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Zeit und Raum

Dieses unvorhersehbare Einströmen des erinnerten Lebens in den gegenwärtigen Augenblick bedeutet eine Außerkraftsetzung der Zeit. Wir sind dem einsinnigen Ablauf der mathematischen Zeit entronnen, wenn die Vergangenheit aufhören kann, Vergangenheit zu sein, wenn sie die Fähigkeit hat, im Gedächtnis wiederaufzuleben. Die Zeit ist nicht eindimensional und unumkehrbar. Sie ist nichts endgültig Festgelegtes. In der Kunst von Proust erfährt der starre Zeitbegriff, den wir unseren Berechnungen zugrunde legen, psychologisch eine ähnliche Korrektur, wie er sie logisch in der Bergson’schen Philosophie erfährt. Die Zeit der Proust’schen Romane ist nicht die chronometrische der Kalender und der Naturwissenschaft, sondern sie ist durée réelle, seelische Wirklichkeit, deren Rhythmus unendlich mannigfaltig sein kann und deren Qualität und Ablauf in enger Wechselwirkung mit den Änderungen der Atmosphäre, der Gefühlslage, auch der räumlichen Umgebung steht. Die Proust’sche Zeit hat eine Elastizität und Relativität, an der alles äußerliche Messen scheitert. Es wird jedem Leser auffallen, dass in Prousts Romanen niemals Daten und präzise Zeitbestimmungen auftauchen. Wir rechnen in diesen Romanen nicht nach Monaten und Jahren, sondern nach dem Wechsel der seelischen Jahreszeiten. Sie erlauben keine chronologische Analyse. Die Zeit läuft ab in einer Kurve von unberechenbarer Unregelmäßigkeit. Ein Wetterumschlag genügt, um die Welt und uns selbst neu zu erschaffen! Zeit und Raum sind bloße Modi der Erinnerung und stehen in Wechselwirkung. Ein Ort, den wir gekannt haben, ist ein Ausschnitt aus unserer gelebten Zeit. Ein Erinnerungsbild, das in uns auftaucht, bringt einen bestimmten Augenblick zurück. Wir können sozusagen Zeit und Raum ineinander umschalten und so den Bereich unserer Freiheit erweitern. »Es gibt Fälle – zugegebenermaßen recht seltene – wo, da die Sesshaftigkeit die Tage anhält, die beste Möglichkeit Zeit zu gewinnen die ist, den Ort zu wechseln.« Nicht nur die einzelnen Erstreckungen der Zeit – Vergangenheit und Gegenwart – werden relativiert, sondern die Zeit als Ganzes wird also relativ zum Raum. Man kann noch weitergehen und zeigen, dass bei Proust auch die Dimensionen des Raumes (zum Beispiel horizontale und vertikale Dimension) in analoger Weise einer Relativierung ausgesetzt sind. Proust beschreibt einmal den Blick von einer senkrecht abfallenden Felsküste auf das tief unten liegende blauschimmernde Meer. Man hört deutlich das Geräusch jeder Welle, die sich am Strande bricht. Und dieses Geräusch ist »wie eine Vergleichsgröße bei einer Messung, die uns, indem sie unsere üblichen Eindrücke umkehrt, vorführt, dass vertikale Entfernungen, anders als unsere Vorstellung sich das gemeinhin ausmalt, horizontalen Entfernungen gleichgesetzt werden können, ja dass diese, uns den Himmel näherbringend, gar nicht groß sind, und sogar noch geringer für ein Geräusch, das sie überwindet wie das jener kleinen Wellen, denn das Medium, das es durchlaufen muss, ist reiner«.

Es mag verlockend sein, zwischen solchen psychologischen Feststellungen und der physikalischen Relativitätstheorie Zusammenhänge zu stiften. In Frankreich haben manche Kritiker die Namen von Proust und Einstein zusammengestellt. Doch dürfte es sich empfehlen, mit solchen Kombinationen vorsichtig zu sein. Wir wissen allerdings, dass Proust sich sehr ernsthaft mit erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigt hat. Der Philosoph Darlu war sein Lehrer auf dem Lycée Condorcet. Sein metaphysischer Kritizismus und Bewusstseinsidealismus hat Proust zu selbstständigem Weiterdenken angeregt, in dessen Verlauf er auf dem Wege psychologischer Selbstbeobachtung zu einer eigenen Theorie von einem raumzeitlichen Continuum kam.3 Später gewann Bergsons Denken auf ihn Einfluss. Wir dürfen es also als feststehend betrachten, dass Proust die wechselseitige Abhängigkeit unserer Erfahrungsformen mindestens in einer bestimmten Lebensepoche als philosophisches Problem gesehen hat. Aber wichtiger erscheint mir die Feststellung, die sich uns weiterhin noch bekräftigen wird, dass schon seine Erlebnisweise (nicht erst und nicht zuvörderst sein Denken) die Sphären unserer Erfahrung relativiert und ineinander überführt. Dies zeigt sich am deutlichsten, aber nicht ausschließlich am Zeitgefühl.

Die Bücher von Proust enthalten viele Beispiele für das unbewusste Auftauchen von Erinnerungen und ihre Bedeutung in unserem Seelenleben. Ich hebe ein solches Beispiel heraus. Der Erzähler kehrt an einen Ort zurück, wo er im vergangenen Sommer mit seiner innig geliebten Großmutter geweilt hat, die kurz darauf gestorben ist. Er steigt in demselben Hotel ab, erhält dasselbe Zimmer, fühlt dieselbe Mattigkeit nach der Reise wie damals. Da steigt das Bild der Großmutter plötzlich auf, denn damals, in derselben Situation, war sie zärtlich und hilfreich um den leidenden Knaben besorgt gewesen. Zum ersten Mal seit ihrem Tode gewinnt die Erinnerung an sie volles Leben: »Und so geschah es in meiner verrückten Lust, mich ihr in die Arme zu werfen, erst in diesem Augenblick, mehr als ein langes Jahr nach ihrem Begräbnis und aufgrund dieses Anachronismus, der den Kalender der Tatsachen so oft davon abhält, mit dem der Gefühle übereinzustimmen, dass mir klar wurde, sie war tot.«

3 So berichtet Robert Proust in der Nouvelle Revue française, Januar 1923, S. 25.


Antwort von Ernst Robert Curtius auf Marcel Prousts Brief vom 8. März 1922, datiert auf den 12. April 1922.



Marcel Proust

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