Читать книгу Habsburgs europäische Herrschaft - Esther-Beate Körber - Страница 10
b) Distanz zu geistigen Traditionen
ОглавлениеWährend die zentralperspektivische Darstellungsweise Distanzierung und festen Standpunkt zugleich buchstäblich ins Bild setzte, vollzogen sich diese beiden Bewegungen auf anderen Gebieten des geistigen Lebens in zwei Schritten. Der Humanismus leitete die neuzeitliche Distanzierung von der Tradition ein. Zum Teil aufbauend auf seinen Methoden, entwickelten sich im Zuge von Reformation und katholischer Reform aus der verwirrend vielfältigen christlichen Religiosität des Spätmittelalters die Konfessionen, religiöse Deutungssysteme, die die Einheit und die Mitte des Christentums zu wahren oder wiederzugewinnen suchten, indem sie dazu anleiteten, es unter einem bestimmten Blickpunkt, sozusagen von einem Standpunkt aus, zu sehen und zu leben.
Der Humanismus war eine Bildungsbewegung des 14. bis 16. Jahrhunderts vor allem an Schulen und Universitäten – aber nicht nur dort –, die darauf zielte, das Ansehen der geisteswissenschaftlichen Fächer (studia humaniora) zu erhöhen und ihre Methoden zu verbessern. Als stilistische und literarische Vorbilder galten Schriften der klassischen Antike. Die Humanisten spürten solche Schriften in alten Bibliotheken auf und gaben sie neu heraus, seit dem 15.Jahrhundert auch mithilfe des Buchdrucks.
Buchdruck
Der Buchdruck mit beweglichen Lettern wurde um 1440 in Mainz von Johannes Gensfleisch zum Gutenberg (1394/99–1468) erfunden. Die technische Neuerung bestand in einer speziellen Gussform für die Lettern, einer besonderen Druckfarbe und der Ordnung der einzelnen Buchstaben nach Häufigkeit in verschieden großen Fächern im Setzkasten. Als Presse verwendete Gutenberg eine abgewandelte Obstpresse. Sein berühmtester Druck war eine 1456 fertig gestellte Bibelausgabe, bei der eine Seite 42 Zeilen hatte (daher 42-zeilige Gutenberg-Bibel genannt).
Lateinische Werke machten den größten Teil der Schriften aus, die die Humanisten drucken ließen. Einiges erschien auch in Griechisch oder Hebräisch. Diese beiden Sprachen genossen in Europa große Wertschätzung, weil in ihnen die Bibel abgefasst ist, das maßgebende Buch der Christenheit.
Ursprünglich wollten die Humanisten nur antike Texte als Bildungsgut neu zur Verfügung stellen und den als nachlässig und abgeschliffen empfundenen Stil des mittelalterlichen Kirchenlateins durch einen neuen, eleganteren Stil ersetzen, der an antiken Vorbildern geschult wäre. Aber aus dieser eng beschränkten Bildungsbewegung wurde viel mehr, denn sie stieß eine weitere spezifisch neuzeitliche Distanzierung an. In der Begegnung mit den alten Texten erfuhren die Humanisten mindestens unterschwellig die große Distanz, die zwischen ihrer Zeit und der Antike lag. Sie wollten sich zunächst nur von den antiken Vorbildern anregen lassen, ja sogar zur „Wiedergeburt“ (ital. rinascità, frz. renaissance) der Antike beitragen. Aber dabei wurde ihnen die Fremdheit der alten Texte zunehmend bewusst, vor allem das Heidentum der antiken Schriftsteller im Gegensatz zu der tief christlich geprägten Welt Europas in ihrer Gegenwart. Die „Renaissance“ wurde in Wahrheit keine „Wiedergeburt“ oder Wiedererweckung der Antike, sondern eine Art produktiven Missverständnisses: Die Menschen nahmen zwar Formen der Antike auf, ordneten sie aber in neue Zusammenhänge ein und schufen damit etwas Eigenes nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten.
