Читать книгу TIONCALAI - Esther-Maria Herenz - Страница 15

Оглавление

Mondschatten

Neolyt atmete tief durch und entspannte sich. Alle Sinne waren geschärft. Nur der sechste muckte noch rum, weswegen sie ihn nicht beachtete. Auch so hörte sie durch ihr Wolfsgehör das Knistern des Flammenzaubers früh genug, um sich wegzuducken und die angreifende Kapsel kampfunfähig zu machen. Sofort folgte ein regelrechter Hagelsturm von Flüchen. Nachdem sie fünfzehn ausgeschaltete Kapseln gezählt hatte, machte sie sich auf einen Angriff des Schwertkämpfers gefasst. Es war ungewohnt, von einer Gefahr zu wissen, bevor man sie wahrnahm, und sie war immer noch unsicher, ob der Ablauf der Prüfung tatsächlich eingehalten wurde, doch im nächsten Moment erklang der Angriffsschrei eines Level-1-Kriegers hinter ihr. Kaum fünf Minuten später durchbohrte sie ihn mit dem Dolch und er verschwand, genauso wie die übrige Umgebung. Sie nahm die Projektionsbrille ab.

„Schön“, sagte Wadne nur und schrieb etwas auf ihren Notizblock.

„Nach so vielen Übungsstunden war das nicht anders zu erwarten“, entgegnete Deor lächelnd.

„Gut gemacht“, erklärte auch Yewan und klopfte ihr auf den Rücken. „Jetzt hast du’s erstmal hinter dich gebracht.“

„Nein“, widersprach Neolyt. „Morgen habe ich noch die Tierkunde-Prüfung, danach hab ich’s geschafft.“

Yewan nickte und wandte sich zum Gehen. Deor trat zu ihr heran.

„Hast du noch einmal darüber nachgedacht, was ich dir gestern angeboten hatte?“, fragte er.

„Ja“, erwiderte sie.

„Und?“, hakte er nach, als sie nichts erwiderte. Es war eine ihrer merkwürdigen Angewohnheiten, oft nur das zu antworten, wonach gefragt worden war und angedeutete Fragen zu ignorieren.

„Ich dachte, weil ich sowieso nicht zum Rudel darf, ist es wahrscheinlich gut, wenn ich mit der Ausbildung weitermache.“

„Du bekommst natürlich die Wochenenden frei und ich muss auch für eine Woche nach Yalyris. Dich können dann Wadne oder Valria unterrichten. Aber wenn du möchtest, gebe ich dir die Woche frei.“

„Schon in Ordnung.“ Neolyt hatte keine große Lust, eine ganze Woche tatenlos herumzusitzen, denn Elly und Yewan würden mit den älteren Kämpfern ans Meer fahren und Elnar seine Familie besuchen.

Auf dem Weg zum Speisesaal holte sie Yewan ein.

„Wie war deine Geschichtsprüfung?“, fragte sie ihn.

Er lachte laut auf. „Es lief sogar ganz gut“, gestand er dann. „Aber das heißt ja nichts.“

„Dafür, dass du vorher herumgezetert hast wie eine zänkische Elster, bist du jetzt ziemlich gut gelaunt.“

„Natürlich. Nur noch zwei Prüfungen, dann ist das Jahr geschafft und ich hab Ferien.“ Er grinste.

„Stimmt. Und es ist so unfair, dass ich nicht zum Rudel darf“, erklärte sie, obwohl sie den Grund ganz genau kannte. Deor hatte ihr allerdings geraten, sich trotzdem zu beschweren, damit es niemandem auffiel.

„Vielleicht möchte Deor deine Ausbildung so schnell wie möglich voranbringen“, mutmaßte Yewan und zuckte mit den Schultern. „Du hättest das Angebot nicht annehmen müssen.“

„Aber dann hätte ich nur Langeweile gehabt. Da hab ich doch lieber etwas zu tun.“

„Du hättest fragen können, ob du mit ans Meer darfst. Wadne hätte sicher ein gutes Wort für dich eingelegt.“

Sie reihten sich in die lange Schlange an der Essens­ausgabe ein.

„Deor hätte mir das nie erlaubt“, entgegnete Neolyt. „Weil er mich wirklich schnell ausbilden will, lässt er mir kaum Freizeit“, fügte sie rasch hinzu, um eine einleuchtende Erklärung bemüht, weil Yewan sie überrascht ansah.

„Das war nur eine Mutmaßung“, winkte er ab und fügte naserümpfend hinzu: „Fischsuppe zum Abendbrot. Und ich dachte gerade, der Tag wäre doch ganz gut.“

„Wie sagt Elnar doch immer: ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abendbrot loben’ oder so.“ Neolyt grinste und setzte sich neben Elly auf die Bank.

„Es heißt: ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben’“, berichtigte Elnar sie, während Yewan zu seiner Linken Platz nahm.

„Ist schon gut.“ Neolyt verdrehte genervt die Augen. Elnar hatte auf seinen Sprachunterricht bestanden, was ihrem Ausdruck wahrscheinlich guttat, aber ganz sicher nicht ihren Nerven.

„Wie viele Prüfungen habt ihr noch?“, wechselte Elly das Thema.

„Zwei“, meinte Yewan.

„Tierkunde“, erklärte Neolyt und Elnar sagte, er wäre bereits fertig und würde übermorgen zu seiner Familie aufbrechen.

„Ich muss noch Pflanzenkunde und Beschwörung schreiben und Kampfkünste I hinter mich bringen.“

„Du kämpfst doch gut. Das wird sicher kein Problem“, meinte Yewan leichthin und tunkte das Brot in die Suppe.

„Du hast noch nie gesehen, wie ich waffenlos kämpfe. Das ist eine Katastrophe! Sobald ich die Prüfung hinter mir hab, werde ich es abwählen.“

„Stimmt, ich muss mich noch entscheiden, was ich vertieft fortführe.“

„Du wählst nichts ab?“, fragte Elly ihn überrascht.

