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Gegenüber der verhaltenen Form des Weißen Buschwindröschens ist die Osterglocke eine besonders eindrucksvolle Erscheinung unter den Frühlingspflanzen. Sie blüht im vollen Licht der Frühlingssonne auf den noch feuchten Wiesen, vor allem aber dort, wo die Macht des Lichtes besonders groß ist – auf Anhöhen, Hügeln und Bergwiesen. Sie stellt sich dort in die Schönheit der Natur hinein und steigert sie durch das leuchtende Gelb ihrer Blüten.

Wie viele der einkeimblättrigen Pflanzen hat die Osterglocke eine Zwiebel. Wie bei der Tulpe bleibt der knospenhafte Zustand des Winters bestehen, wenn die Blätter und der Blütentrieb in den Raum des Lichtes emporstreben. Unten sind sie von einer scheidenartigen Hülle umschlossen. Dann wachsen die drei oder vier Blätter intensiv dem Licht entgegen. In ihrer Mitte dringt der Blütenstiel nach oben. An seiner Spitze umschließt ein zartes Blatt die Blütenknospe. Diese bricht dann aus der Hülle hervor, wendet sich zur Seite und entfaltet ihre leuchtende Gestalt.

Die Blüte der Osterglocke ist eine der rätselvollsten Blütenformen überhaupt. Der Innenraum weitet sich gleich am Grund und geht in den offenen Kreis der sechs Blütenblätter über. Er setzt sich aber in der eigenartigen glockenförmigen Nebenkrone fort, die sich dem morphologischen Verständnis nur schwer erschließt. So dringt er weit über die Blütenkrone hinaus. Wie die Blätter zur Sonne hinaufstreben, wendet sich die Blüte zur sonnenerfüllten Weite. Zwei Gesten sind in ihrer Form vereinigt: offene Zuwendung zur Umgebung in der Blütenkrone und tiefe innere Hingabe an die Umgebung (s. Farbabb. 5 und 6).

In der Geste der Zuwendung ist die Osterglocke dem Buschwindröschen ähnlich. Die Zuwendung ist aber durch die Gebärde der Hingabe modifiziert. Nun lernt man in der Seele ein Gefühl kennen, das dem Erstaunen verwandt ist, in dem das Erstaunen aber eine starke Verinnerlichung erfahren hat. Das ist das Bewundern. Dieses Gefühl gehört zu den tiefsten Regungen der menschlichen Seele. Es entsteht, wenn die Natur im Glanz der Schönheit erstrahlt und wenn man die Erhabenheit der Natur erlebt. Oder man bewundert die moralische Größe eines Menschen, bedeutende Werke der Kunst, die Gedankentiefe und geistige Klarheit des Denkers. In der Bewunderung öffnet sich die Seele immer einem Geistigen, das ihr unmittelbar oder durch äußere Erscheinungen entgegentritt.


Längsschnitt durch die Blüte einer Osterglocke.

Wie ist aber die innere Seelengebärde des Bewunderns? Die Seele wendet sich dem, was sie bewundert, offen und rückhaltlos zu. Unter dem Eindruck des Großen und Bedeutenden sind ihre Tore weit geöffnet. Aus der Tiefe kommt ein Verlangen, sich an das hinzugeben, was man erlebt. Die Seele möchte dies in ihr Inneres aufnehmen und mit ihrem eigenen Dasein vereinigen. Das Innere strömt dem Schönen und Erhabenen entgegen, um sich mit ihm zu erfüllen.

Wenn man mit dieser Anschauung die Osterglocke betrachtet, wird ihre Physiognomie verständlich. Sie offenbart sich als Bild des Bewunderns. Am deutlichsten erfasst man den Ausdruck des Bewunderns in der Form der Blüte, auch in ihrem leuchtenden Gelb. Dieses ist in der Nebenkrone intensiver als im Kreis der Blütenblätter, d. h. dort, wo die Seelenkraft innerlicher wirkt. Man findet die Geste des Bewunderns aber auch in der Art, wie Blätter und Blütentrieb aus dem Innenraum der Zwiebel der Sonne entgegenwachsen.

In der physiognomisch-imaginativen Betrachtung lernt man den Naturzusammenhang tiefer verstehen. Indem man nun auch die Osterglocke in ihren Formen und Farben mit der eigenen Seele bewusst durchdringt, erfasst man, wie Bewunderung gerade dann in der Natur auftaucht, wenn sie wie im Frühling besonders schön ist.

Das Leben der Natur und das, was sich in ihm seelenhaft offenbart, stehen offensichtlich in einem inneren Zusammenhang. Im Schneeglöckchen, das als eine der ersten Pflanzen blüht, wenn die Sonne die Erstarrung und Ruhe des Winters zu überwinden anfängt, tritt das Bild des beginnenden Erwachens in der Natur auf. Bald danach erscheint im Krokus das Bild des Sehnens, d. h. jener Regung, die sich einer zukünftigen Erfüllung zuwendet. Wenn dann etwas später die Kraft der Sonne am intensivsten zunimmt und das Leben der Erde sich wieder neu mit der Sonne verbindet, erscheint im Buschwindröschen die Physiognomie des Erstaunens und im vollen Licht der Frühlingssonne, in der Osterglocke, die des Bewunderns. Und wenn der Frühling im Mai seinen Höhepunkt erreicht, leuchtet uns, wie wir in dem vorangehenden Kapitel gesehen haben, in den Tulpen das Bild der Hoffnung entgegen. Das sind Schritte auf einem Wege, auf dem sich in einer sich wandelnden Physiognomie Seelenregungen offenbaren, in denen sich Inneres immer stärker nach außen wendet.

Pflanzen als Bilder der Seele

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