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Kunst und Leben

Es ist für Proust charakteristisch, dass bei ihm alle großen Lebensmächte erst in ihrer Verflechtung mit dem Spiel der Erinnerung ihren ganzen Bedeutungsgehalt, ihren ganzen Wert anzunehmen scheinen. Das gilt von dem Leben des Geistes, vom Schaffen, von der Natur, von der Liebe. Und es gilt ebenso von Prousts Beziehung zu den Welten der Kunst und der Geschichte. Die Gestalten, die Proust mit besonderer Liebe zeichnet, sind solche, deren Lebensgefühl bereichert ist durch die Erinnerung an die Werke der Kunst oder an irgendeine geschichtlich geprägte Vergangenheit. Diese Erscheinung gehört zu den frappierendsten Eigentümlichkeiten des Proust’schen Schaffens. In ihr spiegelt sich von einem anderen Blickpunkt her die enge Verflochtenheit von Kunst und Leben, die wir als Grundmotiv von Prousts Geistigkeit erkannten. Es ist nicht nur so, dass das Erleben, um sich selbst zu vollenden, zur künstlerischen Gestaltung fortschreiten muss, sondern auch umgekehrt: die Welt der Kunst kann für unser persönliches Erleben aufgeschlossen, fruchtbar gemacht, in es zurückgenommen werden. Wenn das künstlerische Schaffen die Zuendeführung, die abschließende Vollendung unseres Erlebens darstellt, so gilt auch entsprechend, dass die überlieferten Werke der Kunst ihren vollen Sinn erst durch die Umsetzung in neues gegenwärtiges Leben gewinnen. Der Weg vom Erleben zum Ausdruck kann auch in umgekehrter Richtung gegangen werden. Leben kann in Kunst und Kunst kann in Leben übergeführt werden. Die seelische Besonderheit Prousts liegt darin, dass diese wechselseitige Umschaltung einen Grundrhythmus seines Geistes ausmacht, sodass der Übergang ein gleitender geworden ist. Die beiden Seinssphären, die wir als Kunst und Leben zu trennen und einander entgegenzusetzen pflegen, sind verflüssigt und eins geworden. Die Kunst hat etwas von ihrer Isoliertheit, das Leben etwas von seiner Realität verloren. Beides fließt zusammen in einer höheren Wirklichkeit der Seele. Hierin gründet jener eigentümliche Eindruck von Vergeistigung, den wir vom Werke Prousts empfangen, einer Vergeistigung, die keine Seinsminderung, sondern das Gefühl einer intensiveren Wirklichkeitserfassung hervorbringt – und zwar durch eine Art von Relativierung, analog jener, die wir zwischen den einzelnen Zeitstufen und zwischen Zeit und Raum beobachteten. Das Lebensgefühl Prousts erscheint ständig begleitet und bereichert durch einen Strom künstlerischer Erinnerungen. Seine Kunsterlebnisse wirken wie ein Resonanzboden, der den Klang jeder Stunde verstärkt. In die Farben, mit denen er das Neue und Gegenwärtige schildert, fließt so eine altmeisterliche Tonigkeit ein, ein Extrakt reifer Kulturen, ohne doch irgendwie die Fähigkeit des Künstlers zur unmittelbaren und ursprünglichen Erfassung der Wirklichkeit zu beeinträchtigen. Was andere Geister lähmt, belastet, gefährdet und an eigener Ausprägung hindert, das scheint im Gegenteil bei Proust der schöpferischen Ausdruckskraft erst ihre weiteste Freiheit zu geben, weil seine biegsame Geistigkeit den überlieferten Bildungsstoff beseelt.

