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Marcelo Lumis

Als Neolyt am nächsten Morgen erwachte, waren die Lampen in ihrem Zimmer kaum heller geworden, es musste wohl noch sehr früh sein. Müde ging sie zum Waschraum und war überrascht, dort bereits Elly anzutreffen.

„Morgen“, murmelte Neolyt und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht, um wach zu werden.

„Morgen. Gut geschlafen?“

„Ging so“, log Neolyt. Obwohl das Licht geleuchtet hatte, war sie noch mehrere Male aus beängstigenden Träumen aufgeschreckt und fühlte sich nun, als hätte sie die ganze Nacht einen Hasen durch den Wald gehetzt. Sie wusch sich und ging dann zurück, um sich anzuziehen. Es war ein ungewohntes Gefühl, sauber zu sein, wenn auch nicht unangenehm.

Im Speisesaal saßen noch nicht viele Leute, hauptsächlich Lehrer und ein paar ältere Schüler. Neolyt war dafür äußerst dankbar, der Lärm hätte ihren empfindlichen Ohren arg zugesetzt. Nachdem sie etwas gelbes Zeugs gegessen hatte, das Elly als Rührei bezeichnete, was Neolyt nicht so recht nachvollziehen konnte, schließlich war der Inhalt von Eiern flüssig und hauptsächlich durchsichtig, fühlte sie sich schon besser, und als sie Yewan auf sich zukommen sah, lächelte sie sogar.

„Auch schon wach?“, fragte er und blieb neben ihr stehen.

„Schon eine Weile“, antwortete sie.

„Tja, nicht jeder kann ein Langschläfer sein. Aber Deor wird froh sein, er meinte, du sollst in die Bibliothek kommen, wenn du fertig mit dem Frühstück bist.“

„Alles klar, dann mach ich mich mal auf den Weg.“

Neolyt wandte sich um und stellte ihr Geschirr auf einen Wagen, der daraufhin wie von selbst losfuhr und in rasanten Kurven zur Küchentür schlitterte. Neugierig sah sie ihm nach. War so etwas normal oder funktionierte das mit Magie?

Sie beeilte sich, in die Bibliothek zu kommen.

„Guten Tag“, grüßte sie Deas und stellte sich auf Zehen­spitzen, um über den Schreibtisch blicken zu können, an dem er saß.

„Guten Morgen, Neolyt“, antwortete er und nahm seine Lesebrille ab. „Deor ist dort hinten, er hat noch ein bisschen zu tun, müsste aber bald fertig sein. Geh nur ruhig schon mal zu ihm.“

Neolyt machte sich auf den Weg, unterwegs fuhr sie mit dem Finger die vielen Buchrücken entlang. Irgendwie schienen die Schatten in der Bibliothek zu leben, sie blieben niemals an einer Stelle. Mit den Fingern folgte sie dem Weg eines Lichtflecks und legte den Kopf in den Nacken, um nach der Lichtquelle zu suchen. Zu ihrem Erstaunen schwebte ein leuchtender Puschelball von der Decke herab. Zögerlich streckte sie die Hand aus und kicherte, als die Fellkugel darauf landete. Auf einmal öffnete sich ein Schlitz darin und ein kleines Männchen streckte seinen mit langen Fühlern besetzten Kopf heraus.

„Guten Morgen“, sagte es. „Marcelo Lumis ist mein Name, stets zu Diensten.“

„Ich bin Neolyt. Was heißt zu Diensten?“

„Ich leuchte“, sagte er nur.

„Dann bist du ein Flammengeist?“, fragte sie neugierig.

„Nein!“ Beleidigt zog er das Wort in die Länge. „Ich bin ein Glühwichtel, das sollte man doch sehen!“ Marcelo stieg endgültig aus seinem fliegenden Puschelball hinaus. Seine Haut war durchgehend von einem blassblauen Ton, nur die Spitzen seiner Fühler und sein Hinterteil, das an das einer Wespe erinnerte, leuchteten hellgelb. Er trug ein dunkelblaues Jackett mit vier Ärmeln für seine spindeldürren Ärmchen. Auch seine Beine, der Hals und der Kopf waren sehr dünn.

„Entschuldigung. Ich hab noch nie einen Glühwichtel gesehen.“

„Aha, Neuzugang. Freut mich sehr.“

Neolyt erschrak, als der Puschelball plötzlich, der nun, da der Glühwichtel nicht mehr darin saß, auch nicht mehr leuchtete, zwei große, runde, schwarze Augen öffnete.

„Keine Sorge, Batch ist nicht gefährlich. Ziemlich ungefährlich sogar, sehr gutmütig“, erklärte Marcelo. „Und stupide.“

„Was heißt stupide?“, fragte Neolyt.

„Dumm, begriffsstutzig, engstirnig, einfältig, borniert, hirnverbrannt, minderbemittelt, schwachköpfig, schwerfällig oder, umgangssprachlich, auch blöd oder doof“, sagte der Glühwichtel und warf damit weit mehr Fragen auf, als er beantwortete, aber Neolyt verzichtete darauf, sie zu stellen. „Wen oder was suchst du hier?“, fragte er.

„Deor. Deas meinte, er müsse irgendwo dahinten sein.“

„Ich bring dich hin“, bot Marcelo an und setzte sich in Batchs offenes Maul.

Eine Weile gingen, beziehungsweise schwebten sie schweigend nebeneinander her.

„Frisst Batch dich nicht, wenn du in ihn hineinsteigst“, fragte Neolyt schließlich, nachdem sie die beiden längere Zeit beobachtet hatte.

„Nein“, antwortete Marcelo, als wäre diese Vorstellung absolut abwegig. „Wieso sollte er? Er ist nicht intelligent genug zum Schlucken und Verdauen. Batch existiert. So, wie jeder Baschou.“

„Dann isst er gar nichts? Wie kann er überleben?“

„Gar nicht. Batch lebt nicht, im weitesten Sinne des Wortes. Er existiert.“

Neolyt beließ es dabei, auch wenn sie es nicht verstand.

„Dort ist er“, sagte Marcelo schließlich und deutete auf einen Sessel, der mit dem Rücken zu ihnen stand. Er verneigte sich, dann stieg er in Batch hinein und klappte den Mund des Baschou zu.

Neolyt ging um den großen Sessel herum. Deor saß nicht darin.

„Deor?“, fragte Neolyt und trat näher.

„Hallo“, sagte der Sessel.

„Was?“, fragte Neolyt verblüfft.

„Ich habe Hallo gesagt“, erklärte der Sessel und gähnte mit einem Mund aus Kordeln.

„Hallo“, sagte Neolyt. „Ist es normal, dass du sprichst?“

„Ja.“ Der Sessel sprach melodisch und weich, wie man es von einem Samtsessel erwartete. „Du willst zu Deor?“

„Ähm, ja, genau. Ist er nicht hier?“

„Doch. Ich sag ihm Bescheid.“

Eine Weile beobachtete sie den Samtbezug, bis sich etwas darunter zu bewegen schien und mit einem Mal Deor aus dem Sessel auftauchte.

„Guten Morgen, Neolyt“, sagte er und lächelte ihr zu.