„Nein, ich bin in den theoretischen Fächern ein Stück voraus, weil ich so früh angefangen habe. Deswegen hab ich Zeit für die Schwerpunkttrainings.“ Dabei wurde kein Kampfstil vernachlässigt, was ihn später in Xialenóll dazu befähigen würde, ohne Zusatzprüfung die Offiziers­ausbildung zu beginnen.

Elly schnitt eine neidische Grimasse. „Ich wünschte, ich wäre dafür gut genug.“

„Mach dir nichts draus. Dafür bist du in Geschichte viel besser als er“, tröstete Neolyt ihre Freundin.

„Als ob das etwas wäre, worauf man stolz sein müsste.“ Yewan schnaubte spöttisch.

„Nur weil du etwas nicht kannst, heißt es noch lange nicht, dass es automatisch schlecht oder unnütz ist“, warf Elnar ein.

Nach dem Abendbrot zogen sie sich auf ihre jeweiligen Zimmer zurück. Doch an Schlafen dachte keiner der vier, nicht einmal Elnar. Er sah sich seine Notizen über Heil­kräuter an und verbesserte die Zeichnungen. Neolyt übte das Skizzieren der Momenfalter-Skelette und die drei verschiedenen Magieschemen mit den zugehörigen Untergruppen der Momenfalter. Yewan fertigte eine Karikatur Gemals Agensteins an, eines der führenden Hochräte, und lernte nebenbei die magischen Tonfolgen und die Ton-Licht-Tabelle, wobei sein Licht sich abwechselnd dämpfte und erhellte. Elly büffelte Heil- und Giftpflanzen, nachdem sie Septogrammzeichnungen geübt hatte.

Tatsächlich war die Tierkunde-Prüfung für Neolyt am nächsten Tag die schwierigste ihrer bisherigen Prüfungen. Doch obwohl sie für das Magieschema der Glühwichtel länger gebraucht hatte als erwartet, hatte sie am Ende der Prüfung ein relativ gutes Gefühl. Was ihr an diesem Unterrichtsfach nicht gefiel, war, dass von den Zauberwesen immer wieder von niederen Geschöpfen gesprochen wurde. Zum Beispiel wurde bei den Glühwichteln nichts von ihrer Persönlichkeit geschildert. Sie erschienen im Unterricht wie dumme Wesen, die jeden Befehl befolgten, den man ihnen gab.

„Und? Wie war Tierkunde?“, fragte Elnar, der als einziger ihrer Freunde im Aufenthaltsraum saß, als sie hereinkam.

„Wo sind die anderen?“, fragte sie zurück.

„Es ist äußerst unhöflich, auf eine Frage mit einer Gegenfrage zu antworten oder diese schlichtweg zu ignorieren“, merkte er an.

„Ja, ja, Tierkunde war in Ordnung. Wo sind sie denn nun?“ Sie sah sich suchend im Raum um.

„Ich weiß es nicht“, gestand Elnar. „Ich habe sie seit dem Frühstück nicht gesehen und dabei hat keiner von ihnen heute eine Prüfung.“

In diesem Moment kam Elly mit besorgtem Gesicht herein.

„Was ist los?“, fragte Neolyt.

„Ich schwöre, ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er ließ sich partout nicht davon abbringen“, erklärte Elly und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen.

„Was hat Yewan denn gemacht?“, wollte Neolyt wissen.

„Er lässt die Hochräte als Karikaturen im zweiten Stock an den Wänden herumlaufen.“

„Er macht was?“, fragten Elnar und Neolyt gleichzeitig, doch aus unterschiedlichen Gründen.

„Das heißt, dass er komisch verzerrte Bilder der höchsten Reiter in unserer Gesellschaft dort entlanglaufen lässt“, erklärte Elly an Neolyt gewandt und fügte an Elnar hinzu: „Ja, er macht das wirklich. Ich glaube, das ist seine selbsterdachte Aufnahmeprüfung in den Kreis der Unruhestifter, wie sie sich so fantasievoll nennen.“

„Was für ein Kreis?“, fragte Neolyt.

„Eine Gruppe von Schülern, die für den Unsinn hier im Bau verantwortlich sind.“

„Aha.“ Neolyt musste grinsen. „Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis Yewan zu ihnen gegangen ist?“

„Ob du’s glaubst oder nicht, am Anfang soll er recht vernünftig gewesen sein“, meinte Elly und auch sie musste lächeln.

„Na ja, dann schauen wir uns das mal an, oder?“, schlug Neolyt vor und erhob sich.

„Ich hab es mir schon ansehen müssen“, erklärte Elly und lehnte sich demonstrativ in ihrem Sessel zurück.

„Na schön.“ Elnar stand ebenfalls auf und nahm seine Tasche. „Es kann sicherlich nicht schaden, die Kunstwerke einmal in Augenschein zu nehmen.“

Sie eilten den Gang entlang zum Treppenhaus und konnten das Gelächter bereits eine Etage früher hören. Die Bilder sahen tatsächlich gut aus, auch wenn die Figuren merkwürdige Proportionen besaßen.

„Oh nein“, sagte Elnar nur, als er sie sah. „Wenn heraus­kommt, dass er das war, wird er womöglich Ärger von ganz oben bekommen. Wie kann man nur so unvorsichtig sein?“

„Es ist ganz einfach“, erklärte eine Stimme hinter ihnen und als sie sich umwandten, stand dort Yewan und sah unverhohlen selbstzufrieden drein.

„Ach ja? Und wie hat sich der Großmeister des Unsinns abgesichert?“, wollte Elnar wissen.

„Es ist ganz einfach“, wiederholte Yewan und machte sich auf den Weg zu einer Gruppe von Schülern, die anerkennend die Projektionen begutachteten.

Ganze sieben Stunden blieben die Karikaturen an den Wänden, bis schließlich einer der Lehrer einen passenden Gegenzauber gefunden hatte und sie verschwinden ließ.

Am Abend wurden alle in den Speiseraum beordert. Die Lehrer machten ernste Gesichter und Neolyt hatte das Gefühl, dass Yewan sich wohl doch etwas übernommen hatte.

