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III. Zwang Schulhaus
ОглавлениеDreistöckiger, nach Westen offener Hochparterre-Hufeisenbau, Neurenaissance, 1876/1877; drei Freitreppen im Ehrenhof, zwei unter Säulengiebeln nach den beiden Seitenflügeln für die Schüler; den Lehrern vorbehalten ist der zentrale Aufgang in der Mitte des Haupttrakts unter einem von sechs Säulen getragenen Balkon mit Säulenbalustrade. Er mündet ins säulengestützte, auf Bodenniveau abgesenkte Atrium, von welchem aus zwei Ehrentreppen Richtung Nord und Süd ins erste Obergeschoss steigen. Das Verbot, das Sechssäulenportal vom Ehrenhof her zu betreten, ist in die Hirne der Schüler eingebrannt. Die Hochparterreaufgänge an den Enden der Seitenflügel sowie der gekieste Hof werden während der Pausen von den Schülern der Primarklassen mit Getümmel und Geschrei erfüllt. Unterdessen spazieren am Unterende der Auffahrt im Schatten der Kastanienallee, deren schweres Laub den Ostarm der Ringstrasse um die Altstadt zum Tunnel verdunkelt, die Lehrer.
Die eigentlichen Schülereingänge jedoch befinden sich am Nord- und Südende des Mitteltrakts, wo die Querflügel abgehen. Nur durch diese Portale erreichen die Insassen der Obergeschosse ihre Klassenzimmer innert straffreier Frist. Das Hasten und Schubsen auf den schmaleren Ecktreppen steht in stossendem Gegensatz zur flüsternden Leere und kassettendeckengeschützten Würde der für die Lehrer reservierten Ehrentreppen und macht klar, wer wer ist.
Der einzige Zugang in der riesigen Ostfront, genau gegenüber dem Ehrenportal, eine simple Tür, wird wenig benutzt. Zwar stehen die Grossen während der langen Pausen in Grüppchen hier herum. Doch nur den hageren Schulhausabwart Gloor sieht man zuweilen eintreten, dann wieder knarren die Angeln halbe Tage nicht, so dass sich der Eindruck einnistet, er sei verriegelt: Grauzone.
Das Tabu des Ost-Schlupflochs wird verstärkt durch den Karzer, der sich gleich dahinter befindet. Selten, daher Schrecken verbreitend, ist er bewohnt, denn die dort Versenkten hocken lange. Den Schlüssel trägt Abwart Gloor auf sich. Das Gerücht geht, nach mehrmaligem Aufenthalt im Karzer erfolge der Ausschluss aus der Schule: nach dem absoluten Dunkel – wobei dies umstritten bleibt – die Ausstossung in die absolute Blendung der Vogelfreiheit. Von Körperverletzung abgesehen, sind die Verbrechen aus heutiger Sicht wenig schwerwiegend. Es reichen notorisches Schuleschwänzen, schwere Beschädigung von Schul- und Schülereigentum, so von Schulbänken, Unterrichtsmaterial oder Fahrrädern, und Kleindiebstahl.
Von der funktional unklar definierten Osttür geht eine diffuse Versuchung aus. Doch die einzige Gelegenheit, da dieser gleichsam zum Orakelmund des Schulhauses avancierte (weil die vom Lehrkörper Verdammten einschlürfende) Osteingang sperrangelweit offensteht, ist der Kinderfesttag im Juli in der Schlechtwettervariante, wenn nach dem Gefecht gegen die Freischärler die Kadetten in dem von Säulen getragenen Atrium demobilisiert werden. Die schwitzenden, triefnassen Kindersoldaten und die im Diskant geschrienen Befehle der Kinderoffiziere brechen ein und entheiligen kurzfristig den dämmernden Raum des Atriums. Dann nistet sich die beinah gegenstandslose Versuchung für ein weiteres Jahr im unscheinbaren Ostloch des Schulpalasts ein.
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