Читать книгу Pflanzen als Bilder der Seele - Ernst-Michael Kranich - Страница 12
ОглавлениеInnenraum einer Tulpenblüte.
Die Tulpe ist in ihrer ganzen Bildung Ausdruck eines Übergangs. Zum Winter hin hatte sich das Leben in der Knospe konzentriert, d. h. aus dem Zusammenhang des Weltumkreises abgesondert. Dieser Winterzustand bleibt auch dann noch erhalten, wenn Spross und Blüte im Frühling aus ihm hervortreten. Und etwas von dem knospenhaft-verhaltenen Charakter durchzieht die ganze Pflanze bis in die Blüte. So entsteht jene Gebärde, die uns in der Tulpe entgegentritt: das Hinaufstreben zum Licht, zur Ferne.
Dies alles zeigt eine Verwandtschaft zum Krokus. Denn auch der Krokus steht wie am Beginn der Entfaltung. Auch er wendet sich ganz zur Ferne. Nur ist bei ihm alles noch stärker zurückgehalten. Sein Spross ist weitgehend in der Knolle gestaut. Blätter und Blüte kommen schmal aus dem Boden hervor. Und in der Blüte bilden sich nur drei Staubgefäße. Demgegenüber drängt die Pflanzenbildung in der Tulpe mehr nach außen, der Sonne entgegen.
Was die Tulpe charakterisiert, ist ihre so verhaltene Beziehung zur Umgebung, ihr intensives Sich-Hinwenden zur Höhe, das sich in der Blüte gleichsam verinnerlicht – in einer Gebärde, die in der Ferne etwas wie Erfüllung sucht.
Wenn man sich in diese Gesten der Tulpe und die Lebendigkeit der Farben vertieft, empfindet man ein Inneres, Seelenhaftes. Man ist aber nicht in der Lage, es auszusprechen.
Möchte man das, was dem Bewusstsein zunächst verhüllt ist, kennenlernen, dann kann die Nähe der Tulpe zum Krokus einen Weg weisen. Der Krokus ist uns zum Bild der Sehnsucht geworden. Die Sehnsucht lebt in jenem Bereich des Seelischen, in dem sich Fühlen und Wollen durchdringen, sodass im Fühlen ein inneres Wollen oder Drängen wirkt. Zu diesem Bereich gehört auch eine andere Seelenregung, die der Sehnsucht nahe verwandt ist und sich zugleich charakteristisch von ihr unterscheidet. Es ist die Hoffnung. Auch in der Hoffnung wendet sich die Seele einem Zukünftigen zu. Hoffnung entspringt aber nicht dem Erleben des Mangels. Sie weiß um das Unbefriedigende und Unzureichende der Gegenwart; ihre innere Grundstimmung ist aber Zuversicht. So befindet sich die Seele nicht im Zustand schmerzhafter Verengung, wie er uns im Krokus entgegengetreten ist. Zuversicht ist Antrieb, der Zukunft entgegenzugehen. In der Hoffnung lebt ein innerer Lebenswille, der in Erwartung einer besseren Zukunft selbst die Schwere des gegenwärtigen Lebens und Schicksals durchsteht. Wenn aber mit der Zuversicht die Hoffnung erlischt, bricht auch der Lebenswille zusammen. In der Hoffnung lebt durch die positive Hinwendung zur Zukunft eine innere Lebenskraft. Die Sprache drückt den Unterschied zwischen Sehnsucht und Hoffnung durch eine feine Nuancierung aus. Man sehnt sich nach einer Begegnung. Die Seele geht ganz im subjektiven Gefühl eines Verlangens auf, das vielleicht nie seine Erfüllung finden wird. Man hofft auf eine Begegnung. Man bedenkt die Umstände. Es keimt der Schimmer einer Hoffnung, er wird zur Zuversicht. Man wendet sich dem zu, was im Gang der Ereignisse eintreten kann. Es ist der Gedanke, durch den sich die Zukunft lichtet. In der Hoffnung wirken innere Wünsche und inneres Streben, für die es in der Gegenwart keine Erfüllung gibt. So lebt die Seele aus der Kraft der Zuversicht der Zukunft entgegen, um hier zu erlangen, was ihr in der Gegenwart an Erfüllung versagt ist.
Man gewinnt ein deutliches Bewusstsein von der Hoffnung und ihrer Beziehung zur Sehnsucht. Dabei erfasst man, wie diese beiden Gefühle nicht nur eng miteinander verwandt sind, sondern wie sich in der Hoffnung Regungen, die in der Sehnsucht leben, in verwandelter Form äußern. Man kann sich das verdeutlichen, indem man vom Bild der Sehnsucht, dem Krokus, ausgeht. Dadurch, dass sich die Zukunft im Gedanken etwas aufhellt und Zuversicht aufkeimt, löst sich die zusammenziehende Wirkung des Schmerzes, die sich im Bild der Knolle, der engen Blütenröhre und den schmalen Blättern ausdrückt. Indem die Seele mit innerer Lebenskraft sich nun der Zukunft zuwendet, strebt sie dem Licht entgegen. Im Bild manifestiert sich dies in der Streckung der Knolle zum Stängel und in dem Breiterwerden der Blätter. Besonders eindrucksvoll kommt es in dem langen Blütenstiel, dem intensiven Emporstreben der Blüte zum Ausdruck. Die Ungewissheit des sehnenden Verlangens löst sich in der Hoffnung, d. h. in jener Gebärde, die uns in der Tulpenblüte entgegentritt: in dem Sich-Weiten des Innenraumes aus der Zuversicht künftiger Erfüllung, in dem Sich-Hinwenden nach oben zu einem noch Fernen und in den leuchtenden Farben als Ausdruck innerer Gewissheit.
So verwandelt sich das Bild der Sehnsucht in das der Hoffnung. Dabei spricht sich aus, was man zunächst nur unbestimmt in den Gesten der Tulpe empfunden hat. Man erfasst mit voller Klarheit: Die Tulpen, die im Mai, dem Höhepunkt des Frühlings, der Sonne entgegenstreben, sind Bild der Hoffnung. Man deutet die Tulpe nicht allegorisch, man schaut sie in neuer Weise an. Denn man wendet sich ihr im Anschauen mit erwachten Seelenkräften zu, die man im gewöhnlichen Wahrnehmen nicht betätigt. Und es bestätigt sich, was für alle Erweiterung des Bewusstseins gilt: «Wie viel sich von dem, was wirklich ist, einem Wesen offenbart, hängt von dessen Empfänglichkeit ab.»10