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Kunst und Erkenntnis

Wenn uns der erste Blick auf das Werk von Proust unvermerkt zu den Wesensfragen nach dem Sinn der Kunst und der Funktion des Künstlers führt, so ist es, weil diese Fragen selbst zu den bestimmenden Motiven von Prousts Denken und Schaffen gehören. Die Intellektualität ist der Nährboden des Lebens, das sich in dieser Kunst seinen Ausdruck schafft. Intellektualität im höchsten und umfassendsten Sinne, als ein Erstes und Letztes, das sich nicht erst als die Reaktion auf das Leben einstellt, sondern mit dem Lebensgefühl selbst da ist und mit ihm in unauflöslicher Einheit verbunden ist. Leben und Erkennen sind hier in der Wurzel eins. Erkennendes Leben, lebendes Erkennen tritt uns hier entgegen als ursprünglichste Spontaneität des Geistes, als farbigste und duftigste Blüte des vitalen Prozesses. Das intellektuelle Leben ist für Proust von all den parallelen Leben, die wir gleichzeitig leben, das spannungsreichste. So denkt auch Bergotte, der große Schriftsteller, wenn er einen Kranken zu trösten sucht: »Ich beklage Sie sehr«, sagt er ihm. »Und doch – ich beklage Sie nicht allzu sehr, weil ich wohl sehe, dass Sie über die Genüsse der Intelligenz verfügen und weil diese für Sie wie für alle, die sie kennen, wahrscheinlich das Wichtigste sind.«

Intelligenz in dem Sinne, den das Wort bei Proust hat, ist nichts inhaltlich Festgelegtes, auch keine durch Übung entwickelte Teilfunktion der Persönlichkeit, sondern der allumgreifende elementare Drang, sich die Wirklichkeit durch Erkenntnis zu erschließen. Intellektuelle Erkenntnis kann in vielen Formen auftreten: als Lebensklugheit, als Geschäftsverstand, als Rechtsprechung, als Wissenschaft, als Philosophie. Von all dem ist hier nicht die Rede. Jenseits all dieser Sonderformen und Spezialfunktionen gibt es ein Erkennen der Lebensgehalte, das weder praktischen Zwecken dient noch an die Systematik eines Sachgebietes gebunden und durch sie eingeschränkt ist. Diese Erkenntnis hat nur eine Ausdrucksform: die Kunst. Gestaltung ist die Sprache des künstlerischen Erkennens. Alle Kunst ist Erkenntnis. Wollte man Prousts Aussagen über ästhetische Probleme ordnen, so würde sich daraus eine noetische Kunsttheorie ergeben. Nicht Erhöhung des Lebens, nicht Darstellung einer geläuterten Natur oder eines adligeren Menschentums, aber auch nicht Formenspiel, nicht Bilden um des Bildens willen, nicht Verwirklichung von Schönheit ist für Proust der Sinn der Kunst. Weder Nietzsche’scher Vitalismus noch Formanbetung oder irgendeine Abwandlung des l’art pour l’art können in der geistigen Welt Prousts Geltung beanspruchen; erst recht nicht können sie ihr gerecht werden.