„Guten Morgen. Ist das bei allen Sesseln so?“

„Nein“, erklärte er und stand auf. „Die meisten hier sind ganz normal. Aber ein paar können dich verschlucken, damit du beim Lesen deine Ruhe hast.“

„Aber der Sessel meinte, es wäre normal, dass er reden könne.“

Deor gluckste belustigt. „Natürlich sagt er das. Für ihn ist es nichts Ungewöhnliches. Siehst du, du würdest doch auch sagen, dass es normal ist, dich in einen Wolf zu verwandeln, nicht wahr?“

„Ja. Aber das ist doch auch ein bisschen normal, oder? Es gibt sicher viele Leute, die sich in einen Wolf oder etwas anderes verwandeln können.“

„Oh nein, Neolyt. Das können nur ganz wenige Menschen. Es heißt, manche Elfen hätten diese Fähigkeit und auch ein paar Kobolde in der Simeb-Wüste. Aber Leute wie dich gibt es nur ganz selten. Man könnte sogar behaupten, dass du die einzige Halbwölfin derzeit bist.“

„Wirklich? Was ist die Simeb-Wüste?“

„Das heben wir uns für den Geografieunterricht auf“, antwortete Deor und stieg über einen Teppich, der sich auf dem Gang zusammengerollt hatte und zu schnarchen schien.

„Geografie?“, hakte Neolyt nach und sah neugierig zum Teppich zurück, während sie Deor zwischen den Bücher­regalen folgte.

„Da bringe ich dir etwas über die Beschaffenheit Yalyris’ oder die Entstehung von Gebirgen und Winden bei.“

„Was ist Yalyris?“

„Das ist das Land, in dem die Einhorn- und Drachenreiter herrschen und unsere Hauptstadt Xialenóll liegt. Aber dort leben auch viele andere Wesen, zum Beispiel in der Simeb-Wüste.“

„Aha.“

Sie gingen weiter, bis sie an Deas’ Schreibtisch angelangt waren.

„Du gehst schon?“, fragte der Bibliothekswächter und sah auf.

„Ja, aber ich schick sie dir heut Nachmittag wieder vorbei.“

„Gut. Schönen Tag noch“, meinte Deas und wandte sich wieder seinen Pergamenten zu.

Deor und Neolyt setzten ihren Weg durch die Gänge der unterirdischen Schule fort, die von Flammengeistern in hellwarmes Licht getaucht wurden. Schließlich hielten sie vor einer kleinen Tür, die auf eine Handbewegung Deors hin aufsprang. Der Raum dahinter war klein, doch durch ein Fenster fiel Tageslicht hinein. Neolyt trat näher heran und versuchte, nach draußen zu sehen, doch dann fiel ihr wieder ein, dass es hier unter der Erde gar keine Fenster geben konnte.

„Warum …“, begann sie und drehte sich um, doch der Schrank, den Deor soeben geöffnet hatte, verschlug ihr die Sprache. Bis zur Decke reichten die Etagen des hölzernen Riesen, die voller magischem Krempel zu sein schienen.

„Anfängerspeicher“, sagte Deor und zu ihrer Verblüffung rutschten die Etagen nach unten und von oben tauchten neue auf. Ob das normal für einen Schrank war?

Schließlich hielten die Bretter an und Deor nahm einen gefleckten, wachteleigroßen Stein heraus, warf ihn einmal kurz in die Luft und legte ihn dann auf einen kleinen, steinernen Tisch. Der Schrank verschwand in der Wand, die ebenfalls aus Stein war.

„Hier wirst du in den nächsten Tagen den grundlegenden Umgang mit Magie erlernen“, erklärte ihr Deor. „Es ist nämlich nicht ungefährlich zu zaubern, vor allem am Anfang. Es kann alles Mögliche schiefgehen, aber mit solchen Magiespeichern hier“, er deutete auf den Stein, „sind die schlimmsten Gefahren gebannt.“

Neolyt sah ihn erwartungsvoll an, gespannt darauf, wie es weiterging.

„Du musst den Stein berühren und dir das, was du tun willst, vorstellen. Das erfordert eine Menge Konzentration, aber keine Sorge, wir fangen ganz leicht an.“ Er legte eine kleine, weiße Feder neben den Stein auf den Tisch. „Lass die Feder schweben und ruf mich, wenn du es geschafft hast. Ich bin nebenan bei Yewan, aber ich werde dich hören und dann sehen wir weiter.“ Gerade, als er den Raum verlassen wollte, schien ihm noch etwas einzufallen. „Und hier sind noch mehr Federn, falls … etwas schiefgehen sollte.“ Er deutete auf eine Kiste, die neben der Stelle stand, an der eben noch der Schrank gewesen war. Dann hatte sich die Tür auch schon hinter ihm geschlossen.

Neolyt atmete tief durch, doch ihr wild klopfendes Herz ließ sich dadurch nicht beruhigen. Zögernd trat sie näher an den Tisch heran. War es wirklich so einfach? Würde sie tatsächlich gleich Magie benutzen? Das war so aufregend!

Sie hielt den Atem an und legte die Hand auf den gefleckten Stein. Es kribbelte leicht, aber das war wohl die Aufregung. Dann richtete sie den Blick auf die Feder und dachte mit aller Kraft: Flieg!

Aber es tat sich nichts.

Flieg!, dachte sie noch einmal, doch die Feder machte keinerlei Anstalten, sich in die Luft zu heben. Enttäuscht suchte Neolyt nach anderen Worten, die die Feder vielleicht dazu bringen würden, sich ihrem Willen zu beugen. Doch auch auf Schweb, Steig auf, Erhebe dich und Beim dreisten Käsemond, jetzt heb endlich deinen Kiel in die Luft! reagierte sie nicht. Trotzig schob sie das Kinn vor. Beim letzten Mal war es ihr ganz leichtgefallen zu zaubern, sogar ohne so einen Stein. Was hatte sie jetzt also falsch gemacht? Konzentrierte sie sich nicht genug?

Neolyt richtete ihren Blick starr auf die Feder und konzentrierte sich so lange auf den kleinen weißen Tauge­nichts, bis er urplötzlich in Flammen aufging.

Zuerst erschrocken, lächelte sie doch bald ungläubig. Sie hatte gezaubert! Sie hatte tatsächlich Magie gebraucht! Es war zwar nicht ganz das gewesen, was sie hatte erreichen wollen, aber doch Zauberei. Sie nahm sich eine neue Feder und beugte sich konzentriert über den Tisch. Deor hatte gesagt, sie solle sich vorstellen, wie die Feder flog, das konnte so schwer nicht sein. Mit aller Kraft stellte sie sich vor, die Feder würde sich endlich von dem steinernen Tisch erheben. Doch anstatt ihrem Wunsch Folge zu leisten, nahm sie eine knallgrüne Färbung an. Neolyt runzelte die Stirn, ließ sich dadurch jedoch nicht aus der Fassung bringen. Abermals konzentrierte sie sich und die Feder zerfiel zu Staub.

Die nächsten drei Federn explodierten nach wenigen Minuten in gelben, blauen und violetten Flammen, die vierte floss als spärliches Rinnsal davon, die fünfte schrumpfte erst auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe, um dann wie ein Insekt davonzukrabbeln, und die sechste verwandelte sich mit einem leisen Puff und ein wenig grünem Qualm in eine Primel. Doch Neolyt war begeistert. Zu was sie alles fähig war! Dass die Federn nicht im Traum daran dachten zu fliegen, störte sie nicht.