„Ihr wisst, dass heute im Korridor des zweiten Stockes Karikaturen an die Wände projiziert worden sind“, begann Valria. Einige Schüler lachten. „Wir möchten den Verantwortlichen bitten, sich freiwillig zu melden“, fuhr sie fort und sah in die Runde. Ihr Blick blieb an Yewan hängen.

„Warum sollte der Verantwortliche das tun?“, fragte dieser herausfordernd.

„Weil sonst alle Schüler die Konsequenzen tragen müssen“, erwiderte Valria knapp.

„Gut, dann melde ich mich freiwillig als Verant­wortlicher“, erklärte Yewan und machte sich auf den Weg nach vorn.

„Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“, fragte Valria ihn, als er bei ihr angelangt war.

„Ich sehe keinen Grund, mich zu verteidigen.“

„Du hast soeben zugegeben, für die Karikaturen im zweiten Stock verantwortlich zu sein“, rief sie ihm ins Gedächtnis.

„Es war ein Versehen. Ich habe Projektionszauber geübt und dabei ist mir dieses kleine Missgeschick passiert, wofür ich aufrichtig um Entschuldigung bitte.“ Der belustigt sarkastische Unterton in seiner Stimme strafte seine Worte Lügen.

„Und weswegen hast du deine Projektionszauber an Karikaturen geübt?“

„Das sind Gnome!“, rief er in gespielter Empörung aus und alle fingen prustend an zu lachen. „Ich finde nicht, dass sie auch nur im Entferntesten irgendjemandem ähneln“, fügte er hinzu und lächelte.

Valria schien kurz aus der Fassung zu geraten. „Ja, nun … Dann … wollen wir hoffen, dass es bei einem Missgeschick bleibt, Yewan Arcelon“, sagte sie schließlich.

Die Schülerschaft brach in mehr oder weniger gedämpfte Jubelrufe aus und Neolyt war sich sicher, dass Yewan seinen Platz im Kreis der Unruhestifter bereits eingenommen hatte. Ihr Blick wanderte weiter zu Valria und den übrigen Lehrern, die sich auf dem Podest eingefunden hatten. Zu ihrer Überraschung blickte sie weder missbilligend noch wütend, im Gegenteil, um ihre Mundwinkel spielte ein leises Lächeln. Und als Yewan an Deor vorbeiging, nickte dieser ihm anerkennend zu. Merkwürdig. Neolyt hatte immer gedacht, für Unerlaubtes würde man bestraft werden. Aber scheinbar traf das nur zu, wenn man keine solche Rede wie Yewan halten konnte.

Breit grinsend gelangte er schließlich bei ihnen an. „Na? War das genial?“

„Aber ist es nicht selbstverständlich, dass das Karika­dingsda sind und du das mit Absicht gemacht hast?“, fragte Neolyt, bevor jemand anderes etwas sagen konnte.

„Das mag sein, aber sie können es nicht nachweisen.“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Und wenn sie behaupten würden, die ‚Gnome’ sähen aus wie die Hochräte, würden sie öffentlich die Hochräte beleidigen. Das können sie sich nicht leisten.“

Neolyt nickte. Sie glaubte, es verstanden zu haben.

„Ist dir eigentlich klar, wie gefährlich das ist?“, fragte Elly. Sie sah überhaupt nicht fröhlich aus.

„Was soll schon passieren? Es konnte nichts schiefgehen.“

„Warum machst du so etwas überhaupt?“

Neolyt wunderte sich über die Frage. Elly hatte doch selbst gesagt, es wäre die Aufnahmeprüfung für diesen Kreis der Unruhestifter.

„Aus Spaß an der Freude natürlich“, erwiderte Yewan. „Was denkst denn du?“

„Vielleicht, um die Hochräte zu kritisieren?“

Sie reihten sich relativ weit hinten in der Essensschlange ein, doch da Yewan bei ihnen war, kamen sie schnell voran, er war der Held des Abends.

„Also? Wolltest du damit die Hochräte kritisieren?“, hakte Elly nach, als sie sich an einen Tisch setzten.

„Ja, natürlich, sonst hätte ich andere Karikaturen genommen.“

„Ich verstehe nicht, was du gegen sie hast“, erklärte sie aufgebracht. „Sie führen das Land so gut es geht und du hackst ständig auf ihnen herum. Würdest du es besser als sie machen?“

Neolyt wunderte sich über die heftige Reaktion der Freundin. Normalerweise war Elly für jeden Spaß zu haben, viel eher hätte sie von Elnar zurechtweisende Worte erwartet, doch er war ungewöhnlich still.

„Kein Wunder, dass du sie verteidigst. Schließlich bist du in ihrem Schatten großgezogen worden. Ihr Weißstadt-Kinder wisst doch gar nicht mehr, was Recht und was Unrecht ist“, sagte Yewan leichthin, doch Elly schienen die Worte tief getroffen zu haben.

„Und du … du bist doch bloß ein unzivilisierter Piliar!“, fauchte sie.

„Du nennst es unzivilisiert, ich nenne es frei.“

„Als wärt ihr frei!“, schnaubte sie. „Euer Namato hat doch immer noch absolute Macht über euch alle! Und da beschwerst du dich über die Hochräte!“

„Mein Dorf liegt nicht im Machtgebiet des Namatos. Es ist seit Jahrzehnten unter Ivinscher Herrschaft“, erklärte Yewan ruhig.

Neolyt verstand kein Wort.

„Was ist ein Namato?“, fragte sie flüsternd Elnar, während Elly Yewan etwas Bissiges erwiderte.

„Eine Art König. Oder für dich vielleicht Rudelführer.“

„Ach so. Und Piliar?“

„Ein Volk in Yalyris. Es gehört zu den unabhängigen Reichen, die nicht unter der Oberherrschaft der Reiter stehen. Und bevor du fragst: Ivin ist die derzeitige Königin der Reiter und ‚unzivilisiert’ bedeutet so viel wie wild oder schlecht erzogen.“

Neolyt nickte dankbar.

Elly und Yewan redeten den ganzen Abend über kein Wort mehr miteinander.

„Was ist mit ihr?“, wollte Neolyt schließlich von Yewan wissen. Elly hatte sich einige Tische weiter hingesetzt und beschäftigte sich mit Lernen.