In seinen Ruskin-Studien hat Proust seine Kunstphilosophie gegeben. Es ist für ihn eine Wahrheit metaphysischer Ordnung, dass man die Kunst nicht in fruchtbarer Art lieben kann, wenn man sie nur um der Genüsse willen liebt, die sie gibt. Wer das Glück sucht, der findet es nicht. Man findet das Glück nur, wenn man anderes sucht. So ist es mit dem ästhetischen Genuss. Er wird uns zuteil als ein Überschuss, wenn wir die Schönheit um ihrer selbst willen lieben; als eine außer uns da seiende Wirklichkeit, die unendlich viel wichtiger ist als die Freude, die wir durch sie empfangen können. Diese Freude ist nur die Begleiterscheinung einer geistigen Lebensrichtung auf ein ewiges Sein. Darum aber ist auch jedes Schönheitserlebnis nicht nur eine Beglückung, eine Beflügelung unseres Gefühls, sondern darüber hinaus die Berührung mit einer Wahrheit und einer Wirklichkeit. Wo wir eine literarische Schönheit empfinden, da liegt ein Wert verborgen. Der künstlerische Enthusiasmus zeigt an, dass wir von einer Wahrheit berührt wurden. Ein starrer und ungebildeter Geist könnte hier einwenden, damit würde der subjektive Genuss des Lesers zum ästhetischen Wertmaßstab gemacht. Das wäre ein gröbliches Missverständnis. Eine nie ermattende intellektuelle Aufrichtigkeit ist ein Grundzug von Prousts Geistesart. Das zeigt sich gerade auch in seiner Stellung zu Ruskin. Ruskin ist für Proust »einer der größten Schriftsteller aller Zeiten und aller Länder«. Aber Proust scheut sich nicht, auch auf die Irrtümer Ruskins aufmerksam zu machen. »Hier habe ich mich gerade mit den mir liebsten ästhetischen Eindrücken auseinandersetzen wollen«, sagt er in diesem Zusammenhang, »und versucht, die intellektuelle Redlichkeit bis an ihre letzten und grausamsten Grenzen zu treiben.« Dennoch brauchen wir uns des Enthusiasmus nicht zu schämen, den wir bei Ruskins Irrtümern empfanden: denn auch seine irrigen Kunsturteile haben eine Schönheit eigener Geltung, die vom Wert des beurteilten Kunstwerks unabhängig ist, und sie entsprechen einer Wahrheit der Seele, die von allem Wechsel geschichtlicher Wertungen unberührt bleibt. Keine Schönheit kann uns je lügen: »Denn die ästhetische Beglückung ist genau die, welche die Entdeckung einer Wahrheit begleitet.« Von der Kunst des Malers Elstir sagt der Erzähler (so bezeichne ich das »Ich« der Proust’schen Romane), er habe sich von ihr »zum Verständnis von und zur Liebe zu Dingen führen lassen, die noch bedeutender waren als sie selbst: ein wirkliches Tauwetter, ein echter Platz in einem Provinzstädtchen, lebendige Frauen am Strand«.

Eine Landschaft oder eine Bewegung der Seele – alle Aspekte der Wirklichkeit sind der Kunst und ihrer eigentümlichen Erkenntnisweise zugänglich. Als Form universalen Weltbegreifens ist die Kunst der Philosophie verwandt. Dem Künstler drängt sich sein Gegenstand mit derselben Notwendigkeit auf wie dem Denker ein logisches Problem. Das Thema des Romanciers, die Vision des Dichters – sie treten dem Geist fordernd und wie von außen entgegen. Der Künstler wählt sich seinen Stoff nicht, er wird von ihm erwählt. Er muss ihn ausdrücken, und er muss ihn ganz und rein ausdrücken. Die Zeiten, die in der Kunst und Dichtung eine göttliche Eingebung verehrten und darum forderten, der Künstler dürfe dieser überirdischen Botschaft nichts Eigenes hinzufügen, waren im Rechten. Es ist für den Künstler wie für den Forscher und den Denker das oberste Gebot, sich der erschauten Wirklichkeit zu unterwerfen. Wie alles Erkennen, so ist auch das Schaffen des Künstlers ein Nachbilden, gebunden an eine Gegenständlichkeit, deren Wiedergabe die höchste Anspannung des Geistes, ja oft eine heroische Energie erfordert: »Jede geistige Handlung ist leicht, solange sie nicht an die Realität gebunden ist.«

Der Künstler erfindet nicht, er findet etwas vor. Kunst ist nicht Erfindung, sondern Auffindung.


Brief von Marcel Proust an Ernst Robert Curtius, gestempelt am 8. März 1922. Darin bedankt sich Proust bei Curtius für dessen lobenden, fünfzehn Seiten umfassenden Artikel über Prousts Werk, der kurz zuvor, in der Februarausgabe von Der neue Merkur, erschienen war und den Curtius an Proust schicken ließ. Proust spürte intuitiv, dass Curtius sein Werk kongenial analysiert hatte, war jedoch über seine mangelnden Deutschkenntnisse betrübt, die ihm ein genaues Verständnis des Artikels nicht erlaubten. Er bat seinen Verleger Gaston Gallimard um eine Übersetzung, die verloren ging. Erst im Juli veröffentlichte die Nouvelle Revue française Auszüge von Curtius’ Artikel auf Französisch.





Erster Brief von Marcel Proust an Ernst Robert Curtius in einer Abschrift von Ernst Robert Curtius, angefertigt auf Bitte der Herausgeber der Correspondance générale de Marcel Proust, Robert Proust und Paul Brach. Die Briefausgabe erschien in sechs Bänden bei Librairie Plon zwischen 1930 und 1936.


Marcel Proust

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