Durcheinander halten wir Einzug.

Der Vater hat einen Dienstkollegen mit dem Umzug beauftragt, einen Soldaten seiner Territorialkompanie. Dienstkollegen offerieren bedeutend günstigere Tarife; unter Dienstkollegen wickelt man, wie unter Männern überhaupt, alles rasch und unkompliziert ab. Zudem hat Holderegger sich schon anderswo als Zügelmann bestens bewährt; für ihn spricht die restlose Zufriedenheit seiner Kunden. Der Mann hat eine grosse geschäftliche Zukunft.

Um sieben stellt er sich ein, untermittelgross, kraushaarig. Sein Fuhrpark besteht aus Pferd und flachem Ladewagen. Holderegger hievt die ersten Möbelstücke auf die Ladefläche, mit einem Krach fallen sie in die ideale Zügelposition und werden festgezurrt. Wissen wie, sagt Holderegger, ein Schnalzen, ein Zwick am Zügel, das Pferd ruckt an, die Ladung schwankt, Holderegger pfeift ein Liedchen zum Umzug. Erst die Grabenstrasse hinauf zum Untertor – Holderegger winkt gönnerhaft den wachehaltenden Steinlöwen zu –, dann mehr oder weniger ebenaus den Ringmauergärten entlang, vorbei an Gefängnis und Museum, durchs Neuquartier bis vor den Stadtsaal; nun gehtʼs zur Volière hoch; die Anfangssteigung der staubigen Rebbergstrasse wird von Holderegger und Pferd relativ frisch und rumpelnd bewältigt. Schon haben sie die Festhütte hinter sich, es ist acht. Hundert Meter weiter wird abgeladen, nun beginnt der Stutz, der Hangweg zum Haus hinauf. Ab hier muss gebukkelt werden.

Als Holderegger mit Donnerknall, begleitet von unheimlichem Knistern, das elegante Schränkchen für die Tischwäsche auf die Dielen des Esszimmers plumpsen lässt, sagt er zu mir, der in rückhaltloser Bewunderung seiner Könnerschaft und Bärenkräfte nebenher gelaufen ist: Früe it Hose git starchi Manne, hä? Itz holemer de nööchscht Siech. Um neun sind wir wieder an der Grabenstrasse.

Der Tag wird lang, erstickt beinahe unter schwerem klebrigem Blau, die Luft simmert, die Sonne trommelt, besseres Zügelwetter kann man sich nicht wünschen. Holderegger schleppt und buckelt Stück um Stück ins Haus über der Stadt. Irgendein Grossmöbel, das nicht die Treppen hinaufgetragen werden kann, sehe ich an Seilen vor der Hausfassade trudeln, woraus ich heute schliesse, dass Holderegger seinerseits kurzfristig einen Dienstkollegen engagiert haben musste; einer melkt am Flaschenzug, der andre mostet das schwere Stück durch ein Fenster ins Innere; es kratzt, knirscht, scherbelt, aber es geht, denn es muss, doo gits käi Bire. Was meine Begeisterung zusätzlich nährt, ist die an Bemerkungen ablesbare steigende Beunruhigung der Mutter. Scho wider isch zFurnier abgschlage, uder Schpiegu rächts ader Psüüche het ou eSchprung! Der Vorgang, dem ich Schritt für Schritt beiwohnen darf, muss von hoher Bedeutsamkeit sein.

Vier Uhr, der Tag ist eine glühende Pfanne, die Sonne schlägt Nägel in die Köpfe, und am Fuss des Rebberghangs – prachtvollste Südlage – schmilzt sie tropfend vom Himmel. Holderegger keucht und ächzt bergwärts, hitzerot, schweissüberströmt, ununterbrochen lästerlich fluchend i dere himuherrgottsieche Bruethitz. Ich laufe nebenher, noch immer, ein fünfjähriger Kobold und Quälgeist. Nicht dass ich mich an Holdereggers Pein weide, nein: Fasziniert trinke ich seine Fluchlitaneien. Nichts, das zwischen seinen paar Zähnen nicht zu Fluch und Lästerung würde. Den Ledersessel könnte er auf der Stelle ficken; die drei geschnitzten Renaissancestühle, hinter deren Armlehnenknäufen Holzringe ähnlich Vorhangringen klingeln, sind Huereböck, das machtvolle Pult des Vaters es Mischpviich; die kiesbestreute Steigung zum Haus heisst e gopfverfluemereti Rutschbaan, die Züglete generell en uhuere Schiissdräck, und der stinkende Säuplunder, den er, Holderegger, weil der Dienstkollege es ungern sähe, unterwegs nicht i Abfaau rüere darf, der kann ihn am Aarsch läcke.

