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SCHNEEGLÖCKCHEN UND KROKUS

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Wir können aus dem weiten Reich der Blütenpflanzen nur wenige Pflanzen betrachten. Dabei wollen wir dem Leben der Natur, d. h. dem Jahreslauf mit dem Wandel seiner Formen, folgen und mit dem zeitigen Frühjahr beginnen.

In dieser Zeit, in der die Sonne die noch feuchte und kühle Natur mit ihrem Licht von Tag zu Tag stärker erfüllt, blühen Kräuter, die das Gemüt besonders innig berühren: das Schneeglöckchen, der Märzenbecher, der Krokus, der Gelbstern, die Scilla, der Huflattich. Bei aller Verschiedenheit ihrer Formen ist diesen Pflanzen eines gemeinsam. In ihnen erreicht das Pflanzenwesen einen nur geringen Grad der Entfaltung. Am deutlichsten ist das bei den Zwiebelpflanzen. Bei ihnen wird der knospenhafte Winterzustand, die Zwiebel, nie völlig überwunden. Aus ihm entfalten sich einfache, schmale Blätter. Es sprießt noch kein Stängel empor, der die Blätter sich frei im Luftraum entfalten ließe. Nur der Blütentrieb dringt mit einer oder wenigen Blüten hervor. Die Pflanzenbildung ist ganz verhalten. Das Leben der Natur «erwacht», es vereinigt sich anfänglich mit den Kräften der Umgebung, mit der Luft und dem Licht. – Im ästhetischen Anschauen leben Ahnungen von der Intimität dieses gleichsam kindhaft reinen Lebens auf.

Diese Beobachtungen können zum Anlass werden, im eigenen Innern solche Vorgänge und Regungen zu betrachten, in denen sich das Leben der Seele in ähnlicher Weise anfänglich der Welt zuwendet, z. B. das Erwachen und das Sehnen. – Wenn man so von der Natur zu inneren Vorgängen der Seele übergeht, lässt man sich von einer Analogie leiten. Nimmt man diese aber nur als Hinweis auf eine mögliche Beziehung und prüft, ob sie auch wirklich besteht, dann kommt man nicht in jenes fragwürdige Gebiet, in dem vages Vermuten für Erkenntnis ausgegeben wird. Will man in das noch weitgehend unerschlossene Gebiet des Zusammenhangs von Mensch und Pflanzenwelt bewusst eindringen, dann sollte man beherzigen, was Rudolf Steiner von einem solchen Bestreben gesagt hat: «Nicht flüchtig, sondern ernst und auf Schritt und Tritt müssen wir solche Dinge zu verfolgen suchen.»7

Sehnen und Sehnsucht sind Regungen, die aus den innersten Bezirken der Seele aufsteigen. Sie sind intimer als Wünsche oder gar Begierden. Philipp Lersch, einer der bedeutenden Psychologen des 20. Jahrhunderts, schreibt: «Sehnsucht ist … nichts anderes als eine besondere Erscheinungsform der Liebe zu etwas. Sie entsteht immer dann, wenn der Gegenstand der Liebe in der Gegenwart entrückt ist.» Sehnsucht geht zu dem, was dem eigenen Innern besonders nahesteht, aber unerreichbar ist. Deshalb ist «Sehnsucht … hinweggerichtet über das Hier und Jetzt und lässt es in den Schatten der Bedeutungslosigkeit versinken.»8 Sie ist inneres Verlangen nach dem Fernen. Zu ihm fühlt sich die Seele hingezogen.

So sind zwei Erlebnisse mit dem Sehnen verbunden. Zum einen das der inneren Einsamkeit; denn das, womit man verbunden sein möchte, ist nicht da. Und aus dem Erlebnis des Mangels entspringt zum anderen das Gefühl eines feinen inneren Schmerzes. Dieser durchsetzt das sehnende Sich-hingezogen-Fühlen. Im Schmerz zieht sich die Seele immer zusammen. So wird das innere Sich-hingezogen-Fühlen eng. Beide Erlebnisse klingen in der Sehnsucht zusammen. In der Einsamkeit ist die Seele auf ihr eigenes Inneres konzentriert; aus diesem erhebt sich ein von Schmerz verengtes Verlangen, das sich zur Ferne hingezogen fühlt.


Seelengebärde der Sehnsucht.

Wendet man die Aufmerksamkeit genauso wach dem eigenen Innern zu wie sonst den Dingen der Außenwelt, dann bemerkt man: Sehnsucht ist innere Bewegung, und zwar Bewegung in der Art einer inneren Gebärde. Man kann sie in einer Form wiedergeben. In dieser kommt zunächst das sich von der Umgebung absondernde einsame Eigensein zum Ausdruck, in dem die Seele in sich zentriert ist; hier entspringt das enge Verlangen, das sich mit dem Fernen sehnlichst vereinigen möchte. Eine solche Form ist nicht als starre Figur, sondern dynamisch aufzufassen. Sie ist ein Bild innerer Bewegung, an dem im Anschauen die Identität mit der Gebärde der Sehnsucht erlebt werden kann.