„Sie ist im Randviertel von Xialenóll, der Hauptstadt der Einhorn- und Drachenreiter aufgewachsen. Die Kinder werden dort sehr streng politisch erzogen.“

„Und die Stadt ist weiß?“

„Ja, der Hauptteil der Stadt ist vollkommen aus weißem Fels gehauen. Nur die Außenbezirke bestehen aus normalen Gebäuden. Und weil ich jetzt ihre ach so tollen Hochräte angegriffen habe, ist sie sauer.“

„Aber du hast sie doch gar nicht angegriffen“, meinte Neolyt verwundert.

„Es gibt auch andere Arten, jemanden anzugreifen, als mit dem Schwert oder den körperlich gegebenen Waffen“, erklärte er.

„Aber es war doch nur ein Spaß.“

„Natürlich. Allerdings solltest du das lieber ihr erklären, nicht mir.“

Neolyt sah zu ihrer Freundin hinüber. „Vielleicht lieber morgen“, wandte sie ein.

„Ja, da besteht die Möglichkeit, dass sie dich nicht gleich als unzivilisierte Wilde abschreibt.“

Sie sah Yewan bestürzt an.

„Hey, das war ein Witz.“ Er lächelte.

„Aber es stimmt doch, oder? Ich wusste nicht einmal, wie man richtig isst, als ich hierherkam.“

„Es ist nichts Schlechtes daran, die Freiheit zu kennen und sich nicht den Fesseln der Gesellschaft und des guten Benehmens unterworfen zu haben“, erklärte er.

„Wenn du meinst …“

In den nächsten Tagen hatte Neolyt alle Hände voll zu tun, Elly dazu zu bringen, wieder ein Wort mit Yewan zu reden. Doch als die beiden nach bestandenen Prüfungen mit ihrer Schwertkampfklasse ans Meer fuhren, herrschte immer noch eisiges Schweigen zwischen den beiden.

Neolyt blieb allein zurück und war froh, durch die Ausbildung abgelenkt zu werden. Sie hatte schreck­liches Heimweh und da sie nun vollkommen allein in dem Zimmer war, wuchs das Gefühl der Einsamkeit.

Elbea hatte schon vor Tagen ihre Abschlussprüfungen bestanden und war gemeinsam mit einigen anderen nach Xialenóll gereist, um dort die Einhornprüfung abzulegen und schließlich von einem solchen erwählt zu werden. Neolyt hatte erst wenige Blicke auf „echte“ Einhörner erhaschen können, doch viel mehr als einen gehörnten Kopf oder einen steingrauen Schweif hatte sie nicht gesehen. Gerne würde sie einmal ein Einhorn genau betrachten und berühren. Sie hatte natürlich schon viel über sie gehört und wusste, dass sie die Wesen bald auch im Unterricht kennenlernen würde, aber Bilder in Büchern sahen meistens anders aus als die Wirklichkeit. Deshalb freute sie sich, als Deor ihr eröffnete, dass sie die Baumwesen nach hinten verschieben und stattdessen direkt mit den Einhörnern anfangen würden.

„Dein Ferien-Unterricht soll dir schließlich ein bisschen Spaß machen“, meinte er und lächelte.

Neolyt fand es sehr nett, dass er sich Mühe gab, ihr mit dem Unterricht nicht die Ferien zu veröden, wusste er doch, weswegen sie nicht zum Rudel konnte.

„Was weißt du über Einhörner?“, begann Deor. Sie hatten den Unterricht nach draußen verlegt und saßen unter einer ausladenden Weide am See, deren dicht belaubte Äste sie vor den heißen Sonnenstrahlen schützten.

„Na ja … Die kleinen, die wie Ponys aussehen, sind nicht ganz echt, und Einhörner lassen nur Frauen auf sich reiten“, erklärte sie unsicher.

„Richtig. Und weißt du auch, warum das so ist?“

„Ja“, erwiderte Neolyt stolz. „Die Einhörner haben mit Selay, der ersten Einhornreiterin, einen Pakt geschlossen, dass nur Menschen wie sie auf ihnen reiten dürfen. Und die Einhörner haben das sehr ernst genommen und nicht nur ihre reine Seele und ihren klaren Verstand berücksichtigt, sondern auch ihr Geschlecht. So war es doch, oder?“

„Wahrscheinlich, ja“, bestätigte Deor und lächelte. „Und weißt du, woran du ein echtes Einhorn erkennst?“

„Vielleicht am Horn?“, riet Neolyt.

„Nicht ganz. Natürlich gibt es Pferde, die sehr entfernt mit den Einhörnern verwandt sind und einen kleinen Höcker auf der Stirn haben. Aber das sind selbstverständlich keine echten Einhörner. Das erste Merkmal, auf das du achten musst, ist die Fellfarbe. Einhörner nehmen nur Farben von dunklem Grau zu klarem Weiß an. Es soll auch eines mit schwarzem Fell gegeben haben, aber das sind nur Legenden.“

„Warum gibt es keine Einhörner mit einer anderen Farbe?“

„Einhörner sind reine Wesen des Mondlichts und der Nacht. Das wird auch durch ihr Äußeres ausgedrückt.“

„Und sind alle kleinen Einhörner unecht?“

„Auf keinen Fall. Die Größe ist keineswegs ein Kriterium. Dafür allerdings die Augen. Wenn du einem Einhorn in die Augen schaust, merkst du sofort, ob es echt ist oder nicht. Denn in ihren Augen spiegelt sich ihr ganz persönlicher Charakter. Sie können grün sein oder blau, braun, vielleicht schwarz, alles Mögliche, auch gemischt. Aber sie sind wie bodenlose Teiche und nehmen verschiedene Schattierungen an, je nachdem, wie das Einhorn sich gerade fühlt. Wenn du es anblickst, scheint sich seine Stimmung auf dich zu übertragen. Das ist die sicherste Methode, wie du ein echtes Einhorn erkennen kannst.“

„Wer hat denn gesagt, welche Einhörner echt sind und welche nicht?“

Deor lächelte. Ihm gefiel Neolyts Einstellung, die Dinge zu hinterfragen.

