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Die Aufgabe des Kritikers

Proust ganz zu würdigen wird erst möglich sein, wenn sein Werk abgeschlossen vor uns liegt. Erst dann wird sich die vielumstrittene Frage nach der Komposition seines Romans beantworten lassen. Erst dann werden wir die Entwicklung seiner Charaktere und die Schlussfolgerungen seiner Kunst überschauen. Aber schon heute hat sein Werk eine solche Ausdehnung und Fülle, ein solches Leben und eine solche Tiefe, dass es zur Betrachtung und Analyse drängt.

Der erste Eindruck beim Lesen ist ein seltsames Gemisch von Bezauberung und Verwirrung. Man fühlt sich überschüttet von einer scheinbar ungeordneten Fülle eindrängender Stoffmassen, befremdet durch einen umständlichen, verwickelten Stil, dessen Bewegungsrhythmus zunächst kein Gesetz erkennen lässt. Zugleich wird man gefesselt wie von den Klängen einer neuen Musik, deren Harmonik man noch nicht analysieren kann; hineingezogen in eine Erlebnisart von so eigentümlichem Reiz, dass man sich ihren Lockungen hingeben muss. Man wüsste nicht zu sagen, was es ist, das so sanft überredet und so magnetisch anzieht; man lässt sich treiben wie auf einem ruhigen mächtigen Strom, gewärtig aller Abenteuer, willig sich lösend vom hemmenden Automatismus der Gewohnheiten und der erstarrten Denkformen. Man stößt dann plötzlich auf einen Satz, der sich aus seiner Umgebung herauslöst und etwas Besonderes zu enthalten scheint: einen gleichsam transparenten Satz, der die Eigentümlichkeit des Autors ahnen, wenn auch noch nicht deutlich erfassen lässt. Und beim Fortschreiten der Lektüre trifft man auf einen zweiten und dritten Satz verwandter Natur. Man spürt in der Wiederkehr solcher Satzgebilde eine geheime Gesetzlichkeit. Verschieden nach Form und Inhalt, weisen sie doch auf ein Gemeinsames hin, aus dem sie stammen. Sie sind Erscheinungsweisen derselben seelischen Wirklichkeit. Indem sie sich gegenseitig ergänzen und erhellen, machen sie uns eine seelische Nuance, eine geistige Eigenart des Verfassers deutlich. Wir wissen jetzt, dass wir an einer wenn auch vielleicht peripheren Stelle das Geheimnis der schöpferischen Originalität berührt haben. Wie sich der sichtbar gewordene Einzelzug zum Ganzen verhält, bleibt zunächst noch ganz unbestimmbar. Aber ein Ansatzpunkt ist gewonnen. Nur aus der sorgsamen Sammlung und Vergleichung solcher Einzelzüge kann in immer erneuter und ausgeweiteter Betrachtung und Besinnung das Gesamtbild erarbeitet, kann die Intuition geklärt werden. Alle echte Kritik geht diesen Weg. Proust selbst beschreibt ihn in seinem Ruskin-Essay. Die erste Aufgabe jedes Kritikers, sagt er, müsste darin bestehen, dem Leser zu helfen, »diese besonderen Merkmale wahrzunehmen, ihm weitere ähnliche Merkmale vor Augen zu führen, die deutlich machen, dass es sich dabei um die charakteristischen Merkmale des persönlichen Wesens eines Schriftstellers handelt«. Wenn der Kritiker das verstanden hat, ist seine Aufgabe fast erfüllt. Wenn er es nicht verstanden, wenn er jene charakteristischen Einzelzüge nicht herausgefühlt hat, dann kann er zwar immer noch alle möglichen Bücher über Ruskin schreiben, »Ruskin als Mensch«, »als Schriftsteller«, »als Prophet«, »als Künstler«, aber alle diese Konstruktionen, so geistvoll sie durchgeführt sein mögen, werden Ruskins Wesen nicht treffen; sie können dem Kritiker Ruhm und Ehre eintragen – aber für das Verständnis von Ruskins Werk werden sie weit weniger nützen als die genaue Festlegung einer scheinbar noch so unwichtigen Nuance.

