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Vergänglichkeit und Erinnerung

Wenn das Erlebnis der Kirchtürme von Martinville den Weg von der künstlerischen Erregung zu ihrer Gestaltung im Ausdruck vorführt, so bezeichnet die Begegnung mit den drei Bäumen den Fall, wo die Klärung und Fixierung des Erlebens an inneren oder äußeren Hindernissen scheitert. Wer das Leben des Künstlers erlebt (und wir müssen hier dem Wort »Künstler« den weitesten Sinn geben – den des schöpferischen Menschen, der unter der Notwendigkeit steht, die ihm zuströmenden Intuitionen erkennend zu gestalten), dessen Dasein ist beherrscht von der immer neu auftauchenden Frage, ob es ihm gelingen wird, die noch schwankenden, nur im Gefühl ergriffenen Gehalte seiner Erfahrung ins Feste zu bannen, in der Form einzufangen, im Ausdruck zu verewigen – oder ob sie ihm wieder entschwinden. Er wird den Wert der Tage und der Jahre danach bemessen, wie viel er in die Dauer hinüberzuretten vermochte. Sein Dasein wird ein aufreibendes und doch beglückendes, lebenslängliches Drama sein, ein Ringen um Bewahrung aller erhöhten Augenblicke, ein Kampf gegen das Vergessen und Verlieren all der Ahnungen und Erkenntnisse, die eine glückliche Stunde tief gelebten Daseins uns anbietet. Für den modernen Menschen sind ja diese Geschenke des eigenen Lebensgrundes das Einzige, das unbezweifelbare Wirklichkeit und eine nicht erborgte Autorität besitzt. Nur auf sie kann er bauen, wenn er den Sinn des Lebens enträtseln möchte. Nur durch sie ist er mit dem Urgrunde des Seins unmittelbar und in einer keinem anderen gegebenen Weise verbunden.

Aber diese Erkenntnis ist selbst erst eine Frucht der Erfahrung. Wir finden das Gesetz unseres Wesens erst, wenn das dumpfe, keimhafte Drängen der Jugend verbraust ist. In der Jugend waren wir reich und wussten nicht um unseren Reichtum. Im Mannesalter sind wir wissend und arm. Was uns dann gelingt als Aussage und Formung, ist immer nur durch ein Zurückgreifen auf die frühen Schichten unseres Erlebens gewonnen. »Genie«, sagt Baudelaire, »ist nichts als die nach Belieben wiedergefundene Kindheit.« Etwas Unvorhersehbares, ein Lufthauch, eine Begegnung, ein flüchtiger Sinneseindruck weckt einen Bezirk unseres vergangenen Lebens auf, hebt einen Teil unserer versunkenen Schätze ans Licht – und dann vermag die geschärfte und verfeinerte Energie unseres Geistes in einer schmerzhaften Anspannung einen Teil des schon gelebten und längst entschwundenen Lebens festzuhalten. Jeder von uns macht in irgendeiner Form diese Erfahrung. Sie ist der Schlüssel der Proust’schen Kunst. Für Proust ist sie nicht eine Erfahrung neben anderen, sie ist für ihn beherrschend und allumfassend. Von ihr aus deutet sich ihm das Leben, aus ihr quillt seine Kunst. Die Intensität und Anschaulichkeit, mit der Proust diese bestimmende Grunderfahrung schildert, ist wahrscheinlich die letzte Ursache des geheimnisvollen Zaubers, mit dem uns sein Werk umfängt. Wir verstehen jetzt, warum dieses Werk den Gesamttitel trägt: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Musen sind die Töchter der Mnemosyne, und die künstlerische Inspiration Prousts kommt aus der Sehnsucht nach Wiederbringung und Vergegenwärtigung des eigenen Lebensgehaltes.