„Eine sehr berechtigte Frage. Es ist so, dass Einhörner nicht von Anfang an mit Pferden gekreuzt wurden, um genügend von ihnen zu züchten. Bis vor einigen Jahrhunderten galten sie als unantastbar und wertvoll. Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Aus dieser Zeit stammen sehr detaillierte Beschreibungen der Einhörner, aus denen wir schlussfolgern können, wie sie ursprünglich aussahen.“

Neolyt nickte.

Die weitere Stunde verbrachte Deor damit, sie mit den grundlegenden Eigenschaften der Einhörner vertraut zu machen. Außer den Fell- und Augenfarben unterschied man zwischen vier unterschiedlichen Arten des Horns, verschiedenen Körperbauten sowie nach Länge und Dichte der Mähne und des Schweifes.

„Früher wäre es niemals jemandem eingefallen, die Mähne oder den Schweif eines Einhornes auch nur zu berühren. Einhornhaar galt schon immer als unzerreißbar, flammenfest und vor allem kann es einen unsichtbar machen.“

„Einhörner können sich unsichtbar machen?“, fragte Neolyt erstaunt.

„Ja. Sie sind mächtige Zauberwesen, auch wenn das heutzutage immer weniger beachtet wird. Das und eben jene unglaublichen Eigenschaften haben dazu geführt, dass einige Einhornreiter für ein entsprechendes Sümmchen – das bedeutet, sie bekommen sehr viel Geld dafür – ihren Einhörnern Mähne und Schweif stutzen lassen, beziehungsweise manchmal sogar ganze Haare herausreißen lassen.“

„Und wehren sich die Einhörner nicht dagegen?“, fragte Neolyt erschrocken.

„Viele von ihnen sind so lange wie dumme Tiere behandelt worden, dass sie letztendlich auch zu solchen geworden sind. Und die gezüchteten haben sowieso von Anfang an den Verstand eines Pferdes.“

„Aber das ist doch furchtbar“, sagte Neolyt traurig und wütend zugleich. „Unternimmt denn niemand etwas dagegen?“

„Nun, es gibt Schutzorganisationen. Jährlich sollen alle Haushalte, die Einhörner beherbergen, geprüft werden. Aber viele entziehen sich dieser Vorschrift, da sie es sich nicht leisten können, den Einhörnern den Komfort zu bieten, der für sie festgelegt wurde.“

„Was ist Kommfohr?“

„Das bedeutet, dass ihnen viele Annehmlichkeiten zustehen und auch bestimmtes Futter.“

„Aber es geht doch darum, wie man sie behandelt, oder? Wenn man sich das Futter nicht kaufen kann und trotzdem nett zu ihnen ist, dann ist das doch nicht schlimm.“

„Genau das ist das Problem. Letztendlich leiden unter dem Gesetz nur die Unschuldigen.“

„Yewan hat recht, die Räte sind merkwürdig.“ Neolyt schüttelte den Kopf.

Das Zwitschern einiger Vögel erfüllte die Mittagshitze, während Deor einen Moment lang schwieg.

„Es liegt natürlich nicht nur an den Räten“, wandte er schließlich ein. „Man bräuchte solche Gesetze gar nicht, wenn die Einhornreiter noch so ehrbar und gewissenhaft wären wie einst.“

„Aber wieso haben die Einhörner nicht erkannt, dass diese Menschen, die damit angefangen haben, nicht gut zu ihnen waren?“

„Das kann ich dir nicht sagen“, antwortete Deor und aus irgendeinem Grund war sich Neolyt nicht sicher, ob er es tatsächlich nicht wusste oder es ihr nicht verraten wollte.

Am Abend saßen sie in kleiner Runde im Speisesaal, nur wenige ältere Schüler verbrachten die Ferien ebenfalls im Bau. Doch sie hatten keinen Unterricht und konnten jeden Tag so lange sie wollten ohne Aufsicht an die frische Luft. Neolyt setzte sich etwas abseits von ihnen hin und stocherte lustlos in ihrem Eintopf herum. Sie vermisste Elly, Yewan und Elnar. Ohne ihre drei Freunde verfolgte die Langeweile sie auf Schritt und Tritt.

„Ravela, Neolyt, weshalb so trübsinnig?“ Wadne hatte sich ihr gegenüber niedergelassen, allerdings ohne einen Teller.

„Ach, nichts“, meinte sie und versuchte, fröhlicher auszusehen.

„Gut. Ich wollte dich nur fragen, was wir in der nächsten Woche machen wollen. Deor ist nicht da und ich wollte dich eigentlich nicht mit regulärem Unterricht quälen. Wenn du möchtest, könnte ich dir schon einmal die nächste Semesterprüfung abnehmen. Dann würdest du einen Kurs weiterrutschen. Das wäre nicht schlecht, oder?“

„Oh ja, danke. Die meisten Dinge, die wir gerade lernen, hat mir meine Mutter schon beigebracht.“

Einen Moment sah Wadne sie nachdenklich an. „Ich hätte da eine Idee … Ich glaube, ich überrasche dich damit, es wird dir gefallen“, erklärte sie schließlich, lächelte ihr noch einmal zu und stand dann auf.

„Levan, Neolyt“, verabschiedete sie sich.

„Levan, Wadne“, erwiderte Neolyt und nickte ihr, wie es die Höflichkeit gebot, zu. Mit den Umgangsformen der Reiter hatte sie sich schnell anfreunden können, da es ähnliche auch in ihrem Rudel gab und ihre Mutter stets darauf geachtet hatte, dass sie sich gut benahm.

Am nächsten Tag beendete Deor bereits am Vormittag das Thema der Einhörner mit einer kleinen Wissensüberprüfung und gab ihr den Nachmittag frei.

In der Bibliothek hielt sich zu diesem Zeitpunkt niemand auf und sie war froh, ganz für sich zwischen all den Büchern zu sein. Sie holte den Stein heraus, den Yewan ihr geschenkt hatte, und betrachtete ihn eingehend. Er war zweifelsohne ein Meisterwerk. Viele der darauf abgebildeten Sterne kannte sie gut. Doch einige ganz kleine meinte sie, noch nie vorher gesehen zu haben. Mit einer kleinen, abgerundeten Nadel fuhr sie das Sternbild der Schlange nach und augenblicklich ertönte eine Abfolge klarer, harmonischer Töne.

