Читать книгу TIONCALAI - Esther-Maria Herenz - Страница 10

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Magie

Neolyt schlich tief ins Gras geduckt auf den Hasen zu. Der Wind stand günstig, er würde sie nicht bemerken. Noch ein Schritt, dann – doch plötzlich durchschnitt ein Schuss die Stille und der Hase sprang wie der Blitz im Zickzack davon. Erschreckt drehte Neolyt ihre Ohren in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Sie konnte Menschenrufe und Hundegebell hören. Was sollte das? Bis zur Jagdsaison mussten es noch mindestens zwei Monde sein. Ihr Blick verfinsterte sich. Wilderer. Mordsüchtige Menschen mit Gewehren, die im Frühjahr die Jungen schossen. Letztes Jahr hatte ihr Rudel drei Welpen an sie verloren.

Sie wollte gerade davonlaufen, als sie ein klägliches Heulen vernahm, das ihr das Blut in den Adern erstarren ließ. Flit. Diese Mistkerle hatten ihn erwischt. Entgegen all ihrer Instinkte lief sie in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war.

Immer wieder tauchte sie in den Schatten der Bäume unter, um nicht entdeckt zu werden, aber sie musste sich beeilen. Abermals heulte Flit. Dieser Dummkopf! Die Menschen würden ihn noch vor ihr finden! Sie lief weiter, ins Unterholz geduckt, vernahm schon das Bellen der Hunde, als sie ihn endlich entdeckte. Er schleppte sich hinkend durchs Gebüsch, eine deutliche Blutspur hinterlassend. Sie sprang auf ihn zu, packte ihren kleinen Bruder im Genick und verschwand mit ihm so schnell sie konnte im Unterholz. Über die versteckten Pfade, die sie wählte, würden ihr die Menschen nicht so leicht folgen können.

Das Bellen der Hunde und die Rufe der Menschen wurden immer leiser. Sehr gut, so viel war ihnen ihre Beute also nicht wert.

Auf einer kleinen Lichtung hielt sie schließlich an und legte Flit auf das Moos. Er zitterte am ganzen Leib und hatte die Augen weit aufgerissen. Ängstlich und flehend sah er sie an. Doch Neolyt wich seinem Blick aus. Nach den Gesetzen des Rudels hätte sie ihn nicht einmal vor den Menschen retten dürfen – wer verletzt war, wurde nicht gerettet, um das Rudel nicht in Gefahr zu bringen. Aber beim weißen Hirsch, sie konnte doch ihren eigenen Bruder nicht einfach sterben lassen!

Neolyt konzentrierte sich kurz und nahm dann ihre menschliche Gestalt an. In einer Tasche ihrer Hose fand sie den Beutel mit Heilsalbe, die ihr die Kräuterfrau aus dem Menschendorf gegeben hatte. Zum Glück hatte die Kugel Flit nur gestreift. Wäre sie eingedrungen, hätte sie ihm nicht mehr helfen können. Neolyt wusch die Wunde mit dem Wasser aus ihrer Trinkflasche aus und trug vorsichtig die Salbe auf. Gerade wollte sie einen Fetzen von ihrem Hemd abreißen, als hinter ihr ein Ast knackte. Blitzschnell fuhr sie herum. Ein Wilderer stand zwischen den Bäumen, das Gewehr auf ihren Bruder angelegt.

Es knallte, die Kugel flog.

Instinktiv stellte sich Neolyt in ihre Bahn und streckte die Hand aus. Zu spät wurde ihr klar, wie dumm das war. Wie in Zeitlupe flog die Kugel auf sie zu, als wolle sie den Moment des Aufpralls hinauszögern. Nur wenige Handbreit von ihr entfernt schien sie in der Luft stehen zu bleiben.

Schien? Neolyt blinzelte. Die Kugel bewegte sich tatsächlich nicht. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und mit einem dumpfen Geräusch fiel die Kugel ins Moos.

Neolyt achtete nicht auf den Wilderer, der mit panischen Blicken davonhastete, und auch nicht auf Flit, dessen Augen vor Erstaunen riesig geworden waren.

Was um alles in der Welt hatte sie getan?