Prousts Kunst ist ein Werk der Erinnerung. Es stellt sich, von dieser Seite gesehen, neben ein anderes Hauptwerk des modernen französischen Geistes, neben Bergsons Materie und Gedächtnis. Prousts Schaffen ruht auf der Unterscheidung zweier Formen des Gedächtnisses: der vom Willen gelenkten mémoire, die nur totes Tatsachenmaterial registriert, und des spontanen, der bewussten Anstrengung unzugänglichen souvenir, welches den Gefühlston des Erlebens in ursprünglicher Frische reproduziert. Nie wird die Wesensverschiedenheit jener beiden Gedächtnisarten so bewusst wie bei dem Versuch, verschüttete Inhalte früherer Lebensepochen wieder ins Bewusstsein zu ziehen, der die allgemeine Voraussetzung für Prousts Schaffen ist. »Es geschieht nur, wenn bestimmte Perioden unseres Lebens endgültig verschlossen sind, wenn es uns – selbst in den Stunden, wo die Kraft und die Freiheit dazu uns gegeben scheinen – verboten ist, die Türen zu ihnen auch nur spaltweise zu öffnen, es geschieht, wenn wir unfähig sind, uns auch nur für einen Augenblick in den Zustand zurückzuversetzen, in dem wir uns doch so lange befunden haben, nur dann also geschieht es, dass wir uns dagegen wehren, dass diese Dinge vollkommen verloren sind. Wir können sie nicht mehr singen, weil wir uns über die weise Warnung Goethes hinweggesetzt haben, Poesie liege nur in den Dingen, die man noch fühlt. Aber da wir die Flammen der Vergangenheit nicht mehr entfachen können, wollen wir zumindest ihre Asche aufsammeln. Mangels einer Möglichkeit der Wiedererweckung, zu der wir mit der vereisten Erinnerung, die wir von jenen Dingen zurückbehalten haben, nicht mehr die Kraft besitzen – der Erinnerung an die Fakten, die uns sagt, ›so und so warst du‹, uns aber nicht gestattet, wieder so zu sein, die uns die Wirklichkeit eines verlorenen Paradieses beweist, anstatt es uns in der Erinnerung wiederzuschenken – wollen wir die Vergangenheit zumindest beschreiben und ihre Struktur zusammensetzen.«

Nach altkeltischem Glauben wandern die Seelen der Verstorbenen in Tiere, Pflanzen, leblose Dinge und bleiben dort verhaftet, bis wir an einem Tage, der für viele niemals kommt, durch Zufall auf den Baum treffen oder in den Besitz des Dinges gelangen, das ihr Gefängnis darstellt. Dann dringt ein zitternder Ruf zu uns, und wenn wir ihn verstehen, ist der Zauber gebrochen. Die Seelen werden durch uns befreit, sie haben den Tod überwunden und leben nun mit uns weiter. Proust sieht in dieser Vorstellung des mythischen Denkens ein Gleichnis für das Verhältnis der Seele zu ihrer eigenen Vergangenheit. Diese Vergangenheit wohnt nicht mehr in der Seele, sondern in irgendeinem Gegenstand der Körperwelt, den wir nicht ahnen. Es hängt vom Zufall ab, ob wir diesen Gegenstand antreffen, ehe wir sterben, oder ob wir ihn verfehlen. Das Geheimnis der Dinge umgibt uns und birgt einen Reichtum, den wir nicht kennen und der uns doch gehört. Irgendeine der unbekannten Begegnungen, die unser warten, kann eine Leuchtwirkung auslösen, die einen Bezirk des Vergessenen bestrahlt und uns eine längst entschwundene Erregung unseres Lebens zurückgibt. Danken wir dem Vergessen! Es bewahrt für uns in duftiger Frische Gefühle auf, die wir verloren glaubten und mit denen Jugend und Liebe zurückkehren. Ein feuchter Windhauch, der Duft eines ersten Kaminfeuers, ein Spiel der Atmosphäre – das sind die Boten, die unser vergangenes Ich zurückbringen, »die letzte Zuflucht der Vergangenheit, die beste, die uns, wenn alle Tränen versiegt scheinen, noch zum Weinen bringen kann«.

Marcel Proust

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