„Guten Tag“, sagte plötzlich eine vertraute Stimme hinter ihr.

„Guten Tag, Herr Lumis“, sagte sie und drehte sich zu ihm um. Die Bibliotheksbewohner waren vermutlich die einzigen im Bau, die nicht die Umgangsformen der Reiter benutzten, doch Neolyt störte sich nicht daran. Ganz anders als einige der Erwachsenen, die sich bereits darüber ausgelassen hatten, dass die Schüler in der Bibliothek schlechten Einflüssen ausgesetzt wären.

„Würden Sie eventuell gern ein Buch über die Kunst zur Hand nehmen, welche Sie gerade zu praktizieren versuchen?“, fragte er sie und wie immer dauerte es ein wenig, bis sie seinen Satz verstanden hatte.

„Gerne, danke.“

So verbrachte sie den gesamten Nachmittag damit, in verschiedensten Büchern zu stöbern, und konnte nach kurzer Zeit bereits kompliziertere Melodien erklingen lassen. Auch die Art, wie man diese Steine schuf, glaubte sie, mehr oder weniger verstanden zu haben.

Als sie die Bibliothek spät am Abend verließ, fiel ihr ein, was Yewan gesagt hatte, als sie sich zum ersten Mal gesehen hatten. War sie jetzt schon so geworden wie Deors ehemaliger Schüler? War es unnormal, dass sie den Nachmittag in der Bibliothek verbrachte? Sollte sie ihre Zeit sinnvoller nutzen? Und wie konnte sie das tun? Yewan hatte gemeint, er würde den Schwertkampf oder das Reiten üben. Aber sie durfte nicht allein in die Trainingshalle und geritten war sie noch nie.

Tief in Gedanken merkte sie nicht, dass sie den Weg zu ihrem Zimmer eingeschlagen hatte, anstatt zum Speisesaal zu gehen.

„Ravela, Neolyt. Warst du überhaupt schon essen? Ich hab dich gar nicht gesehen“, ließ Wadne sie aufschrecken und da erst merkte sie, wo sie war.

„Ravela. Nein, aber ich hab auch keinen Hunger.“

„Denk daran, dass wir morgen viel Sport treiben wollen“, meinte Wadne. „Ich wollte dir nur noch sagen, dass wir uns vier Stunden vor Mittag in der Trainingshalle treffen.“

Neolyt nickte ihrer Lehrerin zu und schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf. Es war dunkel, und auch nachdem sie die Lampen entflammen ließ, wirkte der Raum kühl und verlassen. Neolyt seufzte und ließ sich aufs Bett fallen. Es war merkwürdig so allein. Im letzten Jahr hatte es ziemlich viele Veränderungen gegeben. Das Rudel war sicherlich gerade auf der Jagd, Sommernächte eigneten sich besonders gut zum Hatzen, weil die Beute oft schon schläfrig war und nicht lange durchhielt. Wie es Flit wohl ging? Hoffentlich war er noch am Leben. Sie gähnte. Der Tag in der Bibliothek hatte sie müde werden lassen. Bald darauf war sie fest eingeschlafen.

Erst am nächsten Morgen bemerkte sie, dass sie in ihren Kleidern geschlafen hatte. Ihr war unangenehm warm und sie hatte einen komischen Geschmack im Mund. Doch nachdem sie sich geduscht und ihre Zähne geputzt hatte, war sie hellwach und gespannt auf den Unterricht mit Wadne, die ihr schließlich eine Überraschung versprochen hatte.

Nach dem Frühstück lief sie zur Trainingshalle hinüber, um sich schon einmal aufzuwärmen.

„Ravela, Neolyt. Nun, wenn du jetzt schon hier bist, können wir gleich anfangen“, meinte Wadne mit einem kurzen Blick auf das Gerät an ihrem Handgelenk. „Ich würde sagen, du legst zuerst die nächste Semesterprüfung ab. Dann haben wir das hinter uns und können mit unserem kleinen Projekt beginnen.“ Bei den letzten Worten lächelte sie geheimnisvoll.

Neolyt setzte die Projektionsbrille auf und nahm sich eines der Simulationsschwerter. Sicherlich würde sie nur Gegner haben, die nacheinander auftraten, aber noch auf dem Level-1-Niveau waren. Sie hatte die Vorbereitungen auf die Prüfung schon oft durchgekämpft, auch wenn das Semester noch nicht begonnen hatte.

Einen Moment lang musterte sie die Umgebung. Anders als in den Übungsstunden war sie nicht in neutralem braun gehalten, sondern in weiß. Das war merkwürdig. Doch schon kündigte sich der erste Krieger durch den typischen Schrei an. Ihn hatte sie in wenigen Minuten ausgeschaltet und wartete aufmerksam auf den nächsten. Einige Sekunden lang geschah überhaupt nichts, dann hörte sie abermals den Schrei eines Kriegers und machte sich bereit. Anstelle eines Kriegers tauchten jedoch mit einem Mal die restlichen neun gleichzeitig auf und griffen sie an. Trotz des ersten Schocks versuchte sie, sich so gut wie möglich zu wehren und schaffte es tatsächlich einige Minuten lang, sie auf Abstand zu halten. Doch schließlich hatten sie sie in die Enge getrieben. Instinktiv nahm sie ihre Wolfsgestalt an und sprang einem der verbliebenen fünf an die Kehle, ohne daran zu denken, dass ihre Zähne während der Simulation nichts ausrichten konnten. Tatsächlich sprang sie einfach durch Krieger hindurch und zu ihrem Pech drehte der sich schnell um und traf sie mit seinem Schwert.

„DURCHGEFALLEN“, leuchtete in großen, roten Buchstaben über den Bildschirm.

Verärgert nahm Neolyt die Brille ab und sah in Wadnes schuldbewusstes Gesicht.