Doch irgendwann wurde sie der brennenden, bunten und vergrößerten oder verkleinerten Federn müde. Irgendetwas musste sie falsch machen. Vielleicht bestand ein Unterschied zwischen dem Versuch, eine Feder zum Fliegen bringen zu wollen, und sie fliegen zu lassen. Sie nahm den Stein fest in die Hand und stellte sich vor, die Feder hochzuheben. Ohne Mucken erhob sie sich einige Handbreit vom Tisch und blieb dort schweben. Neolyt hob die Hand und berührte sie vorsichtig, woraufhin sie wieder hinabfiel.

„Deor“, rief sie und kurze Zeit später öffnete sich die Tür und ihr Mentor trat ein.

„Hoppla“, sagte er, als er beinahe auf ein Federtier trat. „Interessant, was du alles anstellst, wenn du eine Feder fliegen lassen sollst.“

„Nicht wahr?“ Neolyt strahlte.

„Und hast du auch geschafft, was du machen solltest?“

„Natürlich.“ Neolyt nahm den Stein fest in die Hand und die Feder erhob sich wieder in die Luft.

„Sehr schön.“ Er sah auf ein merkwürdiges Gerät an seinem Handgelenk und notierte dann etwas auf einem Blatt Pergament. „Kaum eine Stunde. So schnell wird die fliegende Feder selten gemeistert. Dann wollen wir mal.“

Abermals ging er zum Schrank hinüber und holte eine weitere Kiste heraus, die er zwischen sich und Neolyt auf den Tisch stellte. In der nächsten Stunde ließ Neolyt die verschiedensten Dinge durch den Raum schweben. Es gelang ihr meist auf Anhieb, die Gegenstände in die Luft zu befördern, und mit jedem Mal wuchsen ihr Stolz und ihre Begeisterung. Sie konnte zaubern! Sie konnte richtig, wahrhaftig zaubern! Und es fiel ihr absolut leicht.

„Mich würde interessieren, wie du die Sachen fliegen lässt“, sagte Deor schließlich und pflückte einen Kerzenleuchter vor sich aus der Luft.

„Mit dem Stein“, sagte sie und hielt den Magiespeicher hoch. Das war doch selbstverständlich.

„Ja, aber was stellst du dir dabei vor?“

„Ich hebe die Sachen hoch“, antwortete Neolyt unsicher. War das falsch?

„Aha, das dachte ich mir. Dann wollen wir mal sehen, ob du auch das hier zum Fliegen bringst.“ Er nahm einen großen Stein aus der Kiste, den Neolyt niemals mit bloßen Händen heben könnte.

Sie konzentrierte sich und spannte den ganzen Körper an, ihre Hände zitterten.

„Warte kurz“, unterbrach Deor sie. „So wirst du es nicht schaffen. Du darfst nicht von deinen physischen Kräften ausgehen.“

„Wovon?“

„Von dem, was du auch ohne Magie tun könntest. Oder eben nicht“

„Ach so.“ Abermals konzentrierte sich Neolyt auf den Stein und stellte sich vor, ihn ganz einfach zu heben. Wackelnd erhob er sich in die Luft.

„Sehr gut“, sagte Deor und sie erschrak so sehr, dass der Stein auf den Tisch zurückfiel und tiefe Risse hineinschlug.

„Oje“, meinte sie und betrachtete sorgenvoll die demolierte Tischplatte.

„Halb so wild“, erklärte Deor lächelnd, hob den Stein auf und fuhr mit der Hand über die Risse, woraufhin diese verschwanden. „Dieser Raum hat schon Schlimmeres erlebt.“

„Wann kann ich so etwas auch machen?“, fragte sie neugierig und fuhr mit dem Finger über die makellos glatte Platte.

„Immer langsam mit den jungen Pferden, du wirst es früh genug lernen. Wichtig ist, dass du zuerst eine der grundlegenden Prinzipien der Magie begriffen hast.“

Neolyt sah ihn fragend an.

„Man muss die Grenzen des Möglichen erweitern. Du kannst nicht zaubern, wenn du nur das, was du physisch auch schaffst, für möglich hältst.“

Ja, das leuchtete ein.

„Du musst also immer davon ausgehen, dass das, was du vorhast, ohne Weiteres möglich ist.“

„Dann kann man mit Magie alles machen?“, fragte Neolyt verblüfft.

„Letztendlich schon, alles ist möglich. Aber jeder muss persönlich seine Grenzen finden. Würdest du alle existierende Magie lenken können, wäre für dich nichts unmöglich. Aber da dem nicht so ist, würdest du spätestens bei dem Versuch, die Zeit zurückzudrehen, scheitern.“

„Man könnte in der Zeit reisen?“

„Für manches höheres Wesen ist Zeit nicht von Bedeutung, sie können sich in der Zeit bewegen, wie wir im Raum. Aber wir werden diese Fähigkeit niemals besitzen.“

„Was sind die anderen Prinzipipen der Magie?“, fragte Neolyt weiter.

„Prinzipien. Und die kann ich dir, wenn du so weiter­machst, vermutlich morgen schon erklären“, sagte Deor und blickte wieder auf das Gerät auf seinem Handgelenk. „Du übst jetzt am besten noch ein bisschen mit dem Stein und den anderen Sachen. Probiere doch einmal, mehrere Dinge gleichzeitig fliegen zu lassen, und mach die keinen Kopf, wenn etwas kaputt geht, das ist kein Problem. Ich sag Bescheid, wenn du zum Mittagessen gehen kannst.“

Als Deor zwei Stunden später den Kopf wieder hereinsteckte, hatte Neolyt nur einen Teller und eine versehentlich gläserne Feder zu Bruch geflogen. Sie packte die Sachen in die Kiste und Deor stellte diese in den Schrank zurück. Gemeinsam mit Yewan gingen sie zum Speiseraum.

„Warst du wirklich schon fertig, als du Deor gerufen hast?“

„Wann war das denn?“

„Auf jeden Fall keine Stunde, nachdem du angefangen hattest.“

„Kann sein.“

„Irre!“ Yewan grinste von einem Ohr zum andern. „Sollte ’ne Weile her sein, dass das passiert ist. Ich hab ganze anderthalb Stunden gebraucht, bis das Mistvieh endlich das gemacht hat, was es sollte.“

„Das ist doch nicht viel mehr.“

„Über eine halbe Stunde. Und dabei war ich zwei Jahre älter als du jetzt.“

„Ja schon, aber …“

„So etwas braucht einem nicht peinlich zu sein. Es hat noch nie jemandem geschadet, schlauer zu sein als andere.“

„Aber das hat doch nichts mit Wissen zu tun.“

„Richtig, das ist Intuition, also so etwas wie angeborene Intelligenz.“

Neolyt wurde rot und war froh, dass ihr der Lärm des Speiseraums eine Antwort ersparte. Sie nahm sich einen Teller voll langer, dünner, gelber Fäden mit roter Soße und setzte sich zu Elly, die bereits mit einer komplizierten Technik ihre Fäden aß.

„Hey, Nel, wie war die Feder?“, fragte sie gut gelaunt, ohne von den Fäden aufzusehen.

