Читать книгу Habsburgs europäische Herrschaft - Esther-Beate Körber - Страница 9
Оглавление2. Kennzeichen der europäischen Neuzeit
a) Zentralperspektive
Die zentralperspektivische Darstellungsweise wurde im 14. und 15. Jahrhundert in Italien und den Niederlanden entwickelt und setzte sich zuerst dort und im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts im übrigen Europa als die allein „richtige“ und treffende Art der künstlerischen und wissenschaftlichen Abbildung durch. Ihre geistige Grundlage ist das Erringen eines distanzierten Standpunktes: Wer „perspektivisch“ (eigentlich richtiger: „zentralperspektivisch“) zeichnen will, muss auf Distanz zu den darzustellenden Gegenständen gehen und zugleich einen festen Standpunkt ihnen gegenüber einnehmen. Wenn man von einem festen Standpunkt aus zeichnet, und nur dann, erscheinen die Gegenstände der Zeichnung räumlich, der Raum wird darstellbar. Zugleich gewinnt das Bild eine räumliche Einheit und Geschlossenheit, die der Zentralperspektive eigen ist: Alle den Raum durchschneidenden Linien, gezeichnete und gedachte, treffen sich in einem zentralen Punkt, dem Fluchtpunkt.
Die neue Möglichkeit, Raum darzustellen, revolutionierte die Malerei und eröffnete einigen Wissenschaften neue Wege. Der Raum wurde ein eigenes malerisches Thema, etwa in der Landschafts- und Architekturmalerei. Tier- und Kräuterbücher wie die des Tübinger Gelehrten Leonhart Fuchs (1501–1566) nutzten die Zentralperspektive, um Tiere und Pflanzen in ihren räumlichen Strukturen zu erfassen. Auftrieb gab sie offensichtlich auch der Anatomie. Einige Maler der italienischen Renaissance wie Leonardo da Vinci (1452–1519) und Michelangelo (1475–1564) sezierten Leichen, um den Aufbau des menschlichen Körpers zu erforschen und ihn „richtig“ darstellen zu können; zur eigenen Übung fertigten sie anatomische Skizzen an. Sektionen des menschlichen Körpers wurden allmählich nicht mehr als Frevel angesehen wie im Mittelalter, sondern als eine notwendige Forschungsaufgabe. An der Florentiner Malerakademie (gegründet 1561) wurde Unterricht in Anatomie erteilt. Der Arzt Andreas Vesalius (1514–1564), der in Padua lehrte, führte als Erster öffentliche medizinische Sektionen durch und kam durch seine Arbeit zu neuen medizinischen Erkenntnissen. Die ersten anatomischen Atlanten wurden gedruckt und machten den materiellen Aufbau des menschlichen Körpers sichtbar. Leonardo da Vinci konnte mithilfe zentralperspektivisch erfasster Skizzen Maschinen und ihre Teile so mathematisch genau zeichnen, dass man sie nach seinen Skizzen nachbauen könnte. Die Zentralperspektive machte mithilfe geometrischer Methoden den Raum nicht nur darstellbar, sondern auch messbar, und ließ ihn dadurch beherrschbar erscheinen. Sie bahnte damit den Weg für die spezifisch neuzeitliche Einstellung – die sich allerdings erst später durchsetzte –, dass die Wahrheit allein durch Geometrie zu erfassen sei.