Und so geschieht das Unausdenkbare. Beim Abladen einer der letzten Fuhren glitscht der grosse, mit Kirschholz furnierte, doppelstöckige Geschirrschrank aus Holdereggers schweissnassen Händen und kracht ins Kies. Doch das Möbel made in Italy beweist seine Klasse. Zwar zersplittert das Bein, das den Sturz auffängt, doch bleibt der Schrank inklusive Glastüren mehr oder weniger ganz. Nun lässt die Mutter ihrem Zorn freien Lauf: Cha dä Kärli eigetlech nid Soorg ha? Am groosse Chleiderschaft isch eTüürgriff ab uds Furnier am angere unge linggs ewägg. U diStüeu, diStüeu gse uus … U ietz daas! DsKlavier isch nonidemau zzüglet. Und ich spüre, in welch übler Lage der Vater ist, weil er Dienstkollege Holderegger engagiert hat. Hier muss er beschwichtigen und dort verhindern, was nicht zu verhindern ist.

Zur Katastrophe wird der Tag durch den Unfall meines Bruders. Er hat, wohl über Mittag, Holdereggers Ross auf dem Unkrautstück vor Bauer Aeschbachs Scheune geweidet, baarfis. Unerfahren im Umgang mit Pferden, hat er es an zu kurzem Zügel geführt. So stellt es denn eins der vier schweren Hufe auf seinen linken Fuss und belässt es so lange dort, bis eine Zehe unter dem Hufeisen gebrochen ist.

Was uns Kindern eingeprägt blieb, war Holdereggers sprachliche Kompetenz, deren Metaphern unmittelbar einleuchteten und von der vornehm zurückhaltenden Redeweise der Eltern brachial abstachen. Noch Wochen nachdem ein neues Schrankbein vom Tischler angesetzt, der Riss im Sofaleder vom Kürschner genäht, das Klavier gestimmt und das abgezwängte Pedal gerichtet, das Furnier angeleimt, der Spiegel in der Psyche ersetzt, die zerbrochenen Holzringe hinter den Armlehnenknäufen der Renaissancestühle wieder ganz waren, übten wir uns in Holdereggerschen Lästertiraden, und aus dunklen Gründen – vielleicht weil Dienstkollegen trotz allem Ehrenmänner sind oder weil Zitate nicht die moralische Brisanz autonomer Aussagen besitzen – verbot es uns niemand. Ja, die Mutter unterstützte uns mit ihrer wehmütigen Erinnerung an die Lieferung des Klaviers in Mailand, wo der Zügelmann von Ricordi & Finzi pfeifend, ohne je anzuecken, das Instrument durch vier Stockwerke hochgetragen habe. Ach ja, die Italiener, galant und kein böses Wort. Weisst du noch, Vater? Es gibt Situationen, da würde man es begrüssen, das Klavier wäre seinerzeit von Laurello e Hardino zuschanden geritten worden.

Dienstmann KüpferReisigsammlerinnen

Zofinger Tablatt, 13. September 1944

Verdunkelung aufgehoben; Grenzmarkierung am Tag. Massnahmen zum Schutz unseres Landes und Volkes

Die allgemeine Verdunkelung war am 6. November 1940 verfügt worden, als die Schweiz von ganzen Luftflotten wiederholt überquert worden war, mit Start England und Ziel Oberitalien.

Die Kriegslage hat sich (…) insbesondere seit Anfang September dieses Jahres für die Schweiz in zweifacher Hinsicht in grundlegender Weise geändert. Einmal sind die Kriegsschauplätze unserer Grenze wieder näher gerückt und dabei sind auch die Flugplätze weitgehend nach dem Kontinent verlegt worden. Damit haben die Durchflüge ganzer Bombergeschwader durch unser Land aufgehört, da von den kontinentalen Flugplätzen aus die Ziele auf direktem Wege erreicht werden können. Sodann stossen wieder beide kriegführenden Parteien auf unsere Landesgrenze. Eine nicht verdunkelte Schweiz kann daher nicht mehr als Wegweiser für die eine oder andere Kriegspartei angesehen werden, und es können sich daraus für beide Parteien weder Vor- noch Nachteile ergeben. Die vollständige Parität ist wiederhergestellt.

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