„Ging.“

„Wie lang hast du gebraucht?“

„Eine Stunde, ungefähr“, meinte Neolyt und es war ihr wieder peinlich, weil Elly darauf antwortete: „Ging? Das ist absolute Spitze! Ich weiß, dass der Durchschnitt für Hochpotenzialisten bei einer Stunde und sechsunddreißig Minuten liegt. So gut wie du will ich auch zaubern können. Es hat zwei Stunden gedauert, bis meine Feder flog.“

„Was ist das eigentlich?“, fragte Neolyt, um das Thema zu wechseln, und sah skeptisch auf die Fäden.

„Nudeln. Schmeckt ganz gut, aber irgendwann hat man die Nase voll davon.“

„Die Nase?“

Elly gluckste. „Das ist umgangssprachlich und meint, dass du Nudeln nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr essen magst.“

„Aha, verstehe“, sagte Neolyt, obwohl sie sich da nicht so sicher war.

Elly erklärte ihr, wie man mit Tischmanieren Nudeln aß und wie es ohne sie viel mehr Spaß machte.

Am Nachmittag unterrichtete Deas sie wieder im Lesen und Schreiben. Es ging quälend langsam voran, auch wenn der Bibliothekar meinte, sie würde schnell Fortschritte machen.

Nachdem sie sechs Wochen lang jeden Tag geübt hatte, beherrschte sie das Alphabet endlich gut genug, um mit Büchern zu arbeiten und Aufsätze schreiben zu können. Auch im Magieunterricht strengte sie sich an und kam dementsprechend schnell voran. Sie liebte alles, was direkt mit Magie und deren Gebrauch zu tun hatte, auch wenn der theoretische Unterricht teilweise etwas trocken war.

Erst nach zwei Monaten bekam sie einige neue Lieblingsfächer dazu. An einem Montagmorgen lag auf ihrem Schreibtisch ein Zettel, der ihr mitteilte, dass sie sich vier Stunden vor Mittag in der Kampfhalle einzufinden hatte. Entsprechende Kleidung läge in ihrem Schrank bereit.

Während des Frühstücks war sie so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen hinunter bekam. So schnell sie konnte, eilte sie in ihr Zimmer zurück, wo sie auf Elbea traf.

„Erstes Kampftraining?“, fragte sie knapp, ohne aufzublicken.

„Ja“, erwiderte Neolyt, ebenso kurzgefasst, wie sie es sich ihrer Mitbewohnerin gegenüber angewohnt hatte. Hastig schlüpfte sie in die Leinenhose und das feste Hemd aus ihrem Schrank, band den Gürtel zu und zog die leichten Lederstiefel an, die wie angegossen saßen. Seit Wochen hatte sie sich kaum anders bewegt, als zwischen den einzelnen Räumen hin und her, endlich würde sie wieder laufen, springen, reagieren können.

Sie war nicht die Erste, als sie vor der Halle ankam. Dort wartete bereits eine kleine Schar Schüler, die sich aufgeregt miteinander unterhielt. Neolyt blieb am Rand der Gruppe stehen. Noch immer fühlte sie sich unwohl zwischen den Schülern, zumal weder Elly noch Yewan hier waren und alle deutlich älter und größer waren als sie.

Endlich wurde die Tür geöffnet und die Schüler verstummten. Eine junge Frau stand dort, die Hände in die Hüften gestemmt, und betrachtete sie lächelnd. Neolyt hatte noch nie jemanden mit so dunkler Haut gesehen, aber wahrscheinlich war es bei den Menschen wie bei den Wölfen, manche hatten eben dunkles Fell und andere helles.

„Ravela, ich bin Wadne, es freut mich, euch zu eurer ersten Trainingsstunde begrüßen zu dürfen. Wie ihr sicher schon von den älteren Schülern wisst, werde ich euch erst einmal in den Grundtechniken des einfachen Schwertkampfes und des waffenlosen Kampfes unterrichten. Wer das absolviert hat, kann seine weiterführenden Fächer wählen oder ganz aussteigen.“

Hinter sich hörte Neolyt einen erleichterten Seufzer und drehte sich um. Der schmale Junge mit der großen Brille sah etwas verloren in den derben Kampfkleidern aus.

„Dann kommt mal rein“, forderte Wadne sie auf und trat beiseite. Die meisten stürmten sofort hinein, doch Neolyt und der Junge hielten sich zurück. Sie mochte es nicht, mitten zwischen Menschen zu stehen, fühlte sich trotz der zwei Monate, die sie nun schon unter ihnen verbracht hatte, von ihnen bedroht.

Jede Menge merkwürdiger Gerüste und Aufbauten standen in einem durch Seile abgetrennten Bereich der riesigen Halle. Neolyt beäugte sie neugierig, doch Wadne belehrte sie, kaum dass sich alle bei ihr in der Mitte ihres mit Sand ausgestreuten Bereiches eingefunden hatten, dass es ihnen strengstens verboten sei, die Halle ohne Aufsicht eines Lehrers zu betreten, und dass sie als Anfänger auch keinen Zutritt zu den Parcours für die älteren Schüler hätten.

„Ihr lauft euch erst einmal ein paar Runden zur Erwärmung ein, dann dehnen wir uns und fangen an. Weiß jemand, warum die Erwärmung wichtig ist?“

Ein paar Schüler meldeten sich.

„Damit wir keinen Muskelkater kriegen“, erklärte ein Junge mit Sommersprossen selbstsicher.

„Tja, wenn’s so einfach wäre.“ Wadne lächelte. „Ich kann euch garantieren, dass ihr euch spätestens heute Nachmittag kaum noch bewegen werden könnt. Mit solchen Aufwärmungen verringern wir die Gefahr einer Zerrung oder Schlimmeres. Deswegen bitte ich euch, das sehr ernst zu nehmen, schließlich will wohl kaum jemand von euch die Trainingsstunden verpassen, oder?“ Sie zwinkerte ihnen zu.

Neolyt sah wieder zu dem Jungen mit der Brille und war sich ziemlich sicher, dass er fast alles tun würde, um sämtliches Training zu versäumen.

Nachdem sie einige Runden gerannt waren und sich mit verschiedenen Übungen gedehnt hatten, verteilte Wadne an jeden einen Holzdolch und stellte sie im Block auf.

„Immer wenn wir eine neue Technik lernen, nehmt ihr diese Aufstellung ein. Es müssten mich alle sehen können.“ Sie stellte sich mit dem Gesicht zu ihnen. „Ich nehme an, dass viele von euch erwartet haben, bereits heute ein Schwert in der Hand zu halten, doch ich muss euch enttäuschen. Ich werde euch erst dann ein Holzschwert geben, wenn ihr ausreichend gut mit dem Dolch umgehen könnt, und bis ihr ein richtiges Schwert bekommt, sollte es noch eine ganze Weile dauern.“ Sie warf den Dolch mit augenscheinlicher Leichtigkeit hoch in die Luft, um ihn wieder aufzufangen, ohne den Blick von ihren Schülern zu wenden. „Es ist wichtig, mit dem Dolch umgehen zu können, da ihr unmöglich ständig ein Schwert mit euch tragen könnt. Er ist klein und doch in der richtigen Hand ebenso gefährlich wie ein Schwert, wenn nicht gar gefährlicher. Außerdem ist es deutlich einfacher, in eng begrenztem Raum mit einem Dolch zu fechten, als ein Langschwert zu verwenden. Selbstverständlich werdet ihr mit einem normalen Dolch nicht viel gegen einen Magier ausrichten können, aber um solche Leute im Notfall bezwingen zu können, habt ihr ja eure Mentoren. Ich weiß, dass ihr das Training anfangs hassen werdet, aber glaubt mir, es ist nur zu eurem Besten.“ Sie lächelte ihnen abermals zu.