Wie Proust sein modernes Lebensgefühl mit Kunsteindrücken unterbaut, sei an einigen Beispielen gezeigt. Während einer Autofahrt macht er in einem kleinen, abgelegenen Dorfe halt. Dabei fühlt er sich als Nachfolger jenes Reisenden, der seit dem Zeitalter der Eisenbahnen ausgestorben ist, den wir aber aus den flämischen Bildern kennen, wo ihm die Magd einen Trunk in den Sattel reicht oder wo er – auf Cuyps Landschaften – einen Bauern nach dem Wege fragt; jenes Reiters, den Lingelbach, Wouwermans oder Adrian van de Velde auf Bilder von Willem van de Velde oder Ruysdael gesetzt haben, um den Geschmack der reichen Kaufherren von Harlem zu befriedigen. Durch diese Reminiszenzen ist eine scheinbar belanglose Situation in eine Atmosphäre der Phantasie erhoben, die ihr einen reichen, eigentümlichen Gehalt verleiht. Oder Proust besucht die Kathedrale von Lisieux, um an ihrer Fassade das steinerne Laubwerk zu sehen, »von dem Ruskin spricht«, an der Pforte, durch welche vielleicht der Hochzeitszug Heinrichs II. von England und der Leonore von Aquitanien schritt. Diese beiden Beispiele sind nicht dem Romanwerk entnommen, sondern stammen aus Essays, in denen Proust von eigenen Erlebnissen berichtet.

Aber in dem Roman kehren dieselben Züge wieder, verteilt auf verschiedene Figuren und in verschiedener Nuancierung. Immer ist die gemeinsame geistige Voraussetzung fühlbar, die ich zu analysieren versuchte. So in der Schilderung von Swanns Liebe zu Odette. Odette gehört nicht dem Frauentypus an, den Swann bevorzugt. Aber sie erinnert an Sephora, die Tochter Jethros auf Botticellis Fresko. Sie ist ein florentinisches Werk. Durch diese Ähnlichkeit gestaltet sie sich für Swanns Augen um, dringt in seine ideale Welt ein, zieht seine Liebe auf sich. – Der Baron Charlus wohnt einem mondänen Fest bei. Das Wort »Fest« füllt sich für ihn mit dem Sinn, den es auf den Bildern Carpaccios oder Veroneses hat, und diese Reflexe steigern seine Stimmung. – Der Erzähler betritt zum ersten Mal die Kulissen eines Theaters: er würde diese künstliche Welt langweilig finden, wenn nicht Goethes Schilderung in Wilhelm Meister sie für ihn mit Schönheit umkleidete. – Er sieht ein junges Mädchen auf dem Rasen Diabolo spielen. Das Spielzeug erinnert an ein seltsames Attribut, das Giotto der Allegorie des Götzendienstes in der Arena von Padua beigegeben hat. – Ein moderner Großstadtbahnhof kann sich so ins Erhabene weiten: »Man muss alle Hoffnung fahren lassen, zum Schlafen nach Hause zu kommen, sobald man sich dazu entschlossen hat, die verpestete Höhle zu betreten, durch die man zum Mysterium gelangt, eine dieser großen verglasten Hallen wie die von Saint-Lazare, wo ich den Zug nach Balbec finden wollte, und die über die ausgeweidete Stadt einen jener immensen, grellen Himmel wölbte, schwer von sich auftürmenden drohenden Dramen, ganz ähnlich wie bestimmte, fast schon pariserisch modern anmutende Himmel von Mantegna oder Veronese, und unter dem nichts anderes geschehen konnte als irgendein schreckliches und feierliches Geschehnis wie die Abfahrt einer Eisenbahn oder das Aufstellen eines Kreuzes.« Es ist von derselben Art, wenn Saint-Loup bei einem Exkurs über Strategie zeigt, dass es klassische Lösungen militärwissenschaftlicher Aufgaben gibt, die immer wieder angewandt werden; moderne Schlachten, die Cannae reproduzieren. »Du hast mir gesagt«, antwortet ihm der Erzähler, »dass man Schlachten kopiert. Ich finde das ja ästhetisch, dass man, wie du erklärt hast, unter einer modernen Schlacht eine ältere sehen kann, ich kann dir gar nicht sagen, wie mir dieser Gedanke gefällt.« Dass sich ein gegenwärtiges Erleben über viele Schichten vergangenen Daseins legt, sodass deren Umrisslinien noch sichtbar sind, wie beim Durchpausen einer Zeichnung; dass zu einer heutigen Lebensmelodie das Gedächtnis die Harmonien der Geschichte ertönen lässt, das macht für Proust eine der Schönheiten des Daseins aus.


Ernst Robert Curtius als Student in Straßburg.

Marcel Proust

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