Читать книгу Die Stimme des Atems - Ernst Halter - Страница 38

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Bis ich selbst ein Buch bewältigen kann, liest uns der Vater, hat er Zeit, abends vor. Wir setzen uns auf dem abgeriebenen dunkelbraunen Ledersofa in der Bibliotheksecke des Studierzimmers nebeneinander. Ich sitze meist rechts von ihm, über mir staffeln sich die vollen Bücherregale, brennt die Stehlampe. Zwischen dem Vater und der Ofenkunst nehmen die Geschwister Platz. Die Kacheln wärmen die Szene, denn es ist Krieg, und die mit deutscher Kohle befeuerte Zentralheizung wird auf Sparflamme gefahren. Hinter uns hängt in schwarzem Rahmen Piranesis Stich des Sibyllentempels von Tivoli. Ich werde die Angst davor nie ganz los; sie verhindert, dass ich das Blatt genau betrachte. Mein Eindruck von schreckenerregenden ausfahrenden Bewegungen, tintigen Dunkelheiten, von Kellergeruch und Kerkergewalt bleibt.

Der Vater schlägt das Buch auf. Wo sind wir stehengeblieben? Eins von uns weiss die Stelle, wo er das Häkchen gesetzt hat, fast immer. Das Buch ist eine Sagensammlung. Die Geschichten erklären, warum etwas ist, wie es ist: warum die Katze grüne Augen und die Erde einen Mond hat, warum die Espe ununterbrochen bebt. Meist hat der Teufel dreingepfuscht – und mein Interesse für ihn ist das grösste. Die Espe allerdings wird, typisch für den lieben Gott, unschuldig bestraft. Was kann sie dafür, dass sich Judas Ischarioth an ihr erhängt hat? Heute erfahren wir, warum die Eiche buchtige Blätter hat. Weil der Teufel während der Schöpfung wieder einmal betrogen worden ist, vom lieben Gott selbst. In ohnmächtiger Wut hat er mit seinen Krallenpranken auf die Eiche eingedroschen, bis alle schön ovalen Blätter buchtig zerfetzt herabhingen. Was wir heute noch sehen können.

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Die Stimme des Atems

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