Deor hatte sich als Dörfler verkleidet und in eine der Dorf­kneipen gesetzt, um ein paar ­Neuig­keiten aufzu­schnappen, die auf potenzielle Schüler hinwiesen. In letzter Zeit machte ein Gerücht die Runde, im Wald würde eine Hexe leben, die sich in einen Wolf verwandeln könne. Meistens war so etwas nur dummes Gerede, aber das war, wie Valria immer behauptete, schließlich sein Spezialgebiet. Sie leitete die kleine Gruppe von Reitern, die hier in Tukmela nach Kindern mit magischem Potenzial suchten.

„Sie hat dem Wolf, den ich angeschossen habe, das Blut ausgesaugt, und als ich sie erschießen wollte, hat sie die Kugel in der Luft angehalten und auf mich zurückgelenkt. Ihr wisst ja, dass ich mich normalerweise von Nichts aus der Ruhe bringen lasse, aber da lief‘s mir kalt den Rücken runter, kann ich euch sagen.“ Das war der Jäger, der behauptet hatte, die Hexe gesehen zu haben.

Die Männer an seinem Tisch sahen ihn mit großen Augen an.

„Der Wald war mir noch nie so richtig geheuer“, meinte einer von ihnen schließlich.

„Erinnert ihr euch an den großen Brand, letztes Jahr an der Nordseite?“

Sie nickten und ihnen war anzusehen, dass sie nicht gerne daran zurückdachten.

„Mein Cousin Erik hat geschworen, dass das, was den Brand ausgelöst hat, ein Drache war.“ Der Sprecher hatte die Stimme gesenkt und sich tief über den Tisch gebeugt. „Und außerdem sagte er, dass auf dem Drachen ein Mensch saß.“

Deor verkniff sich ein Lächeln. An diese Geschichte erinnerte er sich nur zu gut. Er war mit einem seiner Schüler über den Wald geflogen – natürlich vorsorglich mit einem Sichtschild geschützt –, doch hatte dessen junger Drache plötzlich den Feuerhusten bekommen, mitten im Flug. Da hatte auch der beste Sichtschild nichts geholfen.

Das Gespräch der Männer wandte sich wieder uninteressanteren Themen zu und Deor stand auf, um zu gehen. Für heute hatte er genug gehört. Er schmiss dem Wirt noch zwei Groschen auf die Theke, dann war er auch schon draußen. Die kühle, klare Luft war nach dem stickigen und verrauchten Wirtshaus ein Segen. Er gähnte ausgiebig und machte sich auf den Weg zu seiner Drachin Jufra, die sich etwas außerhalb des Dorfes versteckt hielt.

Auf einmal sah er aus dem Augenwinkel eine huschende Bewegung. Jeder andere hätte es für eine Sinnestäuschung gehalten, aber er hatte nicht umsonst eine jahrelange Ausbildung über sich ergehen lassen, ganz zu schweigen von den Erfahrungen, die er während des einen oder anderen Spionageeinsatzes gesammelt hatte. Deor ging langsam weiter, um kein Aufsehen zu erregen, bog um die Ecke und legte einen Unsichtbarkeitszauber über sich. Dann kehrte er wieder um und schlug die Richtung ein, in die die Gestalt verschwunden war. Es war in den engen Gassen zwischen den Häusern zu dunkel, um etwas zu sehen. War es am Ende nur – doch da hörte er Stimmen. Zu einem Flüstern gesenkt kamen sie aus der Hütte neben ihm. Leise schlich er zu einem der Fenster und spähte hinein, aber drinnen war es so dunkel, dass er nichts erkennen konnte.

„… hat dich gesehen“, sagte gerade die Stimme einer älteren Frau.

„Ich weiß. Was erzählt er?“ Das war ein Kind, vermutlich ein Mädchen.

„Stuss, nehme ich an. Du wärst eine Hexe, die ihre Gestalt verändern könne, und hättest eine Kugel in der Luft angehalten.“

„Das habe ich doch nur gemacht, um Flit zu beschützen.“

„Soll das heißen, der Teil mit der Kugel stimmt auch?“

„Ja, Irla, aber ich weiß wirklich nicht, wie. Es ist einfach so passiert.“

„Na schön. Aber wenn du die Kugel doch abgelenkt hast, wozu brauchst du dann die Heilsalbe?“

„Er ist vorher schon angeschossen worden und ich muss den Verband erneuern.“

„Dann gebe ich dir am besten noch Verbandszeug mit, bevor du das schöne Hemd noch völlig ruinierst.“

Man hörte, wie in einer Kiste gekramt wurde.

