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Die Koordinaten

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Wie viele Richtungen braucht der Mensch? Vorne und hinten, links und rechts. Aus dem Gesicht, dem auglosen Hinterkopf und den ins Kreuz gestreckten Armen strahlen die vier Himmelsrichtungen und, eine Achtelsdrehung weiter, auch Südwest, Nordost, Südost und Nordwest. Nach unsrem Körper ordnet sich die Welt. Kann sich die Kardinalrichtung, die das Kind geprägt hat, je ändern? Unser Blick bleibt dort hängen, wo er festgemacht wurde; er spannt das Netz der Koordinaten, darin wir wandern.

Da steht ein Bub von elf Jahren auf einer Veranda, deren Geländer von Geranien und schwer duftenden Petunien überblüht ist; ihr Rot und Violett passt zum Holz des Hauses. Es liegt an einem Hang und ist mit dem Estrich und dem auf der Talseite ebenerdigen Kellergeschoss vier Stock­werke hoch. Der Junge schaut nach Süden; in seinem Rücken blinken die Fenster in der Mittagssonne. Nun lehnt er sich vor. Die mit grauen Granitplatten belegte Hausterrasse blendet herauf.

Oft, wenn ihn die Lust ankommt und weil es verboten ist, springt er von ihrer Stützmauer aufs Gartenparterre hinunter, ein Rasenrechteck, eingefasst von Blumenrabatten und Blütensträuchern und durch eine Hagebuchenhecke gegen den Vorgarten des Nachbarchalets abgeschirmt; dort haust der Steinalte. In einem Winkel ist der Sandhaufen angeschüttet. Hier duftet es feucht nach Wald, im Frühling blüht eine Forsythia über das spielende Kind weg, und ein morscher Buchsbaum wirft frösteligen Schatten.

Das Gartenparterre endet über einer weiteren Trockenmauer. Am Westeck dieser von Efeu verwachsenen Stützbastion ragt eine Schein­zypresse, ein Turm, aus dessen Gelassen selbst Sommertage nicht die herb duftende Dämmerung vertreiben. Sie hütet das doppelflüglige schmiede­eiserne Tor über dem Zugangsweg. Auf dem höheren der zwei Wipfel singt die Gartenamsel die Nacht herauf. Der Hang fällt nun zur Strasse ab. Hier blüht und fruchtet die Hostert des Alten. An einem verborgenen Ort gluckert ein Quellchen zwischen Felsbrocken unter dichtem Gebüsch und Farn in einen handtuchgrossen Weiher, ein Geheimnis, zu finden nur, wenn das Gras zwischen den Apfel- und Birnbäumen gemäht ist.

Der Blick des Buben wandert durch den schmalen Talgrund, lokker gestreute Apfelbäume. Der Gegenhang steigt auf, dicht bebaut: das Amslergut, dort kehren die Menschen der Sonne den Rücken zu; der Hang endet in einer Krete, auf der sich einige Häuser rittlings niedergelassen haben; ihre Sicht geht frei nach Süden, Westen und Norden. Dies ist der Finkenherd, und der Junge spürt leisen Neid: aufzuwachsen mit Blick nach drei Himmelsrichtungen!

Ein mit Bäumen gekrönter Hügel schliesst die Südsicht über die nähere Umgebung ab: der Heiternplatz, Festort und Aussichtspunkt der kleinen Stadt, ein mit uralten Linden umpflanzter ehemaliger Exerzierplatz. Die Lindenkronen lagern gleich grüngelben Gewitterwolken auf dem Hügel. Dahinter glimmert Schönwetterdunst, und erst über dem fernen schwarzen Dreieck des Napfs, wo die Wigger entspringt, die westlich der Stadt von Fabrik zu Fabrik fliesst, trifft der Bub wieder auf Vertrautes, die Berner Alpen aus bläulichem Glas, und jeder Gipfel trägt einen Namen. Erst die Wetterhorngruppe. Ihr gegenüber am sonnenverbrannten Südhang des Haslitals liegt das Dorf Hohfluh, wo er die Sommer- oder Herbstferien verbringt. Höher ragt die Schreckhorngruppe, anschliessend die drei Klötze von Eiger, Mönch und Jungfrau und, im Mittagsglast kaum mehr vom Himmel zu unterscheiden, das Breithorn. Dann schliesst der finster gehörnte Pilatus die Ferne zu. Der Bub blinzelt in die Mittagssonne. Ja, er steht richtig in der Welt: südwärts, alpenwärts, der Sonne entgegen.

Obwohl ich erst mit fünf Jahren, als die Eltern das Haus am Hang über der kleinen Industriestadt Zofingen kauften, in dieses Koordinatennetz gestellt worden bin, orientiere ich mich stets nach Süden, und gleich rückt die Geographie des Orts, die Lage eines Hauses ins Lot und ordnet sich in den Kompass meines Lebens. Ich werde nie dorthin auswandern, wo die Sonne im Norden steht. Australien ist die verkehrte Welt.

