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Die Musik

Besonders deutlich werden diese Gesetze des künstlerischen Schaffens in der Musik. Sie hat in Prousts Werk eine grundlegende Bedeutung. Damit meine ich nicht nur dies, dass viel von Musik gesprochen wird oder dass Stimmungsnuancen durch musikalische Vergleiche festgehalten werden. Es handelt sich um Tieferes. Wie für Paul Valéry die Architektur, so ist für Proust die Musik die Sphäre, in der sich das Wesen des Geistes am reinsten offenbart. Sie ist ein Ausdruckssystem, auf welches er immer zurückgreift, um seine Deutung des Lebens zu präzisieren. Die Musik ist in Prousts Werk wie der Mikrokosmos im Makrokosmos – oder wie jener Spiegel auf dem Londoner van Eyck, in dem sich der ganze Bildinhalt mikroskopisch noch einmal darstellt. Proust hat sich, wenn man so sagen darf, für sein Werk seine eigene Musik geschrieben: es ist die Violinsonate und das Septett von Vinteuil. Vinteuils Melodien haben für Prousts Welt fast dieselbe Bedeutung wie die Menschen, die in dieser auftreten. Ja, sind sie nicht selbst Wesen mit einer eigenen abgelösten Existenz, wie Menschen und Geister? Swann wenigstens glaubt es, und Proust bestätigt es ihm: »Swann hatte nicht unrecht, wenn er glaubte, die Phrase aus der Sonate existiere tatsächlich.« Dieses eine Thema der Sonate, das auf Swann so tiefen Eindruck macht, gehörte, so sagt uns der Dichter, einer Ordnung von übernatürlichen Geschöpfen an, die wir zwar nie gesehen haben, die wir aber wiedererkennen – mit Entzücken wiedererkennen, wenn ein Erforscher des Unsichtbaren sie für einen kurzen Augenblick aus der göttlichen Welt, zu der er sich den Weg gebahnt hat, herunterholt und vor uns aufleuchten lässt. Denn das ist die Tat des Musikers. Es gibt einen idealen Ort, in dem die musikalischen Formen wohnen. Der Musiker beschwört sie hinunter in unsere Welt, zeichnet sie mit zarter Hand nach und macht sie durch einen Klangkörper sichtbar. Er bildet ein Daseiendes ab, das darum nicht weniger wirklich ist, weil es in einer uns fremden Sphäre der Wirklichkeit beheimatet ist, weil es der Ebene des geistigen Seins angehört. Vinteuils Musik führt den Hörer in ein neues Weltall ein: »Vinteuils Musik breitete Note für Note, Ton für Ton die nie gesehenen Nuancen eines unauslotbaren, ungeahnten Universums aus, welches von den Lücken, die sich zwischen den einzelnen Aufführungen seines Werks auftaten, in Einzelteile zerbrochen wurde.« Die Sonate und das Septett sind aus denselben Elementen gemacht, so verschieden auch Aufbau und Stimmung der beiden Werke ist: »Und doch war es, mochte die eine auch so still und scheu sein, fast wie unbeteiligt und philosophisch, die andere so drängend, ängstlich, flehend, ein und dasselbe Gebet, zu unterschiedlichen inneren Sonnenaufgängen aufleuchtend und lediglich vom Prisma unterschiedlicher begleitender Gedankenströme, fortschreitender künstlerischer Versuche gebrochen. … Ein Gebet, eine Hoffnung, die in ihrem Grunde dieselbe und unter ihren Verkleidungen in verschiedenen Werken Vinteuils immer wiedererkennbar, andererseits aber ausschließlich im Werk Vinteuils zu finden war.«

Jeder große Künstler erscheint so als »der Bürger eines unbekannten Vaterlandes«. Seine Entwicklung besteht darin, dass er das Bild dieser verlorenen Heimat immer reiner und inniger erschaut; dass er sie in seinem Werk immer treuer nachbildet; dass er den Ruhm verachtet, um sich nur auf diese innere Welt abzustimmen. Er wird es verschmähen, Lücken seiner künstlerischen Vision oder ein Versagen seiner Hand durch Zutaten aus eigener Erfindung zu verschleiern – Fremdkörper, die der Kundige verspüren würde wie sinnlose Silben, die den Zusammenhang eines Satzes zerreißen. Jedes Thema eines großen Musikers ist ein solcher Satz. Musik ist Sprache – nicht in dem verschwommenen Sinne eines Lautwerdens von seelischen Zuständen, sondern im Sinne einer eindeutig bestimmten Mitteilung. Unsere gewöhnliche Sprache ist zugeschnitten auf praktische Bedürfnisse, gefesselt durch soziale Konventionen. Die Musik streift diese Fesseln ab. Aber sie fällt damit nicht etwa der Willkür anheim, sie gewinnt im Gegenteil die Möglichkeit genauerer Formulierung und einer ihrem Gehalt völlig angemessenen Rede. Wie gewisse Pflanzen und Tiere die letzten Zeugen einer Organisationsform sind, welche die Natur aufgegeben hat, so ist die Musik vielleicht das einzige uns noch zugängliche Beispiel einer Verständigung von Seele zu Seele, die durch die Erfindung der Sprache, durch Wort und Begriff, verdrängt worden ist. Sie ist gleichsam eine Möglichkeit, die nicht voll verwirklicht wurde. Die Entwicklung ist andere Wege gegangen. Die Wortsprache hat die Tonsprache ersetzt. Sollte unsere Liebe zur Musik das Heimweh nach einer verlorenen Lebensform des Geistes sein?

Marcel Proust

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