„Was sagt eigentlich deine Mutter dazu?“

Eine Weile schwieg das Mädchen.

„Mein Vater ist sehr wütend, weil ich die Gesetze des Rudels nicht geachtet habe und zu menschlich wäre“, sagte sie schließlich stockend.

„Aber das ist doch nichts, wofür man sich schämen muss. Es gibt nicht nur schlechte Menschen.“

„Das hat meine Mutter auch gesagt, und dass er froh sein solle, dass Flit noch lebe und uns nichts passiert sei.“

„Deine Mutter ist eine vernünftige Wölfin. Steck das in die Tasche und geh. Pass aber auf, dass dich niemand sieht, Neolyt.“

„Danke, Irla.“

Die Tür öffnete sich, das Mädchen sah sich um und verwandelte sich dann in einen Wolf. Bemerkenswerte Kräfte, dachte Deor und folgte auf leisen Sohlen dem Wolf in den Wald hinein. Hoffentlich war ihr Rudel nicht allzu weit entfernt.

Der Mond war schon lange aufgegangen, als Neolyt endlich die Lagerstätte ihres Rudels erreichte. Während des ganzen Weges hatte sie das Gefühl gehabt, jemand würde sie verfolgen, aber sie hatte niemanden gesehen oder gerochen. Auf leisen Pfoten schlich sie zu Flit hinüber und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Mit geschickten Fingern nahm sie den alten Verband ab. Die Wunde war gut verheilt, trotzdem würde sie noch einmal die Salbe auftragen müssen. Dann legte sie ihm den frischen Stoff um.

„Schlaf gut“, flüsterte sie ihm zu. Nur ein paar Wölfe lagen zwischen den Felsen, die meisten waren auf Jagd, aber Neolyt hatte von Irla Brot bekommen und außerdem war sie jetzt zu müde, um durch den Wald zu hetzen. Sie kuschelte sich dicht neben ihren Bruder, die Ohren wachsam aufgestellt.

Als der Morgen graute, entschied Deor sich endlich, das Mädchen zu wecken. Leise trat er auf die Lichtung mit den Felsen und schlich zu ihr hinüber. Doch kaum, dass er mehr als ein paar Schritte getan hatte, erwachten die ersten Wölfe und hoben misstrauisch ihre Nasen in die Luft. Langsam kniete er sich hin und löste den Unsichtbarkeitszauber. Sofort sprangen die Wölfe auf und liefen knurrend auf ihn zu, doch er blieb ruhig sitzen, die Hände flach auf den Boden gedrückt und den Blick gesenkt. Er hätte sie alle mit einem einzigen Zauberspruch besiegen können, aber er war schließlich nicht die ganze Nacht durch den Wald geschlichen, um den Hass des Mädchens auf sich zu lenken.

„Ich komme in Frieden“, versuchte er es, in der Hoffnung, die Wölfe würden ihn verstehen.

Eine weiße Wölfin trat vor. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und kraftvoll zugleich und ihr Blick verriet ihm, dass sie sich seines friedvollen Vorhabens bewusst war.

Wer seid Ihr und was wollt Ihr?, fragte sie in Gedanken.

Ich bin Deor, Nelars Sohn, und ein Drachenreiter. Im Dorf gehen Gerüchte um, eine eurer Wölfinnen sei nicht ganz das, was sie scheint.

Was soll das heißen? Sie knurrte leise.

Man sagt, sie sei ein Mensch und sie hätte magische Kräfte. Er hielt kurz inne, doch die weiße Wölfin ließ sich nichts anmerken. Wenn das wahr ist, muss sie mit mir kommen, um euch nicht in Gefahr zu bringen. Wir werden sie ausbilden.

Zur Tioncalai?

Ja, sie wird eine Einhornreiterin.

Dann ist es also so weit, hörte er die Wölfin noch denken, bevor sie die Verbindung löste.

Neolyt trat von hinten an die anderen Wölfe heran, die einen Mann umzingelt hatten, der offenbar der Gedankenrede mächtig war. Ihre Mutter wandte sich ihr zu.