Vielfach glaubten sie, das antike Vorbild nur „nachzuahmen“. Z.B. veranstalteten sie zur Feier militärischer Siege große „Triumphzüge“ (trionfi) nach antikem Muster. Die prächtigen Gebäude ihrer Zeit errichteten sie mit antiken Formen – Säulenhallen, griechischen Kapitellen, Dreiecksgiebeln über den Fenstern – und betonten die waagerechten Linien anstelle der aufstrebenden Senkrechten mittelalterlich-spätgotischer Spitzbögen. Sogar beim Schreiben bevorzugten sie die an der Antike orientierten Rundbögen und nannten die entsprechende Schrift die „Antiqua“. Doch aus all diesen Bemühungen entstand etwas Neues. Der Triumphzug bezog christliche Elemente und allegorische Gestalten ein. Die neue Architektur orientierte sich stärker als die antike an der Raumwirkung und an der Ausrichtung auf einen Zentralpunkt oder eine zentrale Achse. Die Schriftformen wurden stärker standardisiert, schon dadurch, dass sie sich durch den Buchdruck massenhaft verbreiteten. Die Religion der Antike interessierte die Menschen der Renaissance allenfalls äußerlich. Nur wenige liebäugelten mit Formen eines neuen Heidentums wie der deutsche „Erzhumanist“ („Herrscher“ oder „Erster“ der Humanisten) Conrad Celtis (1459–1508). Die meisten begnügten sich damit, Anregungen aus der Antike mit dem christlichen Weltbild zu vereinigen. Das heißt aber, dass sie gerade die Distanz zwischen ihrer Welt und der Antike deutlich wahrnahmen und die Spannung zu lösen versuchten, die sich daraus ergab. Humanismus und Renaissance als geistige Bewegungen gingen auf Distanz zur mittelalterlichen Tradition, ohne sie ganz über Bord zu werfen.
Der Humanismus wiederum bildete die Voraussetzung für neue Erkenntnisse und Vorstellungen seit der Reformation. Denn durch ihre Beschäftigung mit Griechisch und Hebräisch, den Sprachen der Bibel, hatten einige Humanisten neues Interesse am Urtext der Bibel geweckt. Sie entdeckten, dass sich in die lateinischen Bibeltexte, die im Mittelalter benutzt worden waren, Fehler eingeschlichen hatten. Um einen verlässlicheren Text zu gewinnen, gaben einige Gelehrte die Bibel in den Ursprachen neu heraus und übersetzten sie aufs Neue in die Gelehrtensprache Latein. Eine berühmte lateinische Bibelübersetzung stammt von dem „Fürsten der Humanisten“, Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536). Sie wurde 1516 gedruckt.
Bibelübersetzungen
Philologisch noch genauer als die Bibelübersetzung des Erasmus ist die viersprachige Bibelausgabe der Universität von Alcalá in Spanien, die so genannte Biblia Complutensis, in Hebräisch, Griechisch und Latein sowie einer interpretierenden Übersetzung der fünf Bücher Mose, der Thora, ins Aramäische. Sie erschien von 1512 bis 1516.
Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass nur der Urtext der Bibel den Maßstab für die Lehre und das Leben der Christen abgeben sollte. Wer die Bibel in eine Volkssprache übersetzen wollte – Bemühungen dazu gab es seit langem –, der sollte sich fortan möglichst nach dem Urtext richten.
Den Grundsatz, dass nur der Urtext der Bibel für Lehre und Leben der Christen maßgeblich sein soll, nennt man das „Schriftprinzip“. Es gilt als spezifisch protestantisch. Das stimmt aber nur zum Teil; denn das Schriftprinzip ist älter als die lutherische Reformation, es kommt aus dem Humanismus. Und es wurde nicht nur maßgeblich für die protestantischen Kirchen, sondern auch für die spätere römisch-katholische Kirche, wenn auch in abgeschwächter Form. Während der Protestantismus nach Luthers Worten „allein die Schrift“, d. h. ausschließlich den Urtext der Bibel, als Grundlage für Leben und Lehre der Christen anerkennt, lässt die katholische Kirche neben der „Schrift“ die kirchliche Tradition als Quelle gelebten und gelehrten Christentums gelten.
Die Reformation war aber vor allem insofern eine neuzeitliche Bewegung, als sie dazu anleitete, die Religion (das Christentum) nicht mehr wie im Spätmittelalter als eine Vielfalt von religiösen Pflichten und Aktivitäten zu sehen und zu leben, sondern in einer festen geistigen Haltung, die gewissermaßen den „Standpunkt“ des Christen bilden sollte. Diesen „Standpunkt“ nannte Luther Glauben, bedingungsloses und vollkommenes Vertrauen auf Gott. Allein durch den Glauben (sola fide) gewinnt man nach Luther das richtige Verhältnis zu Gott. Wenn in der Haltung des Glaubens allein die Schrift (sola scriptura) betrachtet wird, dann erschließt sich, gewissermaßen als „Fluchtpunkt“ lutherischen Christentums, die Tatsache, dass der Mensch allein durch die Gnade (sola gratia), die verzeihende Zuwendung Gottes, lebt und zu ihm geführt wird.