Wir dürfen uns die Darlegungen Prousts dahin deuten, dass alle wahre Kritik damit anhebt, die seelischen Formelemente eines Autors – nicht seine Meinungen, nicht seine Gefühle – zu ermitteln. Solche Kritik kann nicht erlernt werden. Denn jene Einzelzüge, auf die es ankommt, kann man nicht suchen – sie müssen einem aufleuchten. Kritische Begabung ist nichts anderes als die Fähigkeit, von solchen Einzelzügen frappiert zu werden. Wenn das Philosophieren im Staunen wurzelt, so ist es die Voraussetzung aller Kritik, dass dem Kritiker bestimmte Dinge auffallen. Beides vollzieht sich nur bei aufgeschlossener Hingabe an den Gegenstand. Die Ruhe und Passivität des reinen Aufnehmens muss die Grundhaltung des Kritikers sein. Rezeption ist die Vorbedingung der Perzeption, und diese führt zur Konzeption. Denn über die Wahrnehmung und Festlegung der Einzelzüge hinaus schreitet die Kritik in synthetischem Verfahren zur Rekonstruktion der geistigen Gesamthaltung des Autors fort. Oder, um Proust wieder das Wort zu geben: »Ich bin allerdings der Ansicht, dass der Kritiker daraufhin noch weiter gehen müsste. Er müsste versuchen zu rekonstruieren, wie das besondere geistige Leben eines Schriftstellers geartet sein könnte, den solch außergewöhnliche Realitäten umtreiben.«

Ich glaube, dass dieser letzte Satz die aufmerksamste Beachtung fordert; dass wir seiner Spur folgen müssen, um in das Innere von Prousts Werk zu gelangen. Er fixiert das Verhältnis von Kunst und Geist. Das Kunstwerk – dies müssen wir ihm entnehmen – hat den Sinn, uns eine neue geistige Lebenssphäre zu eröffnen; die charakteristischen Einzelzüge, die wir an ihm wahrnehmen, entsprechen bestimmten Elementen der geistigen Wirklichkeit, die für den Künstler einen besonderen Bedeutungsakzent tragen und die er sinnlich sichtbar macht. Was wir Talent nennen, ist die Fähigkeit, diese Anschauung wiederzugeben oder, anders gesagt, jene Momente des Seins im Werk neu zu gestalten. Phänomen und Begriff der Kunst wurzeln also letzten Endes in einem metaphysischen Grunde. Wie unsere Musik aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Klänge nur einen begrenzten Ausschnitt kennt (eine Zone des Gestaltens, die von jedem schöpferischen Tondichter erweitert wird), so spiegeln sich in unserem seelischen Leben nur Bruchstücke des Gesamtseins wider. Der große Schriftsteller ist der, der neue Aspekte der Gesamtwirklichkeit erlebt und sie so zwingend und fordernd erlebt, dass sie für ihn einen Ewigkeitsgehalt annehmen. Sein Werk ist gleichsam ein Fenster, durch das uns eine neue Aussicht eröffnet wird: der Blick auf eine bisher unbekannte Landschaft. Der Künstler fühlt sich triebhaft genötigt, dem Drang des Schauens alle übrigen Lebensinhalte, ja unter Umständen das Leben selbst zu opfern. Für einen solchen Künstler bedeutet sein Leben schließlich nur mehr das unentbehrliche Organ der Anschauung: dasselbe, was dem Naturforscher seine Beobachtungsinstrumente sind. Dieses Opfer des eigenen Lebens im Dienste der Anschauung und der Gestaltung macht die Moralität des Künstlers aus.


Liste der weiteren geplanten Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit groben Inhaltsangaben, die Marcel Proust im Zusammenhang mit der Verleihung des Prix Goncourt für Im Schatten junger Mädchenblüte 1919 an seinen Verleger Gaston Gallimard schickte.

Marcel Proust

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