„Tut mir Leid, Neolyt, aber wenn ich dir gesagt hätte, dass ich eine Zufallsprojektion eingelegt habe, wärst du nicht so überrascht gewesen. Ich wollte nur testen, wie schnell du dich im Notfall in einen Wolf verwandeln und reagieren kannst“, erklärte sie schnell.

„Dann war das nicht die Semesterprüfung?“

„Nein, die kannst du morgen früh oder, wenn du möchtest, auch heute Abend schon machen. Das war nur ein kleines Experiment meinerseits.“

„Gut, ich habe schon gedacht, ich hätte alle Übungen wieder verlernt.“

„Nein, keineswegs, du hast dich sehr gut geschlagen“, versicherte ihr Wadne.

„Danke. Was machen wir denn jetzt eigentlich?“, hakte Neolyt noch einmal nach.

„Nun, da so schönes Wetter draußen sein soll, habe ich mir gedacht, wir gehen hinaus.“ Wadne zwinkerte ihr zu und blieb geheimnisvoll.

Gemeinsam packten sie ein paar Übungswaffen in eine dafür vorgesehene Tasche und machten sich auf den Weg zu einem der Aufzüge. Klappernd bewegten sie sich nach oben, bis sich die Türen endlich öffneten und sie über eine kleine Treppe ins Freie gelangten. Unter einer großen Eiche mit dickem Stamm und weitem, Schatten spendendem Blätterdach setzte Wadne die Tasche ab und nahm einen Dolch heraus.

„Damit kämpfst du am liebsten, oder?“

Neolyt nickte.

„Dann erkläre ich dir jetzt, was ich vorhabe. Deor hat mir erzählt, dass du nicht nur Mensch, sondern auch ein Wolf bist. Und ein Wolf ist in erster Linie ein Raubtier, hat also, so vermute ich, auch seine eigenen Angriffs- und Verteidigungstechniken. Liege ich da richtig?“

„Ja.“

„Ich finde, es wäre interessant, deine menschlichen und wölfischen Fähigkeiten zu vereinen. Das ergäbe einen ganz neuen Kampfstil. Ich habe so etwas auch noch nie gemacht, aber einen Versuch wäre es wert, oder?“

„Auf jeden Fall“, pflichtete Neolyt ihr begeistert bei. Das war genau das, was sie brauchte, etwas, in dem sie Mensch und Wolf zugleich sein konnte. Vielleicht war es ihr dann auch möglich, es auf andere Situationen zu übertragen.

Die erste Unterrichtsstunde lief etwas chaotisch ab, da sie keinen genauen Ansatzpunkt hatten. Doch bereits am zweiten Tag machten sie einige Fortschritte, indem sie vorgingen, wie sie es sonst im Unterricht auch taten, und mit einzelnen Angriffen oder Verteidigungen begannen. Neolyt hatte dafür den Dolch gewählt, da dieser sich am leichtesten mit den wölfischen Taktiken verbinden ließ.

„Würdest du es schaffen, dich im Sprung zu verwandeln?“, fragte Wadne am Vormittag des dritten Tages.

„Ich kann es versuchen“, meinte Neolyt. Sie ging etwas in die Knie und machte sich zum Sprung bereit. Dann schnellte sie hoch und nahm im gleichen Moment ihre Wolfsgestalt an. Doch die Verwandlung vollendete sich erst, als sie bereits wieder mit allen Pfoten auf dem Boden stand.

„Schon nicht schlecht, aber das musst du schneller hinbekommen.“

Neolyt sprang. Es war anstrengend und mühselig und am Abend brannten ihre Beinmuskeln höllisch, doch am Ende des Tages schaffte sie einen perfekten Sprung mit darin enthaltener Verwandlung. Außerdem gelang es ihr bereits ansatzweise, damit Wadnes Deckung zu durchbrechen, auch wenn sie vermutete, dass ihre Lehrerin das absichtlich zugelassen hatte.

Am Nachmittag des nächsten Tages ließ Wadne Neolyt für kurze Zeit allein trainieren, da sie die Kampfstöcke in der Halle vergessen hatte. Das Licht unter der Eiche war beruhigend grün-golden und Neolyt genoss die von Gezwitscher und Laubrauschen erfüllte Stille. Wadne war noch nicht wieder da und sie hatte sich erlaubt, eine Pause einzulegen, da es sie noch immer anstrengte, sich so schnell zu verwandeln, ganz abgesehen davon, dass auch das Kampftraining sie stark beanspruchte. Sie hatten begonnen, mit teilweiser Verwandlung zu arbeiten, wovon sie vorher nicht einmal gewusst hatte, dass sie so etwas überhaupt konnte.

Als sie mehrere Äste knacken hörte, setzte sie sich abrupt auf. Wadne hatte keine Pause erlaubt und sie wollte das Risiko nicht eingehen, von ihr erwischt zu werden.

Das Rascheln verstummte. War das wirklich Wadne gewesen?

Auf einmal überfiel Neolyt die Angst. Deor hatte doch gesagt, sie solle sich nicht allein außerhalb des Baus aufhalten. Was geschah, wenn jetzt jemand von denen kam, die sie töten wollten? Sie tastete nach dem Dolch an ihrem Gürtel und stellte sich mit dem Rücken zur Eiche. Ein nützlicher Zauberspruch wollte ihr nicht einfallen, ihr Kopf war wie leergefegt. Vor ihr bewegten sich laut raschelnd die Äste eines Busches und ihre Finger schlossen sich krampfhaft um das Heft des Dolches. Dann war es wieder eine ganze Weile lang still. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt und überreagiert. Es war wahrscheinlich nur der Wind oder ein Reh gewesen. Sicherheitshalber hielt sie ihre Wolfsnase in die Luft, auch wenn sie inzwischen wusste, dass man den Geruch abschirmen konnte. Sie roch nichts Auffälliges, keine Menschen, keine Drachen und auch keine Einhörner. Aber auch kein Reh oder ein anderes Tier, was groß genug gewesen wäre, solch einen Lärm zu veranstalten.

„Sei gegrüßt, Lunornaila“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich und fuhr zusammen. Ganz langsam spähte sie hinter dem Stamm hervor, den Dolch fest umklammert, auf alles gefasst, auch wenn die Angst ihr fast den Atem nahm.