Neolyt, es ist an der Zeit, dass du in der Magie unterwiesen wirst. Du wirst mit diesem Mann zu den Einhorn- und Drachenreitern gehen, die dich ausbilden werden.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen. Hatte sie tatsächlich Magie gebraucht? Konnte sie nicht hierbleiben? Was waren die Einhorn- und Drachenreiter? Warum sollte sie in Magie unterwiesen werden?

Es ist zu gefährlich, wenn du hierbleibst. Du könntest die Magie unbewusst einsetzen und großen Schaden anrichten. Du brauchst einen Lehrer, glaub mir.

Ja, Mlema. Aber – wann werde ich wiederkommen? Normalerweise nannte Neolyt ihre Mutter bei ihrem richtigen Namen, Anuim. Doch in ihrer Aufregung benutzte sie wieder das wölfische Wort für „Mama“, wie in der Zeit, als sie ein Welpe gewesen war.

Bald, Alna, bald, erwiderte Anuim zärtlich. Sie sprach Neolyt oft so an, wohl, weil sie ihre einzige Tochter, ihre einzige Alna war. Vielleicht auch etwas später. Aber du wirst uns sicher besuchen können.

Neolyt versuchte tapfer, sachlich zu bleiben, doch die Seite des achtjährigen Mädchens in ihr brach schließlich doch hervor.

„Ich will nicht alleine weg! Bitte, Mlema. Ist es, weil ich Flit geholfen habe? Ich konnte ihn doch nicht sterben lassen! Ich werde nie wieder die Gesetze brechen, versprochen, nie wieder!“, rief sie, ohne zu merken, dass sie ihre menschliche Gestalt angenommen hatte. Tränen liefen ihr über die Wange.

Aber Alna. Natürlich ist das keine Bestrafung. Du wirst sehen, es wird dir sehr gefallen. Ihre Mutter legte die Pfoten auf ihre Schultern und sah ihr in die waldgrünen Augen. Es ist wirklich wichtig, dass du eine Einhornreiterin wirst.

Deor räusperte sich. „Ich werde jetzt meinen Drachen rufen. Erschreckt nicht, sie wird euch nichts tun.“

Wenige Minuten später hörten sie ein Rauschen über ihren Köpfen und ein blaugrüner Drache landete etwas entfernt auf der Lichtung.

„Komm, wir fliegen zum Stützpunkt.“ Deor streckte ihr seine Hand entgegen, doch Neolyt betrachtete sie nur misstrauisch, stand auf und sah sich nach ihrer Mutter um, die bereits zu der Drachin gegangen war. Ehrfürchtig folgte sie ihr und sah die Drachendame mit großen Augen an. Zögernd streckte sie die Hand aus und strich mit den Fingern über die glänzenden Schuppen an ihrem Hals.

Die Drachin drehte den Kopf zu ihr und Neolyt wich erschrocken zurück.

„Hab keine Angst. Wie heißt du?“ Ihre Stimme klang warm und freundlich.

„Neolyt“, flüsterte sie und trat wieder ein Stückchen näher.

„Das ist ein schöner Name. Ich bin Jufra. Und hab keine Angst vor Deor. Normalerweise ist er sehr freundlich, wenn er nicht gerade kleine Wölfinnen am frühen Morgen aus ihrem Rudel nimmt.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und auch Neolyt lächelte vorsichtig.

„Wir müssen jetzt wirklich los“, drängte Deor. „In ein paar Stunden muss ich wieder zurück sein.“

„Mlema!“ Wieder hatte Neolyt Tränen in den Augen, während sie ihre Mutter umarmte.

Mach dir keine Sorgen, Alna. Die Reiter sind alle sehr nett. Und versprich mir, dass du dich benimmst.

Neolyt nickte und lief zu Deor hinüber, der sie vor sich in den Sattel hob.

„Fliegen wird dir gefallen“, meinte Jufra und stieß sich vom Boden ab. Sie flogen über den Wipfeln der Bäume, Jufra legte sich zwischen den Hügeln in die Kurve und stieg mit einigen kräftigen Flügelschlägen noch höher, um sich dann im Sturzflug wieder in das Meer aus Bäumen zu stürzen. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl breitete sich in Neolyts Bauch aus. Sie schrie auf vor Freude, die Tränen der Trauer hatte der Wind schnell getrocknet.

Sie würde eine Einhornreiterin werden.

Der Anfang des Endes.

TIONCALAI

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