Luther glaubte, mit dieser Erkenntnis das Christentum nach biblischem Vorbild wiederhergestellt („reformiert“) zu haben; daher heißt die Bewegung, die sich auf ihn berief, Reformation. Tatsächlich aber entstand etwas Neues, Neuzeitliches, ein Christentum, in dem der Glaube, eine feste Haltung und Beziehung zu Gott, den einzigen Zugang zur Religion darstellte, von dem alles abhing. Mehr als alles andere scheint diese Einzigartigkeit des Glaubens bei Luther seine Zeitgenossen irritiert, bisweilen schockiert zu haben. Viele Humanisten z.B. teilten Luthers Kritik an der Kirche der Zeit, verstanden aber nicht, warum er die religiösen Werke – Gottesdienste, Wallfahrten, Opfer – und selbst die guten Taten des Menschen gegenüber dem Glauben abwertete und ohne Glauben für völlig sinnlos hielt. Darüber kam es zum Bruch Luthers mit dem Humanismus und mit der alten Kirche.
Die alte Kirche wiederum erneuerte sich, distanzierte sich im Laufe der Jahre immer schärfer von Luther und den anderen Reformatoren und bemühte sich entschiedener darum, das zu verbreiten oder wieder aufzurichten, was nach ihrer Meinung die richtige, allgemeine („katholische“) christliche Lehre sei (siehe Gegenreformation/katholische Reform).
Gegenreformation/katholische Reform
Die Erneuerungsbewegung der katholischen Kirche richtete sich einerseits gegen Luther und die anderen Reformatoren und wird daher als „Gegenreformation“ bezeichnet. Andererseits und hauptsächlich bemühte sie sich aber darum, Leben und Lehre der Papstkirche zu erneuern. Dafür hat sich die Bezeichnung „katholische Reform“ eingebürgert.
Auf dem Konzil (der Bischofsversammlung) von Trient, das in mehreren Sitzungsperioden von 1545 bis 1563 tagte, wurde die katholische Lehre gegen die der Reformatoren abgegrenzt. Dabei ging auch die katholische Kirche davon aus, dass der Christ einen festen „Standpunkt“ einzunehmen habe. Es ist die Treue zur Kirche, verstanden als Gemeinschaft der Gläubigen unter der Leitung des Papstes, eine Gemeinschaft, in der die Tradition durch Lehre und durch die Weihe der Priester in der Nachfolge der Apostel Jesu Christi weitergegeben wird. Erst aus der Haltung der Kirchentreue erschließt sich in katholischem Verständnis die volle christliche Wahrheit, und zwar nur dann, wenn man nicht nur die Schrift, sondern auch die Tradition beachtet.
Die tridentinische Erneuerung verstand sich als Wiederaufbau der geschwächten „alten“ Kirche; daher sprachen auch katholische Reformer von „Reformation“, wenn sie ihr Werk meinten. Aber tatsächlich entstand auch hier etwas Neues, spezifisch Neuzeitliches: Die Lehre von der Kirche erhielt im römischen Katholizismus nach Trient (dem „nachtridentinischen“) eine zentrale Stellung; in bewusstem Gegensatz zu den Auffassungen Luthers wurden der besondere Charakter des priesterlichen Amtes und die Lehrautorität des Papstes betont. Diese Art der Zentrierung lehnten viele Zeitgenossen ab, auch wenn sie ansonsten treu zur katholischen Kirche standen. Dass etwa der Papst sich in Trient entschieden über das Konzil stellte und beanspruchte, seine Beschlüsse ausdrücklich genehmigen zu müssen, wurde verschiedentlich missbilligt; der sehr kirchenbetonte Frömmigkeitsstil der Jesuiten, die in ganz Europa für die katholische Reform wirkten, stieß oft auf Misstrauen und Ablehnung.
Reformation und katholische Reform hatten die gleichen Grundlagen, das distanzierende Schriftprinzip des Humanismus und die Gewinnung neuer zentraler Gesichtspunkte, unter denen Einheitlichkeit und Mitte des Christentums deutlich werden sollten. Sie unterschieden sich aber in den „Standpunkten“ und in der Blickrichtung. Vereinfacht formuliert: Der Protestantismus sieht vom Glauben her auf die Schrift, der Katholizismus von der Kirche her auf Schrift und Tradition. Da die unterschiedlichen „Perspektiven“ einander ausschlossen, brach die Einheit der mittelalterlichen Kirche auseinander: Aus der vielfältigen „alten“ Kirche des Spätmittelalters entwickelten sich durch Reformation und katholische Reform stärker vereinheitlichte Kirchen, die von ihren Anhängern jeweils eine spezifische feste geistige Haltung, einen „Standpunkt“ verlangten. Deshalb wirkten sie in Organisation und Lehre bald in Konkurrenz zueinander. Von der Organisation der mittelalterlichen Kirche übernahmen sie, was sie brauchen konnten, und schafften ab, was nicht oder nicht mehr ihren Vorstellungen entsprach. Um eine gesicherte Lehrgrundlage zu haben, fixierten sie die christliche Lehre im Licht der neu gewonnenen „Standpunkte“ schriftlich. Diese Schriften nennt man Bekenntnisschriften, weil sich die Christen zu der in ihnen niedergelegten Lehre und nur zu ihr bekennen sollten.