Sie hätte alles erwartet, nur nicht das, was sie sah. Es war ein Pferd. Ein silbergraues Pferd mit dunkelblauen Augen, mit denen es sie aufmerksam ansah.

„Hast du geredet?“, fragte Neolyt schließlich verblüfft, nachdem sie sich einigermaßen gefasst hatte.

„Natürlich.“

„Wer bist du?“

„Das ist eine schwierige Frage. Möchtest du lieber meinen Namen wissen?“, entgegnete das Pferd.

„Ja“, sagte Neolyt, denn das hatte sie gemeint.

„Mondschatten werde ich von den meisten genannt, aber das ist nur einer von vielen Namen. Du hingegen hast nur einen. Neolyt Lunornaila.“

„Was bedeutet das? Warum nennst du mich Luno…“

„Lunornaila? Das heißt in deiner Sprache Wolfstochter. Und das bist du doch, nicht wahr?“, fragte Mondschatten und trat einen Schritt näher.

Neolyt nickte.

Eine Weile lang schwiegen sie und musterten sich gegenseitig.

„Was machst du hier?“, fragte Neolyt schließlich.

„Ich habe dich gefunden.“

„Warum wolltest du mich finden?“

„Manches ist schlecht, wenn es zur falschen Zeit ausgesprochen wird“, antwortete Mond­schatten geheimnisvoll. „Aber was hast du so ganz allein im Wald zu suchen?“

„Eigentlich bin ich gar nicht allein, aber Wadne ist in den Bau gegangen, weil wir die Kampfstöcke vergessen haben.“

„Sie ist schon wieder da“, meinte Mondschatten, den Blick auf etwas hinter ihr gerichtet. Doch als sie sich umdrehte, war da niemand.

„Da ist doch gar …“ Aber das graue Pferd war verschwunden.

„Was machst du da, Neolyt?“, fragte Wadne hinter ihr.

„Da war ein Pferd. Es hat gesagt, es heißt Mondschatten.“

Einen Moment lang sah Wadne sie ungläubig an, doch dann nickte sie.

„Gut, machen wir weiter.“

Am Abend tat Neolyt alles weh, weil sie noch nie vorher mit einem Stock gekämpft hatte und viele Treffer hatte einstecken müssen. Kaum, dass sie sich gewaschen und hingelegt hatte, fiel sie in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.

Sie ist wieder an der Eiche, es ist Nacht, silberweißes Mondlicht sickert durch das Laubdach und malt verschlungene Muster auf den Waldboden. Wie am Tag auch raschelt es in den nun dunklen Büschen neben dem Baum und das graue Pferd tritt hervor. Mondschattens Fell schimmert im Licht wie Silberfäden.

„Sei gegrüßt, Mondschatten“, sagt Neolyt, doch kaum ein Wispern dringt über ihre Lippen.

Das Pferd antwortet nicht und trottet vorbei, als habe er sie nicht bemerkt. Mondschatten sieht älter aus und müder als am Tag zuvor, beinahe etwas traurig. Schweigend folgt sie seinem langsamen Schritt, während die Eiche und auch die ihr vertraut gewordenen Büsche und anderen Bäume verschwimmen. Nur noch ein Gemisch aus blauschwarz und silberweiß umgibt sie. Doch es stört sie nicht, sie folgt einfach dem matt schimmernden Fell, und als sich die Umgebung wieder verfestigt hat, weiß sie nicht mehr, wo sie ist.

„Wohin gehen wir?“, wagt sie, ein zweites Mal ihre Stimme zu erheben, doch abermals dringt kaum ein Laut aus ihrem Mund heraus.

Sie erreichen eine große Lichtung. Die langen, dünnen Halme, die im Mondlicht glänzen, reichen ihr bis über die Hüften. Kein Lüftchen regt sich, eine gespannte, drückende Stille liegt über allem. Wie Wasser teilt sich das Gras vor ihnen und hier und da flattern kleine Wesen auf, in denen sie Elfenfalter erkennt. Sie lassen sich auf Mondschattens Rücken nieder, der stehen geblieben ist und zum Himmel hinaufsieht. Sie folgt seinem Blick, kann aber nichts Ungewöhnliches entdecken, nur Sterne funkeln vom Himmel herab, Sterne, die sie nicht kennt. Ein fremder Himmel.

Worauf warten sie nur?

Es ist so ruhig, dass sie am liebsten schreien würde, um diese erdrückende, gespenstige Stille zu zerbrechen, aber sie schweigt. Etwas wird gleich passieren. Das weiß sie.

Und dann ist es so weit.

Grelles Licht überflutet den Himmel. Weit entfernt ist eine Säule aus diesem Licht zu sehen, die eine Kuppel auszusenden scheint. Doch bald muss sie den Blick abwenden, weil das weiße Strahlen in ihre Augen sticht. Aber Mondschatten sieht noch immer hinauf und ist so gebannt, dass sie nicht an sich halten kann und ebenfalls wieder nach oben blickt. Einzelne weiße Punkte rasen zu der Lichtsäule. Sie sehen aus wie Sternschnuppen. Auch Mondschatten beginnt zu leuchten. Oder spiegelt sein Fell das weiße Licht? Unmöglich, denn es wird immer heller und mit einem Mal löst es sich von ihm und steigt auf zu den anderen Lichtern, weit hinauf.

Staunend verfolgt sie das Schauspiel. Was ist das nur? Ihr Blick fällt erneut auf Mondschatten. Sein Fell ist nicht mehr silbern. Es sieht eher aus wie Stein. Er regt sich auch nicht mehr. Langsam und immer wieder zögernd tritt sie näher und streckt die Hand aus.

Dann wird alles dunkel …

Als Neolyt am nächsten Morgen erwachte, hatte sie das Gefühl, irgendetwas Wichtiges geträumt zu haben. Aber als sie versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen, sah sie nur blau, schwarz und weiß, was ihr nicht besonders wichtig vorkam.

So reine, gute Wesen - wer hat sie verraten?

TIONCALAI

Подняться наверх