Neolyt sah in den Mienen einiger anderer das Missfallen über die kleine Waffe und die Aussicht auf unangenehmes Training, aber ihr machte der Dolch nichts aus. Er wurde wohl von den Menschen wie eine Kralle benutzt und mit Krallen kannte sie sich schließlich besser aus, als mit langen Schwertern.

„Gut, ich werde euch jetzt die Grundstellungen zeigen, ihr macht sie nach und versucht, sie zu halten, bis ich Stopp rufe.“ Wadne drehte sich mit dem Rücken zu ihnen und stellte sich, die Füße etwa schulterbreit voneinander entfernt, parallel und nach vorn gerichtet hin, die Knie leicht gebeugt und die Hände an den Oberschenkeln. „Haben das alle?“ Sie wandte sich ihnen wieder zu und ging durch die Reihen, um ihren Stand zu korrigieren.

„Die Füße parallel, Neolyt“, sagte sie, als sie zu ihr kam, dann stupste sie sie etwas an und nickte. „Ansonsten sehr schön.“

Neolyt hatte keine Ahnung, wie lange sie so stehen blieben, aber sie war es gewöhnt, geduckt zu warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, die Beute zu fassen. Schließlich begannen die ersten Knie zu zittern und Wadne erlöste sie.

„Das macht ihr wirklich gut“, erklärte sie und nickte zufrieden. „Als nächstes hätten wir die Grundstellung links, selbes Schema, ich mache es vor und ihr haltet.“ Wieder beugte sie leicht ihre Knie, setzte aber den linken Fuß einen Schritt nach vorn und drehte beide Fußspitzen nach außen, ihr Rücken war gerade durchgestreckt, aber etwas vorgebeugt. Sie hatte den Dolch in der rechten Hand etwa auf Kopfhöhe erhoben und die linke wie zur Abwehr mit dem Ellbogen nach vorn an ihrer Schläfe. So verharrten sie sicherlich zwei Minuten, bis Wadne ihnen das Zeichen zum Auflösen gaben.

„Als letztes gibt es noch die Grundstellung rechts, das ist dasselbe wie links, nur eben seitenverkehrt.“ Sie machte es kurz vor und ging abermals durch ihre Reihen.

Als sie die Starre diesmal lösen durften, hatten Neolyts Arme bereits angefangen zu schmerzen.

„Sehr schön. Aber es kommt ja nicht nur darauf an, die Grundstellungen halten zu können, ihr müsst auch aus ihnen heraus reagieren können. Ihr stellt euch jetzt in die Position, die ich ansage, und wenn ich Feind rufe, springt ihr hoch. Später werdet ihr daraus dann einen Angriff führen, aber springen sollte fürs Erste genügen. Gut, zuerst Grundstellung links!“

Alle stellten sich auf und warteten gespannt. Neolyt wusste, wie lange es dauern konnte, bis der Zeitpunkt günstig war, und wie geduldig man in einer solchen Situationen sein musste. Wenn man zu angespannt wartete, war die Geduld bald aufgebraucht. Schon im Alter von zwei Jahren hatte ihre Mutter sie in der Feinmethodik der Jagd unterwiesen, sie kannte die richtige Mischung aus Geduld und Aufmerksamkeit gut genug, um im richtigen Moment aufzuspringen, als Wadne laut „Feind!“ rief. Die meisten anderen waren zusammengezuckt, doch ein paar waren ebenfalls aufgesprungen. Augenblicklich machte Neolyt sich wieder klein. Sie hasste es, aufzufallen. Vor allem Menschen gegenüber. Immerhin wäre das bis vor Kurzem noch ihr Todesurteil gewesen.

Noch ungefähr fünf Mal ließ Wadne sie aus der rechten oder linken Grundstellung hochschnellen, mal wartete sie unendlich lang, mal kaum eine halbe Minute. Danach übten sie, auf Kommando die einzelnen Grundstellungen einzunehmen und den Dolch sowohl in der linken als auch in der rechten Hand zu führen, denn – wie Wadne es ihnen erklärt hatte – es war äußerst wichtig, dass man nie einseitig wurde, damit man bei einer Handverletzung nicht sofort kampfunfähig war.

Am nächsten Tag wurden sie äußerst früh am Morgen wieder in die Halle bestellt.

„Gewöhnt euch besser dran, eure Tage werden ab heute einen strengeren Ablauf haben als bisher“, begann Wadne. „Exakt fünf Stunden vor Mittag habt ihr euch hier einzufinden, dann absolviert ihr eine Stunde Krafttraining. Nach einer halben Stunde Pause findet ihr euch wieder bei euren Mentoren ein und werdet bis zum Mittagessen, welches eine Stunde nach Mittag stattfindet, in diversen Fächern unterrichtet werden. Danach habt ihr bis drei Stunden nach Mittag Zeit für eure Hausaufgaben und solltet euch dann unverzüglich wieder hier einfinden. Das Dolch- oder später Schwertkampftraining findet bis sechs Stunden nach Mittag statt und fünf Stunden vor Mitternacht gibt es Abendbrot. Der freie Tag in der Woche ist Samstag. Gibt es noch Fragen?“

„Bleibt das bis zum Ende der Ausbildung so?“, sprach ein Mädchen die Befürchtung aller aus.

„Nein, natürlich nicht. Sobald ihr euch für ein Profil entschieden habt, bekommt ihr neue Unterrichtspläne“, erklärte Wadne. Neolyt hatte zwar nicht im Entferntesten eine Ahnung, was ein Profil war, aber wenigstens würde nicht für immer jeder Tag wie der andere sein.

„Teilt euch jetzt bitte in Paare ein. Danach klären wir die einzelnen Stationen ab.“

Automatisch trat Neolyt einige Schritte zurück, um niemandem im Weg zu stehen, denn unter den anderen brach natürlich sofort ein kleiner Tumult aus. Vielleicht sollten Paare lieber von Anfang an festgelegt sein, überlegte sie, doch wer wusste, mit wem sie dann trainieren müsste.

Am Ende waren nur noch sie und der schmächtige Junge mit der Brille übrig. Das war gut, denn auch er war offenbar sehr wortkarg und sie hatte ohnehin keine Lust, mit besonders vielen Menschen zu reden. Am besten mit möglichst wenigen. Sie hatte ja schon mit Irla, Deor, Deas, Yewan, Wadne, Valria, Elly und … einer Menge anderen Menschen geredet. Da mussten es nicht zwingend noch mehr werden.

Die erste Übung war einfach und Neolyt verstand nicht, warum ausgerechnet sie damit anfangen sollten, bis er sich an der Übung versuchte.

„Es ist doch wirklich nicht schwierig, die Arme zu beugen und dann wieder zu strecken“, erklärte sie und sah ihm stirnrunzelnd dabei zu, wie er versuchte, sich vom Boden hochzustemmen.

„Ja, aber wenn da noch der ganze Körper mit daraufliegt, ist das deutlich schwieriger“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Das mag sein, aber es ist kein Grund, so zu tun, als sei man ein neugeborenes Rehkitz.“

„Wie bitte?“

„Ich habe gesagt, dass das sein kann, aber kein Grund dafür ist …“

„Ich meinte den Vergleich am Ende“, unterbrach er sie.