Der Bub schaut nach Westen; diese Richtung ist verkrüppelt. Ein Nachbarhaus verdeckt zum Teil die Sicht. Die meisten Sonnenuntergänge finden hinter seinem Dach statt. Nur im Spätherbst und Winter verlagern sie sich über die Hochkamine draussen in der Wiggerebene zum schwarzen Turm der Scheinzypresse hin. Dann feiert die Sonne als riesige Brandröte, die mit dem Verblassen des Lichts über den fernen Waldhügeln immer breiter wird und kurz vor dem Erlöschen den halben Himmel mit Rosenschein sättigt.

Osten ist offen; denn zum Besitz der Eltern gehört ein zweiter Gartenteil, quer zum Hang. Hier krautet das Gemüse. Auch der Ostgarten ist terrassiert, zuoberst stehen zwei Kirschbäume. Es folgen verstreute Dächer unter Bäumen, dann buckeln die alten Buchen der grossen Wälder hinten im Tal einen dunkelgrünen Horizont. In ihrer Tiefe geschieht nichts. Vögel fiepen in die Stille, die Sonne steigt auf und versinkt, und nachts fahren die Sternbilder über die schwarzen Baumkronen hin; die Bäche furchen sich in die Sandsteinhänge, so langsam, dass man hunderttausend Jahre schlafen müsste, um sich nicht mehr auszukennen. Geht er durch die Wälder, drehen sich die Wipfel lautlos über ihm, das Wild flieht, und sein Herum­strolchen ist die einzige fremde Bewegung.

Russland, das Land der grössten Wälder, liegt im Osten. Wenn der Junge sich nach Russland denkt, sinken die Täler zwischen hier und dort tiefer in die Erde, sie vereinsamen unter dem hohen, weiten Sprung seiner Vorstellung. Erst das Uerketal, das er zu Fuss in etwa zwei Stunden erreicht. Tritt er vor Neudorf aus dem Schatten der Bäume, sieht er nichts als Wald, denn die Täler sind jedes vom nächsten durch einen von Norden nach Süden streichenden blauen Höhenzug getrennt. Im Heimatkundeunterricht hat er sie auswendig gelernt: Suhrental, Ruedertal, Wynental, Seetal, Bünztal, Reusstal und Limmattal. An schönen Abenden färbt sich der Osthimmel schiefergrau, dann möchte der Junge fortgehen unter die herauffahrende Nacht, sich in die Wälder schlagen, so fern und tief, dass niemand ihn mehr finden wird. Er wird Parzivals Rüstung tragen und der Prinzessin im roten Zelt am Bach begegnen; miteinander werden sie nach Osten weiterreiten, nach Russland und Sibirien; in den Namen seiner Städte kracht und birst das Eis: Tomsk, Omsk, Krassnojarsk, Irkutsk, Werchojansk.

Und was ist Norden? Ein Grashang mit Obstbäumen, darin der Blick steckenbleibt. Hebt er die Augen, kommt eine grünlich getünchte Villa in Sicht, dahinter Bäume und Himmel. Norden ist kalt und aussichtslos. Die Deutschen leben dort. Zwar spricht er dieselbe Sprache, doch in Gedanken macht er einen Bogen um ihr Land. Vater und Mutter geben ihnen die Schuld am Krieg. Seine Tante, die bei guten Deutschen gearbeitet hat, fordert Gerechtigkeit für die Unschuldigen und Mutigen, die Frauen und Kinder. Norden ist mit Recht im Hinterkopf. Und reitet der Bub auf Nils Holgerssons Gänserich nach Lappland, dreht er sich um, südwärts, in eine Sonne, die rot und tief über dem Horizont steht.

Ein halbes Jahrhundert später bin ich auch im Norden heimischer geworden und weiss, dass Glück zu haben in Ort und Zeit kein Verdienst ist. Doch die Kardinalrichtung meines Lebens hat sich nicht geändert. Ich erinnere mich an Gespräche meiner Eltern mit Gästen. Von Venedig, Mailand, Ravenna, Pisa und Florenz war die Rede. Diese Städte waren mir wirklich wie Fabriken und Wälder; ihre Schönheit wachte in Büchern und Mappen, unverrückbar. Dorthin gehörte ich. Wenn ich von Florenz südwärts reiste, würde ich nach Rom kommen. In der Sixtinischen Kapelle stellte ein Fresko die Erschaffung des ersten Menschen dar. Ein Tafelwerk über diese Sixtinische Kapelle lag bei den Kunstbüchern im Schrank mit den Glastüren. Und im Hausflur hing das Bild, auf dem aus Gottes ausgestrecktem Zeigefinger der unsichtbare Geistfunke in den Finger des sich im Erwachen aufrichtenden Adam überspringt. Ich habe mit elf nicht mehr an die Schöpfungsgeschichte geglaubt. Und doch sprach das Bild in der Sixtinischen Kapelle die Wahrheit.

Denn es gibt noch zwei weitere Richtungen: oben und unten.

Die Stimme des Atems

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