Читать книгу Marcel Proust - Ernst Robert Curtius - Страница 9

Оглавление

Intuition und Ausdruck

Ich sagte schon, dass die Frage nach dem Wesen der Kunst und der Funktion des Künstlers ein Grundelement und ein letzter Antrieb von Prousts ganzem Schaffen ist. Wir finden dieses Element in Prousts Werk gleichsam in verschiedenen Aggregatzuständen vor. Wir finden es als kritische Reflexion in den Ruskin-Essays, wir finden es als formendes Prinzip in der Gestaltung von Künstlerpersönlichkeiten: Vinteuil, Elstir, Bergotte, die Berma. Endlich und zuinnerst finden wir es als persönliches Erleben des Erzählers, das dann in jene anderen Sphären ausstrahlt. Die Proust’schen Bücher sind von einem Menschen geschrieben, dem das Problem des Künstlertums bestimmendes Erlebnis, und das heißt schon Kindheitserlebnis, gewesen ist. Das literarische Schaffen ist für Proust eine Form, das Lebensproblem des Künstlers zu verarbeiten. Darlegung und Gestaltung der inneren Spannung, die aus dem Drang zum dichterischen Schaffen entsteht, ist ein Thema der Proust’schen Kunst.

Betrachten wir dieses Thema in seiner autobiografischen Grundform: wie es der Erzähler der Proust’schen Bücher berichtet. Er ist noch ein Knabe, da fesselt ihn geheimnisvoll die Welt der Bücher. Er bereichert und steigert sich an den Gedanken und Gefühlen, die ihm aus schönen Büchern entgegenströmen. Er möchte auch Bücher schreiben können. Aber er meint, dazu müsse man der Welt einen großen Gedanken mitzuteilen haben. Er glaubt ja, dass er die Bücher um der »Gedanken« willen liebt, die in ihnen enthalten sind. Aber er selbst, das weiß er, wird nie imstande sein, einen solchen Gedanken zu finden. Vergeblich quält er sich, eine Idee zu entdecken, aus der man ein Buch machen könnte. »Ich habe eben kein Talent«, sagt er sich traurig. Er begräbt seine künstlerischen Zukunftsträume und verbietet sich, auch nur noch daran zu denken. Aber in derselben Zeit überfällt ihn immer wieder ein seltsames Erlebnis, das in ganz andere Richtung zu weisen scheint als die Beschäftigung mit der Literatur. Es gibt Dinge, gleichgültige Dinge, die einem plötzlich in den Weg treten – ein Dach, ein Sonnenstrahl auf einem Stein, der Geruch eines Weges – und eine eigentümliche Beglückung bringen. Zugleich scheinen sie etwas in sich zu bergen, eine besondere Bedeutung, die in ihrem äußeren Anblick nicht aufgeht, die man ergreifen möchte und doch nicht fassen kann. Könnte man mit dem Denken vielleicht diesem Geheimnis näher kommen, das die Dinge anbieten und zugleich verhüllen? Der Knabe schließt die Augen, prägt dem Gedächtnis den genauen Umriss des Daches, den Farbenton des Steines ein, versenkt sich in die Form der Dinge, die so eigentümlich gefüllt schienen, als wollten sie sich öffnen und ihren verborgenen Gehalt entlassen. Immer waren es belanglose Dinge, bar jeder geistigen Bedeutung und jedes abstrakten Sinnes, unfähig also, dem Künstler, dem Dichter zu dienen. Indes tröstet der ganz denkfremde Genuss, den sie bringen, den Knaben über sein Versagen im literarischen Fach und gibt ihm eine innere Befruchtung, die ihn entschädigt. Da macht er an einem Sommerabend eine aufregende und umwälzende Entdeckung. Er betrachtet während einer Wagenfahrt die Kirchtürme eines Nachbardorfes. Lange heftet er den Blick auf ihre besonnten Flächen, bis diese gewissermaßen aufspringen wie eine Rinde, in der ein Riss entsteht; etwas von dem verborgenen Gehalt tritt damit ans Licht, und gleichzeitig taucht in dem Knaben ein Gedanke auf, der noch vor einem Augenblick nicht da war, der sich in Worte (innerlich erklingende Worte) kleidet und nun den Genuss jenes Blickes auf die Türme bis zum Rausch steigert. Im Fluge seiner Begeisterung und zugleich im Bewusstsein, sein Gewissen entlasten zu müssen, ergreift der Knabe Papier und Bleistift und schreibt ein Stück Prosa nieder. Das Geheimnis der Dinge lässt sich also entriegeln durch Worte! Jenes Unbekannte gibt sich zu erkennen in einem Gefüge von Sätzen, die beglücken wie ein Fund. So wird der Knabe in derselben Lebensepoche, wo er sich zum Verzicht auf die literarische Laufbahn genötigt glaubt, durch die Forderung der Dinge zum sprachlichen Ausdruck getrieben – ahnungslos und fast wider Willen: denn das Erarbeiten des Ausdrucks ist so anstrengend und mühevoll, wie das Aufnehmen der Dinge lustvoll war, und der Knabe sucht bald nach Ausreden, um sich vor sich selbst zu entschuldigen, wenn er sich der Verpflichtung entzieht, die in der Botschaft der Dinge liegt.

