Читать книгу Pflanzen als Bilder der Seele - Ernst-Michael Kranich - Страница 15
BUSCHWINDRÖSCHEN UND OSTERGLOCKE
ОглавлениеBei der Begegnung mit einem Menschen erlebt man unmittelbar, dass seine ganze Erscheinung Ausdruck des inneren Wesens ist. Seele und Ich äußern sich in Miene, Geste, Bewegung und Haltung; im Blick und beim Sprechen dringen sie über die Grenze des Leibes in die Umgebung. Der Mensch ist in seiner ganzen Erscheinung lebendige Physiognomie. Auch in der Natur begegnet man einer – allerdings viel verhalteneren – Physiognomie. Sie ist still, intim und schwer verstehbar. Wer die Erscheinungen der Natur nur flüchtig streift, bemerkt sie unter Umständen überhaupt nicht. Sie weist auf tiefere Dimensionen, die dem forschenden Geist des Menschen bisher weitgehend verschlossen geblieben sind. Denn es bedarf einer besonderen Methode, um das, was sich z.B. in den Formen und Farben einzelner Pflanzen physiognomisch äußert, bewusst zu durchdringen. Davon war in den vorangehenden Betrachtungen die Rede.
Mit dem gewöhnlichen Bewusstsein erfasst man im Anschauen der Dinge durch Vorstellungen ihre Gestalt; man lernt die Außenseite der Natur kennen. Viele halten diese Außenseite schon für die ganze Natur. Sie ist aber nur das, was aus dem Leben der Natur bereits in Formen geronnen ist. In das lebendige Werden der Natur dringt man ein, wenn man wie Goethe die Formen der Pflanzen innerlich nachbildet, d. h. von einem registrierenden Betrachten zu einem gestaltenden Anschauen übergeht. Im «lebendigen Anschauen der Natur» (Goethe) findet man ihre inneren Bildegesetze. Das führt aber noch nicht zur physiognomischen bzw. imaginativen Naturerkenntnis. So bedeutend auch sein mag, was sich der goetheanistischen Methode an Einsicht in die Lebensgesetze der schaffenden Natur erschließt, die Dimension des Physiognomischen erreicht sie nicht. Dies verlangt eine neue Form des Erkennens. Was man als seelenhaften Ausdruck in den Formen und Farben einer Pflanze unbestimmt empfindet, kann man bewusst nur erfassen, wenn man, wie wir das in den vorangehenden Betrachtungen gesehen haben, das eigene Seelenleben aufhellt. Physiognomische Naturerkenntnis ist immer an Selbsterkenntnis gebunden. Wenn man die Regungen der eigenen Seele durch denkende Selbstbeobachtung bewusst durchlebt, entstehen innere Anschauungen. Diese sind das Organ für physiognomisches Naturerkennen. Nur dem, der z.B. die Sehnsucht und die Hoffnung in ihren inneren Seelengebärden kennengelernt hat, können sich Krokus und Tulpe als Bilder der Sehnsucht und der Hoffnung offenbaren.
Es gibt nun zwei Wege, auf denen sich eine physiognomisch-imaginative Erkenntnis der Pflanzenwelt entfalten kann. Der eine geht von der Selbsterkenntnis aus. Man durchdringt zunächst die verschiedenen Bereiche der eigenen Seele und wendet sich dann mit den erarbeiteten inneren Anschauungen der Pflanzenwelt zu. Bei diesem Vorgehen ergibt sich die Systematik aus der Gesetzmäßigkeit der menschlichen Seele und ihrer Gliederung in die verschiedenen Regionen, die sich vom Vorstellen und Denken über die Bereiche des Fühlens und der Affekte bis zu willenshaften Regungen erstrecken. Der andere Weg folgt dem Gang der Natur, d. h. der zeitlichen Entfaltung der Pflanzenwelt im Laufe eines Jahres vom Vorfrühling bis zum Spätherbst. Man beginnt mit der Betrachtung einzelner Pflanzen und versucht dann, ihren physiognomischen Ausdruck aufzuhellen. Der erste Weg ist strenger, in mancher Hinsicht auch überschaubarer, der zweite schließt an das Naturerleben an und liegt den meisten Menschen näher. Wir haben ihn deshalb schon bei unserer ersten Betrachtung eingeschlagen und wollen nun auf ihm fortschreiten und uns zwei Pflanzen, die im März und April blühen, zuwenden. Die eine, das Weiße Buschwindröschen (Anemone nemorosa) wächst in unseren Laubwäldern; die andere, die Osterglocke (Narcissus pseudonarcissus) in den Gärten; in der Natur findet man sie auf Wiesen in den Vogesen, im Hunsrück und in den westlichen Alpen. Sie ist eine Pflanze des westeuropäischen Raumes.
Im Sommer bildet der Wald gegenüber der offenen Landschaft einen eigenen Raum. Das Licht dringt durch das reiche Blätterwerk nur gedämpft in das Innere. Dort herrscht eine geheimnisvolle Dämmerung. Die Luft ist immer etwas feucht, die Temperatur ausgeglichener als auf den Wiesen und Feldern. Am Boden wachsen nur wenige Kräuter und Gräser. Die Lebensprozesse spielen sich vor allem in der geschlossenen Kronenregion der Bäume ab.
Im Frühling hat der Wald einen ganz anderen Charakter. Die Knospen der Bäume sind noch geschlossen. Das Licht der Frühlingssonne dringt bis zum Boden, vielfach gebrochen durch das Gitterwerk der Äste und Zweige. Der Raum ist nach oben offen. Am Boden entfaltet sich eine reiche Vegetation mit Gelbstern, Scilla, Lungenkraut, goldgelbem Hahnenfuß, Einbeere, Aronstab und manch anderer Pflanzenart. Dort, wo das Licht der Sonne stärker zum Boden hinunterdringt, findet man die grünen Teppiche des Buschwindröschens mit seinen weißen, bisweilen rötlichen Blütensternen.