Bekenntnisschriften
Die erste Bekenntnisschrift der Reformation in der Nachfolge Luthers ist das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) von 1530. Die Kirchen in der Nachfolge Calvins (reformierte Kirchen) stützen sich auf die Schrift Calvins Institutio religionis Christianae (erste Ausgabe 1536, letzte von Calvin durchgesehene Fassung 1559). Für die katholische Kirche können die Dekrete des Konzils von Trient (1545–1563) als Bekenntnisschrift gelten.
Alle westlichen Kirchen der Neuzeit orientieren sich an Bekenntnisschriften und berufen sich auf sie. Deshalb nennt man diese Kirchen Konfessionskirchen (nach lat. confessio = Bekenntnis). Die Konfessionalität, die Orientierung an zentralen Bekenntnisschriften, ist das Neuzeitliche am Christentum West- und Mitteleuropas. Zwar setzte sich auch die Konfessions-Religiosität nicht von einem Tag auf den anderen durch. Der Prozess der Konfessionsbildung nahm Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte in Anspruch, denn um die religiöse Bildung der einfachen Leute stand es zu Beginn des 16. Jahrhunderts ziemlich schlecht, und es dauerte lange, bis sich die konfessionellen Normen im Alltag durchgesetzt hatten. Das Prinzip der Konfessionalität aber galt als „richtig“ und normal, so wie in der Kunst die zentralperspektivische Darstellung als Norm akzeptiert wurde.
Da das konfessionelle Prinzip als richtig galt, versuchten alle Menschen, sich nach der jeweiligen Konfession zu richten, die sie für die einzig richtige Art christlichen Glaubens hielten; und wenn sie Obrigkeiten waren, verpflichteten sie auch ihre Untergebenen darauf. Dadurch wurden Alltag und Politik konfessionell geprägt; politische und konfessionelle Fragen vermischten sich fast untrennbar. Bündnisse galten als stabiler, wenn die Bündnispartner der gleichen Konfession angehörten; bei Handelsgeschäften wurden Angehörige der eigenen Konfession begünstigt, während man Anderskonfessionellen zu misstrauen begann. Bücher aus Druckorten fremder Konfession waren bald prinzipiell verdächtig; wer wissen wollte, wie Anderskonfessionelle dachten, musste sich seine Literatur durch Schmuggel besorgen. Reisen oder Studium im Ausland waren entweder ganz verboten oder mussten sich auf Gebiete der eigenen Konfession beschränken. Wo es den Zeitgenossen irgend möglich schien, teilte sich Europa nach Konfessionen. Ein begabter Junge aus dem katholischen Ingolstadt wurde vielleicht nach Bologna zum Studium geschickt, aber nicht ins näher gelegene, aber protestantische Tübingen; umgekehrt konnte der Magister aus Uppsala im lutherischen Schweden selbstverständlich in Marburg lehren, aber nicht im belgischen Löwen, das katholisch war. Sogar die Kalenderreform von 1584 galt im protestantischen Europa als nicht akzeptabel, weil ein Papst, Gregor XIII. (1572–1585), sie ins Werk gesetzt hatte. So akzeptierten die Protestanten den neuen „gregorianischen“ Kalender erst im Laufe des 17.Jahrhunderts, und bis dahin bestanden „alter“ und „neuer Stil“ des Kalenders in Europa nebeneinander. Weil in der Zeit etwa von 1550 bis 1700 konfessionelle Gesichtspunkte das gesamte Leben prägen sollten – auch wenn sie sich unterschiedlich weit durchsetzten –, nennt man diese Zeit auch das „konfessionelle Zeitalter“ oder das Zeitalter des „Konfessionalismus“. Später spielten konfessionelle Kategorien zwar ebenfalls noch eine Rolle, prägten aber nie mehr so stark das gesamte Leben wie im konfessionellen Zeitalter.