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Der Scheinquirl des Weißen Buschwindröschens mit der Folge seiner Blätter (aus Troll, a.a.O.).

Die Gestalt des Weißen Buschwindröschens ist recht ungewöhnlich. An seinem Stängel entspringen drei Blätter dicht gedrängt nahezu auf gleicher Höhe und bilden einen Scheinquirl. Sonst entsteht an der Pflanze jedes Blatt für sich am Stängel, eines immer nach dem anderen. Beim Buschwindröschen ist dieses aufwärtsstrebende Sprießen gehemmt. Man kann an dem Quirl deutlich ein erstes, zweites und drittes Blatt unterscheiden, vor allem auch durch eine schwache Metamorphose in der Folge der schön geteilten Blätter. In ihrer Mitte entspringt der zarte Stiel, der die Blüte über den blattartigen «Kelch» hinaus der Sonne entgegenträgt. An hellen, warmen Frühlingstagen wendet sich die Blüte weit geöffnet der Sonne zu. Offene Hinwendung zum Licht tritt uns im Kreis der drei Blätter entgegen und auf höherer Ebene noch einmal in den sechs zarten Blättern in der Blütenkrone. Dieser Charakter der Zuwendung zeigt sich auch in den zahlreichen zarten Staubgefäßen und der lockeren Anordnung der Fruchtblätter im Zentrum der Blüte (s. Farbabb. 4).

Wenn man ein Buschwindröschen ausgräbt, findet man im Boden einen horizontalen, bräunlichen Erdspross, aus dem eine Anzahl von Wurzeln entspringt. Er ist meist kürzer als der der Einbeere, des Maiglöckchens und des Salomonsiegels. Dieser Erdspross (Rhizom) entspricht dem Stängel eines Hahnenfußes oder einer Nelke. Jene Bildung, die sonst zur Sonne hinwächst, ist beim Buschwindröschen an das dunkle Erdreich gefesselt. Die Wurzeln bilden sich unter dem Einfluss der Gravitation. So ist der Spross durch eine übermäßig starke Wirkung der irdischen Schwere in den Boden gebannt. Im zeitigen Frühjahr ist die Macht der Sonne im Leben der Natur noch nicht sehr stark; deshalb dominieren die irdischen Kräfte gegenüber den kosmischen. Von Jahr zu Jahr wächst der Erdspross etwas weiter. An seinem Ende stirbt er ab. An der Spitze entspringt im zeitigen Frühling jener Trieb, in dem sich das Buschwindröschen aus den Wirkungen der Erde löst und der Welt des Lichtes zuwendet. Indem es in den Raum des Lichtes empordringt, stockt das Sprießen. So bleibt das Buschwindröschen in seiner Bildung, wenn es die Sphäre des Lichtes berührt, gleichsam stehen. Es entsteht die Gebärde offener Hinwendung zum Licht.

Je genauer man das Buschwindröschen betrachtet, desto deutlicher erlebt man den rätselvollen physiognomischen Charakter seiner Gestalt. Was spricht sich in dem Scheinquirl der drei Blätter und seiner so offenen Gebärde aus? Was in der innigen Hinwendung der weißen Blüte zur Sonne? Um diese Fragen zu beantworten, muss man bestimmte Erlebnisse der eigenen Seele bewusst durchdringen und zum Organ des Anschauens machen.

Wenn man etwas erlebt, was zu der eigenen Erwartung im Widerspruch steht oder über die bisherige Erfahrung hinausgeht, kommt es zu Überraschung und Erstaunen. In der Überraschung fühlt sich der Mensch von dem Eindruck wie überwältigt. Dieser trifft ihn unvorbereitet. Sonst antwortet die Seele auf das, was sie erfährt, mit Sympathie oder Antipathie, Freude oder Ärger, Begeisterung oder Ablehnung. Gefühle strömen zu den Dingen hin. In der Überraschung stockt aber diese Bewegung der Seele, auch im Erstaunen. Man bleibt wie betroffen vor dem Eindruck stehen.

Im Erstaunen lebt eine tiefere Seelenregion als in der Überraschung auf. Man erstaunt über das Ungewöhnliche, so etwa über die Geduld eines Menschen, die man noch nicht an ihm kennt; über die Größe eines Baumes, welche die aller anderen Bäume übertrifft; über die Geschicklichkeit eines Tieres, den Glanz eines Steines. Man ist überrascht und öffnet sich weit, um das Neue intensiv aufzufassen. Die von der Seele ausgehenden Strömungen kommen zur Ruhe; es schweigt auch alles Wünschen und Begehren. Die Seele lebt in offener, reiner Zuwendung.

Lernt man in der Selbstbeobachtung die Seelengebärde des Erstaunens kennen, dann werden die Form des Buschwindröschens und das reine Weiß seiner Blüte verständlich. Der bisher unbestimmte physiognomische Eindruck lichtet sich auf. Man findet in ihm eine äußere Manifestation dessen, was man in der eigenen Seele als das Erstaunen erkannt hat. – Überall wo im Frühling Buschwindröschen blühen, erscheint in der Natur das Bild des Erstaunens.

Wenn man nun ein Buschwindröschen betrachtet, gewinnt man zu ihm eine neue Beziehung. Bisher hat man es von außen angeschaut. Nun lebt man mit der eigenen Seele seine Formen und Farben innerlich mit. Man taucht mit dem eigenen, bewusst gewordenen Erstaunen in das Buschwindröschen ein. Dabei modifiziert sich das Erleben etwas. Man erfasst: Das Buschwindröschen ist das Bild eines kindlichen Erstaunens.

Pflanzen als Bilder der Seele

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