Читать книгу Die Stimme des Atems - Ernst Halter - Страница 34

Langweil

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Was soll ich spielen? Die Mutter ist im Obergeschoss am Aufräumen. Nach Vorschlägen, die ich vor dem Spielzeugschrank bereits verworfen habe, sagt sie: Willst du nicht unser Haus zeichnen, den Garten und dich selbst mittendrin? Ich bin unschlüssig, denn was beim Zeichnen herauskommt, entspricht nicht entfernt dem, was ich sehe. Nein, ich will nicht zeichnen. – Möchtest du das Buch vom Mond oder das Alpenblumenmärchen von Kreidolf anschauen? – Ich möchte lesen lernen, Mama, die Geschichten weiss ich auswendig. – Das lernst du in der Schule immer noch früh genug. – Aber ich will jetzt lesen lernen. Ich möchte alle Bücher lesen. Warum lehrst du mich nicht lesen? – Du musst in der Schule noch was zu lernen haben. Weisst du was? Du könntest mir im Garten die Karotten ausziehen, das ist eine wunderbare Arbeit, und die grösste gehört dann dir. Einen Moment sehe ich die riesige zweibeinige Karotte vor mir, die ich im vorigen Herbst ausgezogen habe; aber sie war hohl, und schon bricht die Empörung ob solcher Zumutung durch: Ich will keine Karotten ausziehen. Die Mutter seufzt: Warum gehst du nicht zum Sandhaufen und baust dir eine Stadt mit den schönen farbigen Förmchen? – Es kommt aber kein Wasser mehr aus der Röhre; ohne Wasser istʼs langweilig, auch sindʼs keine richtigen Häuser, nur Sandkuchen. – Dann mach einen Spaziergang zum Weiher hinauf; aber versprich mir, dass du nicht auf den Steg hinausläufst. Ich überlege: Mhm, ja. – Gut; doch ohne Kappe und Windjacke lass ich dich nicht weg, es nebelt, bald ist Winter. Ich trage einen wegwartenblauen Pullover aus Noppenwolle mit drei gehäkelten weissen Kugelknöpfen. Nein, ich will keine Wind­jacke. Die Mutter hat ein Federbett aufgeschüttelt; nun dreht sie sich um und schaut mir wortlos in die Augen: Dann gehst du ins Esszimmer und wartest, sagt sie leise, verlässt den Raum, ohne sich nach mir umzudrehen, und betritt das Schlafzimmer, wo mein Bruder und ich hausen und er sein kleines Arbeitspult stehen hat.

Ich laufe ihr nach; auf der Schwelle, als ob ein Verbot mich zurückhielte, bleibe ich stehen und lehne mich gegen den Türrahmen. Sie stellt die Stühle mitten ins Zimmer, legt erst die Kissen auf die Sitze, dann die Daunendecken über die Lehnen. Sie zieht die Wolldecken herunter, tritt an ein Fenster, schüttelt sie aus und wirft sie über die Federbetten. Nun greift sie nach den Laken. Ich möchte reklamieren und bringe kein Wort über die Lippen. Plötzlich ist mir, das Dach sei weggeblasen, wir schwebten beide draussen im grauen Herbstwind. Der Raum verkommt zur Fläche, die Hantierungen der Mutter zerfallen in wirre Bruchstücke, ich denke das Wort «Mutter», und die zwei Silben brechen auseinander, mu, ter, bedeuten nichts mehr, sind ein sinnloses Geräusch. Warum nicht termu, muret, trume, mertu? Was ist der Unterschied?

Ich drehe mich weg, gehe zur Treppe und lasse mich, eine Hand am geschwungenen Geländer, Stufe um Stufe hinabfallen. Mir schwindelt. Der Spielzeugschrank gähnt offen, ich stosse die verglaste Wohnzimmertür auf, klettere auf meinen Stuhl und das Rosshaarkissen, stütze die Ellenbogen auf und das Kinn in die Hände und starre durch die Fenster zum Wald hinauf, der sich dünn wie graues vor weissem Seidenpapier durch den Herbstnebel abzeichnet, und versuche mit dieser Niederlage vor mir selbst zurechtzukommen. Warum bin ich unzufrieden und traurig? Warum aufsässig? Warum bin ich, wie ich bin? Warum gibt es mich überhaupt? Kämpfend gegen die Tränen, zähle ich die Baumwipfel, denn zählen kann ich schon lange.

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Die Stimme des Atems

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