Dem Sehnen ist das beginnende Erwachen ähnlich. Auch bei ihm möchte sich das Innere mit dem Äußeren verbinden, erreicht es aber noch nicht. Beginnendes Erwachen ist jener Zwischenzustand, den Michelangelo in der Gestalt des Morgens in der Medici-Kapelle dargestellt hat. Die Seele zieht gerade in den Leib ein. Es kommt zu ersten Bewegungen. Der Kopf wird noch kaum gehoben, die Augen öffnen sich, der Blick dringt aber noch nicht in die Welt hinaus. Die Seele ist aus dem Ozean des bewusstlosen Schlafes aufgetaucht, sie hat das Zwischenreich des Traumes schon weitgehend durchschritten. Die Bilderwelt des Traumes verglimmt noch nicht ganz, während das Tagesbewusstsein am Seelenhorizont kaum dämmert. Noch während des Träumens beginnt ein anderes Erleben: ein inneres Sich-Weiten und Sich-Öffnen zur Welt des Tages, bevor das Bewusstsein diese betritt.

So lernt man auch das Erwachen als Bewegung der Seele kennen. Auch sie kann man in ihren inneren Gesten schildern: Aus der abgesonderten Sphäre des Inneren beginnt sich das innere Leben nach außen zu entfalten, verbindet sich aber noch nicht mit der äußeren Welt; es weitet sich, während in der Tiefe des Innenraumes die Sphäre des Traumes noch nicht abgeklungen ist.

Wendet man sich mit dem, was man so in der eigenen Seele kennenlernt, den Pflanzen des Vorfrühlings zu, dann kommt man zu einer überraschenden Erfahrung. Es ist, wie wenn man dem, was man in sich erfasst hat, nun auch äußerlich begegnete. Die Formen und Gebärden des Schneeglöckchens, jenes ersten Frühlingsboten, der schon im Februar aus dem Dunkel der Erde hervordringt, beginnen zu sprechen. Man findet in ihnen wieder, was in der eigenen Seele der Beginn des Erwachens ist. Aus der abgeschlossenen Eigensphäre der Zwiebel wächst ein eigenartiger Trieb hervor. Er ist vom bleichen, schwach ergrünenden Scheidenblatt umhüllt, in dem sich die absondernde Gebärde der Zwiebel fortsetzt. Aus dieser Hülle kommen zwei schmale Blätter hervor, die unten in der Zwiebel entspringen und sich oben nur wenig in die Umgebung entfalten, so, wie wenn sie das Licht und die Atmosphäre nur berühren würden. Zwischen ihnen steigt ein Blütentrieb aus der Tiefe empor. An seiner Spitze umhüllen zwei Hochblätter wie eine Knospe die Blüte. Und wie unten Blätter und Blütentrieb in der Zwiebel entspringen, so kommt auch oben die Blüte aus einem Innern hervor. Sie wendet sich nach unten als Ausdruck eines nach innen gerichteten Daseins. Dieses weitet sich durch die drei äußeren Blütenblätter. In ihm erscheint dann eine enge geheimnisvolle Sphäre aus den drei kleineren Blütenblättern. Sie sind in ihrer Form verhalten und haben ein eigenes Leben, das sich in der grünlichen Färbung ausspricht. – Oft ist die Erde noch gegenüber der Umgebung durch eine dünne Schneedecke abgesondert, wenn die Schneeglöckchen im Garten, in Parkanlagen und in den noch kahlen Laubwäldern blühen (s. Farbabb. 1).

Schaut man nicht nur mit dem Gegenstandsbewusstsein in die Natur, sondern auch mit dem aufgehellten Seelenleben, dann erfasst man in der Gestalt und Entfaltungsgebärde des Schneeglöckchens den Ausdruck des beginnenden Erwachens. Was für den Menschen inneres Seelenerleben ist, manifestiert sich auch in der Natur, im Gewande des stofflichen Lebens. Wenn ein geistig oder seelisch Wesenhaftes in einem vergänglichen Medium erscheint, dann bezeichnet man diese Offenbarung als Bild. Insofern ist das Schneeglöckchen Bild jenes Zwischenzustandes zwischen Traum und Wachen.

Man findet im zeitigen Frühling eine andere Pflanze, die in ihren Formen und ihrer Zartheit der Seelengebärde des Sehnens entspricht. Es ist der Krokus, der im März und April, selten schon im Februar, in den Gärten und auf den Wiesen der Voralpen und Alpen blüht. Eine bleiche Hülle aus Scheidenblättern kommt aus dem dunklen Erdreich hervor. Sie umschließt eine lange, enge Blütenröhre, die sich mit sechs Blütenblättern weitet und nach oben wendet. Wie sich die Seele aus der Tiefe des Herzens in innerem Verlangen nach dem Fernen sehnt, so steigen die Krokusblüten aus dem Dunkel der kühlen, feuchten Erde zum Licht empor. Ist der Himmel wolkenlos und die Luft milde, dann öffnen sich die Blüten etwas stärker – wie wenn sie sich mit der noch schwach wirkenden, gleichsam fernen Sonne vereinigen wollten. Auch die Blätter zeigen das enge Emporstreben, welches für das Sehnen charakteristisch ist. Gräbt man eine Krokuspflanze aus, dann findet man im Boden eine Verdickung. Es ist keine Zwiebel wie beim Schneeglöckchen, sondern eine Knolle. Genau betrachtet sind es zwei Knollen übereinander, unten eine alte und über ihr eine junge, die sich in jedem Jahr neu bildet. In dieser Knolle ist der Stängel angeschwollen. Seine Kräfte haben sich in sich konzentriert. So bleibt der Blütenstiel kurz und der Fruchtknoten beim Blühen unter der Erdoberfläche. Dies alles ist eine Geste, die dem einsamen In-sich-Sein entspricht.

Pflanzen als Bilder der Seele

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