Noch ein verwandtes Erlebnis aus einer etwas späteren Lebensepoche berichtet der Erzähler. Auf einer Wagenfahrt fällt ihm eine Gruppe von drei Bäumen auf, bei deren Anblick ihn ein tiefes Glück überströmt. Sie dünken ihn wirklicher als die Fahrtgenossen und der ganze gegenwärtige Lebensabschnitt. Ihm ist, als sei er aus einem Traum erwacht und finde nun etwas längst Gekanntes wieder. Diese Bäume enthalten ein Geheimnis, das sich dem Zugriff entzieht wie Gegenstände, die außer unserer Reichweite liegen und die wir allenfalls mit ausgestreckten Fingerspitzen streifen können. Vielleicht könnten wir sie packen, wenn wir uns zu einem äußersten Schwunge sammelten. Vielleicht wartet hier ein Glück, wie damals in den Kirchtürmen von Martinville. In der Erinnerung daran wird dem Jüngling bewusst, dass die seltenen Augenblicke dieses eigentümlichen Glückes die ganzen dazwischenliegenden Lebensräume auslöschen, dass nur jene Augenblicke die Wirklichkeit enthalten, an die er sich anklammern müsste, um sein wahres Leben zu leben. In einem Akt innerer Konzentration sucht er sich des Bildes jener Bäume zu versichern, sucht er in der inneren Wegrichtung vorzustoßen, an deren Ende er die Bäume in seinem Geist erblickt. Was ist es mit ihnen? Hat er sie früher wirklich irgendwann gesehen? Aber sie passen in keine der Landschaften, welche Schauplätze seines Lebens waren. Nein, er hat sie in Wirklichkeit nie gesehen, auch nicht im Traum. Der Schein, es handle sich um ein Wiedererkennen, ist eine Täuschung. Sie erwächst daraus, dass die Seele in dem Bemühen, den geheimen Sinn des Eindrucks zu enträtseln, eine Anspannung gleicher Art und gleicher Stärke vollziehen muss, wie bei dem Zurückrufen einer fernen Vergangenheit. Die Bäume beschwören die Seele wie die Phantome einer Vorzeit, wie die Schatten entschwundener Freunde: »Nimm uns und gib uns dem Leben wieder!« Sie scheinen zu rufen wie ein geliebtes Wesen, das die Sprache verloren hat und dessen Wünsche wir nicht mehr zu erraten vermögen. Aber da macht die Straße eine Biegung, die Bäume entschwinden und mit ihnen eine unersetzliche Wahrheit, ein unwiederbringliches Glück. Eine Klage scheint nachzuzittern: »Wenn du uns versinken lässt, gibst du ein Stück von dir selbst der Vernichtung preis.« Eine Trauer breitet sich über den Jüngling: »Als hätte ich einen Freund verloren, wäre selbst gestorben, hätte einen Toten verleugnet oder einen Gott verkannt.«


Marcel Proust im Alter von fünfzehn Jahren, fotografiert von Paul Nadar.

Marcel Proust

Подняться наверх