„Das Rehkitz? Ich finde das schon passend. Es sieht nämlich genauso aus, dich würde im Wald sicher kein Wolf anfallen.“ Sie hielt kurz inne. „Nein, sowieso nicht, du riechst ja nach Mensch.“

„Ich rieche nach Mensch? Natürlich rieche ich nach Mensch, ich bin ein Mensch, ebenso wie du.“ Die letzten Worte waren mehr Frage als Feststellung.

„Soll das heißen, du bist auch in Wirklichkeit ein Wolf?“, fragte Neolyt erfreut.

Der Junge setzte sich auf und sah sie interessiert an. „In Wirklichkeit ein Wolf?“

Neolyt lief rot an, als sie merkte, wie sehr sie sich verplappert hatte.

„Ich meine … Eigentlich … Jetzt mach schon die Liegestütze weiter.“

Doch der Junge rührte sich nicht.

„Unglaublich, eine äußerst interessante Genmutation. Ich bin übrigens Elnar.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und sie nahm sie zögernd.

„Neolyt“, entgegnete sie. „Und jetzt versuch wenigstens eine Liegestütze.“

Mit Elnar war es tatsächlich zum Heulen. Und damit war der wasserreiche, emotionale Ausbruch unter Menschen gemeint und nicht das äußerst effiziente Verständigungssystem der Wölfe. Es war nämlich so, dass er, sobald er einen Liegestütz geschafft hatte, der Meinung war, das würde reichen und sich bei keiner anderen Übung mehr Mühe gab. So hatte Neolyt alle Hände voll zu tun, ihn immer und immer wieder anzuspornen, doch noch wenigstens einen einzigen Klimmzug zu machen.

Schließlich machte er ihr ein paar Tage später in einer Trinkpause ein Angebot. „Na schön, ich werde mich ab heute anstrengen.“

Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Na großartig. Hast du endlich eingesehen, dass du nicht besonders lange ohne Muskeln wirst überleben können?“

„Vielen Dank, sehr freundlich, ein paar Muskeln hab ich doch“, entgegnete er, worauf Neolyt ihn skeptisch ansah. „Ist schon gut. Nein, was mich eigentlich dazu bringen würde, wäre die Erfüllung zweier Bedingungen deinerseits.“

„Du weißt doch, dass ich mit den ganzen komischen Sätzen nicht klarkomme. Bitte sag es so, dass auch ein normaler Wol… Mensch es versteht.“

„Normale Menschen können gute Formulierungen verstehen. Aber gut: Wenn ich mich anstrengen soll, dann gibst du mir eine Probe deines Blutes, redest mehr mit anderen Menschen und lässt dich von mir in unserer Sprache unterrichten.“

„Drei Sachen? Wozu brauchst du mein Blut? Und warum sollte ich mehr mit anderen Menschen reden? Wenn sie reden wollen, können sie doch anfangen. Außerdem rede ich schon mit mehr Menschen als Wölfe in meinem Rudel waren, das reicht doch.“

„Dann ist es also in Ordnung, dass ich dir beibringe, facettenreicher zu sprechen?“

„Das machst du mit Absicht, stimmt’s?“

„Tut mir leid, ich konnte der Versuchung nicht wider­stehen.“

„Schon gut. Und nein, ich hab das nur nicht eingesehen, weil ja wohl schon zwei Sachen für eine Sache eine Sache zu viel sind und drei dann zwei zu viel wären.“

„Wenigstens rechnen kannst du“, murmelte Elnar. „Überleg doch mal. Du müsstest nur drei Bedingungen erfüllen, aber ich müsste die ganzen Übungen schaffen. Und das sind mehr als drei.“

Neolyt hatte das Gefühl, als hätte er sie gerade zu etwas überredet, was sie eigentlich nicht wollte, und das mit dem, was sie gesagt hatte. Verrückt.

„Ja, stimmt. Na schön. Aber nur, wenn du dir wirklich Mühe gibst.“

„Weiter geht’s, ihr habt jetzt genug gefaulenzt!“ Das Krafttraining wurde nicht mehr von Wadne beaufsichtigt, sondern von einem älteren Schüler, der es offensichtlich genoss, sie herumzukommandieren.

In der halben Stunde nach dem Krafttraining überredete Elnar sie, mit auf die Krankenstation zu kommen.

„Warum jetzt? Nach dem Mittagessen hätte es doch auch gegangen.“

„Wäre.“

„Was?“

„Wie bitte.“

„Ich habe Was? gesagt.“

„Das habe ich gehört, aber richtig heißt es Wie bitte. Und außerdem steht das Partizip zwei von gehen im Konjunktiv mit wäre und nicht mit hätte.“

„Was?“

Elnar blieb stehen, schloss kurz die Augen und drehte sich dann zu ihr um.

„Tu mir wenigstens den Gefallen und sag Wie bitte, wenn du etwas nicht verstanden hast.“

„Aber warum denn? Auf Was? kriegen ich und alle anderen auch immer eine Antwort.“

Elnar wandte sich wieder um und ging wortlos weiter. Neolyt war sich sicher, dass sie irgendetwas gesagt hatte, das ihn verärgert hatte.

Endlich kamen sie auf der verlassenen Krankenstation an.

„Bist du sicher, dass wir hier sein dürfen?“, flüsterte Neolyt. Ihr war der menschenleere Saal unheimlich.

„Natürlich, ich bin Aushilfspfleger, ich darf hier sein, wann immer ich will, bloß nicht nach Nachtruhe.“ Ziel­strebig schritt er auf ein kleines Schränkchen zu und kramte darin herum. „Setzt dich schon mal dahin.“

Da er auf nichts gezeigt hatte, nahm Neolyt kurzerhand auf dem ihm nächsten Bett Platz.

„Gut.“ Er kam mit einer Schlaufe und einem etwas kleineren gläsernen Behälter wieder. „Leg dir das mal um den Oberarm und zieh es ein bisschen fest.“

Es war nicht besonders angenehm, aber Neolyt tat, wie ihr geheißen. Währenddessen nahm Elnar ein Glasröhrchen und eine lange Nadel, die Neolyt misstrauisch beäugte.

„Hast du vor, mir damit in den Arm zu pieken?“

„Natürlich. Oder hast du gedacht, ich schlitze dir die Hauptschlagader auf?“ Er lachte, als wäre das eine unglaublich lächerliche Vorstellung.

„Die was?“, hakte Neolyt nach.

„Die Hauptschlagader. Glaub mir, das willst du nicht erleben.“

Neolyt glaubte ihm. Aber hauptsächlich, weil sie selbst nicht die geringste Ahnung davon hatte.

Es piekte etwas, als er die Nadel in die Haut steckte, und ein dünnes, rotes Rinnsal floss in das schmale Glasröhrchen.

„Gut, das war’s schon“, erklärte Elnar, zog die Nadel heraus und drückte ein Stück Stoff auf die Armbeuge. „Ich werde dir erzählen, was ich herausgefunden habe. Aber jetzt müssen wir uns beeilen.“

Im Gehen stopfte er das Glasröhrchen, das er mit einem Korken verschlossen hatte, in seine Tasche.

Mit nur wenigen Minuten Verspätung erreichte sie Deors Klassenzimmer.

