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Der weisse Pullover

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Das Kind begegnet jedem Kleidungsstück mit einem genauen unveränderlichen Gefühl: Liebe, Gleichgültigkeit, Verachtung. Es hat ein klares Bewusstsein seiner selbst, seine persönliche Ästhetik. Sinnlos, ihm weismachen zu wollen, jene vom Bruder geerbten Hosen aus braunem Wollstoff mit den engen in den Kniekehlen scheuernden Hosenbeinen seien genauso schön wie kurze dunkelblaue Manchesterhosen, vor allem aber wärmer und gesünder. Was bedeutet dem Kind Gesundheit? Es bringt sie mit aus dem Mutterleib. Was soll der Hinweis auf Blase und Nieren? Jeder Blick an seinem Körper hinunter bestätigt, dass die Hosen abscheulich aussehen.

Verlorne Liebesmüh, ihm lederne Hosenträger beliebt zu machen, weil ein eng geschnallter Gürtel auf den Magen drücke und Bauchweh verursache. Es sieht sich im Toilettenspiegel der Mutter und weiss mit sechs Jahren bereits: Ich sehe aus wie Herr Holderegger. Kaum sind die Eltern ausser Sicht, knüpft es die Hosenträger los, versteckt sie und sucht im Nachttisch des Bruders nach einem Gürtel.

Es gibt auch ästhetisch neutrale Kleidungsstücke. Ausgelatschte braune Halbschuhe: Wer im Quartier trägt schönere? Einige trampeln gar in Holzböden herum. Schuhe werden für das Kind gekauft, es hat sie abgetreten und liebgewonnen; ungern trennt es sich von ihnen. Dazu trägt es kurze Socken. Seine dunkelblaue, von der Mutter gestrickte Wollkappe empfindet es als Verschönerung seiner Person. Zwei Pompons baumeln ihm an Kordeln gleich grossen Pflaumen ums Gesicht.

Am glücklichsten ist das Kind im langärmligen, aus feiner weisser Wolle gestrickten Pullover mit Umlegekragen. Dünner als der braune oder der staubblaue Winterpulli aus Kratzwolle, steht er für Sonntag und Frühling und umschliesst eng die Handgelenke; der Kragen fasst den Hals schön rund ein, die Glasknöpfe sind Diamanten. Das Kind gefällt und liebt sich dann aus tiefstem einverstandenem Herzen. An Frühlingssonntagen trägt es zudem weisse gestrickte Strümpfe, die seine Würde nicht antasten. Es hakt sie in die Ösen am Gschtältli und prüft die Knöpfe des Hosenladens. Nun schlüpft es in die dunkelblauen Manchesterhosen und tritt sich so gegenüber, wie es sich sehen will: vom Himmel gestiegen und der Mutter und dem Vater ein Wohlgefallen. Es lacht, singt, entwischt in den Garten, kommt nach einer Weile wieder ins Haus gelaufen und erzählt. Die Eltern streicheln ihm übers Haar, nehmen es an der Hand und hören ihm geduldig zu.

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Die Stimme des Atems

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