Die Magie lief ausgesprochen gut. Auch in den anderen Fächern lernte sie schnell. Elnar gab sich in den Trainingsstunden tatsächlich ausgesprochene Mühe und Neolyt wich nicht mehr jedem Gespräch aus, auch wenn sie immer noch nicht verstand, was das bringen sollte. Zu ihrem Glück war Elnar noch nicht dazu gekommen, den angedrohten Sprachunterricht zu beginnen, doch wann immer er ihr über den Weg lief und ihr eine seiner Meinung nach sprachverunstaltende Redewendung entschlüpfte, korrigierte er sie und hängte gleich noch einen Vortrag über etwas, was er Grammatik nannte, dran. Doch alles in allem war er ein netter Kerl.

Vier Wochen später eröffnete Wadne ihnen nach einer besonders guten Trainingsstunde, dass sie von nun an auch mit dem Schwertkampf anfangen würden. „Aber glaubt bloß nicht, ihr wärt den Dolch für immer los.“ Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sie.

„Und ich dachte schon, jede Anstrengung sei umsonst“, meinte Elnar beim Hinausgehen. „Ich habe übrigens etwas äußerst Interessantes herausgefunden. Vielleicht kommst du heute Abend nach dem Abendbrot einmal mit Deor im Krankensaal vorbei.“

„Ich sag ihm Bescheid. Was hast du herausgefunden?“, hakte sie nach, doch Elnar lächelte nur geheimnisvoll und bog in den Gang der Bibliothek ab.

Neolyt hatte nicht den blassesten Schimmer, wo Deor zu dieser Tageszeit sein könnte, und ging daher erst einmal auf ihr Zimmer, um die Hausaufgaben zu erledigen, die sich inzwischen angesammelt hatten.

Als es Zeit für das Abendessen wurde, hatte Neolyt gerade die Hälfte der Hausaufgaben erledigt. Ihre langsame Handschrift war ihr noch immer hinderlich. Sie träumte noch davon, einmal so schnell wie Elly schreiben zu können, obwohl sie gesagt hatte, es wäre besser, langsam und inhaltsreich als schnell und inhaltslos zu schreiben. Vermutlich hatte sie recht, aber es kostete auch eine Menge Nerven, jeden Buchstaben einzeln malen zu müssen.

Zu ihrem Glück war Deor zur selben Zeit im Speisesaal wie sie. So konnte sie ihm gleich von Elnar erzählen.

„Du hast jemandem dein Blut gegeben?“

„Ja. Ist das schlecht?“, fragte sie, von seiner Miene verunsichert.

„Nun, wenn er es nicht allzu vielen Leuten erzählt hat, eher nicht.“

Auf dem Weg zum Krankensaal schwiegen sie beide. Deor wirkte angespannt und Neolyt hatte das Gefühl, einen unnötigen Fehler gemacht zu haben, und hielt lieber den Mund.

„Da seid ihr ja“, begrüßte Elnar sie. Er wirkte aufgeregt. „Guten Abend, Meister Deor.“

„Wie vielen Leuten hast du schon erzählt, was du herausgefunden hast?“, fragte Deor ohne Umschweife.

„Niemandem. Ich dachte mir, dass du es zuerst erfahren willst.“

„Sehr gut, das sollte am besten auch so bleiben. Dann zeig mal her.“

Elnar ging voraus und bedeutete ihnen, ihm bis zu einem merkwürdigen, kompliziert aussehenden Gerät aus Metall und Glas zu folgen.

„Was ist das?“, fragte Neolyt und betrachtete interessiert die vielen verschlungenen Metallröhren.

„Man nennt es Mikroskop. Damit kann man kleine Dinge bis auf das Hundertfache vergrößern. Ich habe damit und noch mit einigen anderen Geräten dein Blut untersucht, und was dabei herausgekommen ist, werdet ihr nicht glauben.“ Er hielt eine kleine Glasplatte hoch. „Hier sind ein paar Tropfen deines Blutes drauf, versetzt mit einer speziellen Lösung. Und jetzt schaut euch das einmal an.“ Er legte die Glasplatte in einen Schlitz des Gerätes ein, es surrte und summte einige Momente lang, dann trat Deor näher heran und sah in zwei der Röhren hinein.

„Womit hast du ihr Blut versetzt?“, wollte er wissen und sah Elnar an.

„Das ist Aleniktramenograpenolftan.“

„Aber im Blut ist nichts, was durch AMP grün gefärbt würde.“

„Das habe ich mir auch gedacht, deshalb habe ich etwas nachgeforscht. Und wenn man zu der Lösung hier noch passive Magie hinzufügt“, er nahm das Plättchen wieder heraus und tropfte eine farblose Flüssigkeit darauf, „und das erneut durch das Mikroskop betrachtet, kann man eine äußerst interessante Veränderung beobachten.“

Abermals sah Deor in die Röhren. Als er wieder aufsah, nickte er anerkennend. „Du bist noch Anfänger, oder? Wie kommt es, dass du so viel über solche Sachen weißt?“

„Mein Vater ist Heiler und berühmt für seine Forschungen. Außerdem ist Meisterin Karame meine Mentorin, so hatte ich von Beginn der Ausbildung an Zugang zu allen Instrumenten.“

„Ich hoffe doch, unter Aufsicht, nicht wahr?“, fragte Deor mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nicht direkt. Ich habe einen Schlüssel zu den Räumen. Meisterin Karame meinte, man könne mir vertrauen.“

„Dann weiß sie von der Blutprobe?“

„Nein. Wie gesagt, ich hielt es für besser, zuerst dich und Neolyt von den Ergebnissen in Kenntnis zu setzen“, erklärte Elnar mit fester Stimme, doch in seinen Zügen spiegelte sich Unsicherheit. „Hätte ich es ihr erzählen sollen?“

„Ich werde das tun. Du wirst niemandem mehr ein Sterbens­wörtchen davon sagen, verstanden? Ich kann entscheiden, wer es erfährt, du behältst es einfach für dich.“

„Kein Problem“, entgegnete Elnar, doch sein Blick zeigte offene Neugier.

„Was ist denn mit meinem Blut?“, platzte Neolyt endlich heraus. Sie hielt ihre Unwissenheit nicht mehr aus.

„Du kannst aufgrund der besonderen Genkombination von Wolf und Mensch Magie spüren. Das ist eine äußerst ungewöhnliche und seltene Gabe, und damit niemand auf die Idee kommt, sie für seine Zwecke zu missbrauchen, halten wir es geheim.“

„Aha“, antwortete Neolyt, obwohl sie nicht alles verstanden hatte. „Ich habe aber noch nie Magie gespürt. Wieso wusste ich nicht, dass ich das kann?“

„Vermutlich, weil du bisher noch kaum mit Magie zu tun hattest und erst seit ein paar Monaten in der Lage bist, sie zu kontrollieren. Auf jeden Fall sollten wir die Ausbildung dieses Sinnes mit in unseren Unterricht einbinden.“

Bereits zwei Monate später gelangen die Konzentrations­übungen dazu immer besser. Neolyt hatte inzwischen ebenso wie viele der Anfänger die Grundprüfung im Schwertkampf bestanden, sogar Elnar hatte es mit Ach und Krach geschafft. Nun standen sie vor der Profilwahl.

„Du solltest das Profil Krieger wählen“, bekräftigte Yewan zum wiederholten Mal. Sie waren auf dem Weg in die Bibliothek, um ihre Hausaufgaben zu erledigen.

„Ja, du bist wirklich gut. Zumindest sagt das deine Prüfungsurkunde“, erklärte Elly und wedelte mit dem Pergament vor Neolyts Nase herum.

Diese schnappte es ihr aus den Fingern und betrachtete konzentriert die geschwungenen Buchstaben. Noch immer bereitete ihr das Lesen Schwierigkeiten, vor allem bei Handschriften, doch von Woche zu Woche ging es besser.

„Hab ich dir nicht erst letzte Woche gesagt, dass du nicht ständig an meinen Schreibtisch gehen sollst?“, fragte sie Elly.

„Ja, aber du sagtest, dein Ergebnis wäre in Ordnung, da wollte ich wissen, wie gut es wirklich war“, verteidigte die sich und grinste zwinkernd.

„Aber die Sterblichkeitsrate der Krieger ist um vierzig Prozent höher als die der Heiler. Das bedeutet, dass jeder neunzehnte Krieger eines unnatürlichen Todes stirbt“, gab Elnar zu bedenken

„Ach komm schon, Elnar“, widersprach ihm Yewan. „Die Statistiken sind immer noch vom Simeb-Krieg beeinflusst. Und es ist wirklich kein Wunder, schließlich kämpfen Heiler nicht.“ Die letzten Worte sprach er mit deutlicher Herablassung aus.

„Sie kämpfen oft gegen gefährlichere Gegner als die Krieger“, konterte Elnar. Für ihn war klar, er würde das Profil Heilung wählen, alles andere kam nicht in Frage.

„Ja, Schnupfen und Magenverstimmung“, spottete Yewan. Neolyt hatte das Gefühl, dass die beiden nicht besonders gut miteinander klarkamen. Sie war sich dabei jedoch nicht sicher, Menschen waren so viel undurch­schaubarer als Wölfe.

„Oder auch Cholera und Schnepfenpest“, entgegnete Elnar todernst.

Bei dem letzten Wort prustete Elly laut los. „Schnepfenpest?“

„Ganz richtig, das ist eine tödliche Krankheit, die durch Schnepfen übertragen wird und nur äußerst schwer heilbar ist.“

„Was sind Schnepfen?“, fragte Neolyt dazwischen.

Es war Yewan, der ihr antwortete: „Die gehören zur Familie der Gnomenfeen, fiese kleine Viecher.“

Sie hatten mittlerweile die Bibliothek erreicht und warteten am Eingang auf Deas, der gerade aus einem der Gänge kam, um sie ins Besucherbuch einzutragen.

„Na ja, solange du nicht zu den Räten gehst, hast du meine volle Unterstützung“, erklärte Yewan und lachte.

„Was du nur ständig gegen Ratssprecher hast“, bemerkte Neolyt verwirrt. „Sie haben dir doch gar nichts getan.“

„Nein, aber du wirst es spätestens dann verstehen, wenn in Geschichte der Aufstand der Piliar behandelt wird. Solche Ignoranz muss man erst einmal zustande bringen.“ Er schüttelte den Kopf.

Die Ratssprecher mussten damals etwas falsch gemacht haben, soviel verstand Neolyt, doch trotz Elnars ständigen Belehrungen gab es Fremdwörter, die sie nach wie vor nicht kannte. „Was bedeutet Ignoranz?“, fragte sie darum.

„So viel wie etwas nicht beachten“, erklärte Yewan und schlenderte, nachdem Deas sie eingetragen hatte, weiter bis zu seiner Stammecke, die inzwischen auch oft von Elnar, Neolyt und Elly in Beschlag genommen wurde.

Neolyt betrachtete versonnen einen singenden Kerzenhalter, während sie zwei kleine Lichtkugeln schweben ließ. Es fiel ihr inzwischen nicht mehr schwer, mit Magie etwas zu bewirken, weswegen Deor sie oft den Nachmittag über Übungen erledigen ließ, die er erst am nächsten Morgen kontrollierte. Er hatte Yewan beauftragt, sie dabei zu beaufsichtigen.

Mit einem Plopp verschwanden die Lichter und Neolyt sah auf ihren Zettel. Nur noch zwei Aufgaben, dann hatte sie ihre Freizeit. Nachdem sie einige Sekunden lang Yewans Feder fixiert hatte, nahm diese mit einem Puff und einer gewaltigen Rauchwolke die giftgrüne Färbung an, die Neolyt vorschwebte.

„Ohne Ton und Rauch ist es richtig. Und nimm ’ne andere Farbe.“ Yewan zuckte kurz mit der Feder, die wieder braun wurde.

Der Kerzenhalter trällerte noch immer vor sich hin, als Neolyt schließlich laut- und rauchlos die Feder blau färbte.

„Hübsch.“ Er musterte sie amüsiert. „Vielleicht lass ich das so.“ Er zwinkerte ihr zu.

Seufzend legte Elly ihre eigene Feder weg und schraubte das Tintenfass zu.

„Ich muss jetzt los, viel Spaß noch“, erklärte sie nach einem kurzen Blick auf das Gerät an ihrem Arm, dessen Name Neolyt ständig vergaß. Die anderen nickten ihr zu und vertieften sich wieder in ihre Aufgaben.

„Was heißt das hier?“, fragte Neolyt schließlich und streckte Elnar den Zettel hin.

„Da steht, du sollst …“ Er hielt inne und sah sie bedeutungsvoll an, doch sie verstand nicht.

„Was?“, hakte sie darum nach.

Bevor Elnar weitere Andeutungen machen konnte, hatte Yewan sich herübergebeugt und ihm den Zettel aus der Hand gerissen.

„Was heißt das, du sollst wieder üben, Magie zu spüren?“

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Nur der Kerzenhalter schmetterte eine dramatisch laute Arie.

„Ich glaube, wir können es ihm sagen“, meinte Neolyt schließlich zu Elnar.

„Aber Deor hat ausdrücklich befohlen, dass das unter uns bleibt.“

„Worüber redet ihr?“, rief Yewan, bevor Neolyt etwas erwidern konnte.

„Ich kann spüren, wo Magie ist“, erklärte Neolyt. „Weil ich Mensch und Wolf bin und es etwas mit … Gähnen zu tun hat“, schloss sie unsicher.

„Mit deinen Genen“, berichtigte Elnar sie. „Die besondere Verteilung an Wolfs- und Menschengenen hat einen Stoff hervorgebracht, der auf Magie reagiert.“

„Und deswegen kannst du Magie spüren?“

„Noch nicht so richtig“, gestand sie, doch Yewan hatte wohl gar nicht zugehört.

„Das ist ja total irre! Und uns wird immer beigebracht, es wäre unmöglich, Magie irgendwie wahrzunehmen.“

„Hey!“, unterbrach Elnar ihn. „Halb so laut wäre auch ausreichend. Wir sind nicht schwerhörig und das muss auch nicht gleich jeder wissen. Besser gesagt, darf das absolut niemand wissen. Am besten erzählst du es auch nicht Deor. Er wird uns guillotinieren, wenn er erfährt, dass du es von uns weißt.“

„Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab“, versicherte Yewan, stand auf und versetzte dem Kerzenhalter einen Klaps, woraufhin dieser verstummte.

Gabe oder Fluch.

TIONCALAI

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