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Feuer und Besteck

Neolyt sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. So viele Menschen hatte sie noch nie gesehen. Die meisten beachteten sie gar nicht, doch manche bedachten sie mit flüchtigen, neugierigen Blicken.

Jufra war mit ihnen vor etwa einer Viertelstunde einfach in einen Acker eingetaucht, als wäre er aus Wasser. Dann hatten sie sich zu Neolyts grenzenloser Überraschung in einer riesigen Halle befunden, in der viele andere Drachen in kleinen Höhlen in den Wänden saßen. Jufra war zu einer der Höhlen geflogen und darin gelandet. Deor hatte sie abgesattelt und war verschwunden, nachdem er sie aufgefordert hatte, hier zu warten, bis er wiederkäme. Nun saß Neolyt am Rand der Höhle und sah den Drachenreitern bei ihren Flugmanövern zu.

Ein bisschen eingeschüchtert war sie schon von den vielen Menschen, aber es war auch alles so aufregend!

Die Tür an der Rückwand der Höhle ging auf und Deor trat wieder ein.

„Komm, Neolyt. Valria möchte dich sehen.“

Sie nahm ihre wölfische Gestalt an und wollte ihm folgen, doch er blieb stehen und sah sie besorgt an.

„Es wäre besser, wenn du ein Mensch bleibst. Nur, wenn es dir nichts ausmacht, natürlich.“

Neolyt schüttelte den Kopf und verwandelte sich wieder zurück. Daran würde sie sich noch gewöhnen müssen.

Von einem schmalen Gang, der direkt hinter den Drachen­höhlen entlangführte, gelangten sie in einen breiteren und höheren Raum, in dem viel Trubel herrschte. Kleine, braune und mit ihrer ledrigen Haut, dem großen Kopf und dem dünnen Hals eigentlich hässlich aussehende Drachen zogen Karren oder dackelten treuäugig hinter ihren Besitzern her. Stämmige Ponys in allen Farben, mit zotteliger Mähne und einem Horn auf der Stirn trugen Säcke und Körbe auf dem Rücken. Neolyt blickte einem braungescheckten, dicken Pony neugierig hinterher.

„Ist das ein Einhorn?“, fragte sie Deor, der sie sicherheits­halber an die Hand genommen hatte, sonst wäre sie in dem Trubel wohl verloren gegangen.

Seufzend folgte er ihrem Blick.

„Im weitesten Sinne des Wortes ja, aber eigentlich nicht.“

Neolyt wollte noch mehr fragen, doch Deor zog sie weiter an kleinen, hässlichen Drachen vorbei und an Einhörnern, die eigentlich keine waren. Irgendwann gelangten sie aus den mit Holz befestigten, überfüllten Gängen in einen aus hellem Stein gehauenen Korridor, der von unzähligen Lampen erleuchtet wurde, die ein ruhiges, orangegelbes Licht verstrahlten.

„Sind das Kerzen?“, fragte Neolyt, immer noch neugierig allem Ungewohnten gegenüber. Obwohl sie schon ein paar Mal Kerzen gesehen hatte, interessierte sie auch dies.

„Nein, das sind kleine Flammengeister, die für diesen Zweck heraufbeschworen wurden.“

Neolyt staunte mit großen Augen. Flammengeister, das war noch ungewohnter als Kerzen.

„Warum nehmt ihr keine Kerzen?“, hakte sie nach, weil heraufbeschwören viel anstrengender klang als anzünden.

„Das erkläre ich dir später. Jetzt musst du erst einmal einen guten Eindruck auf Valria machen.“ Obwohl er ihr bei diesen Worten scherzhaft zuzwinkerte, verschwand ihre Neugier abrupt und an ihre Stelle trat die alte Schüchternheit und auch die Angst, die sie gegenüber Menschen ­empfand. Dazu kam, dass diese hier Magier waren, Drachen und unechte Einhörner hatten und ihr außerdem einfiel, wie tief sie unter der Erde war und wie weit weg von ihrem Rudel, dem Wald und ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder.

Deor öffnete eine kleine, hölzerne Tür. Dahinter lag ein gemütlicher Raum voller Regale und Schränke, die allesamt mit Papieren, Büchern und Kästchen vollgestopft waren. Auch auf dem Boden stapelten sich Bücher. Inmitten dieses Durcheinanders stand ein wuchtiger Schreibtisch, an dem eine junge Frau saß, die bei ihrem Eintreten aufblickte und sich zu einem leicht gestressten Lächeln zwang.

Deor sah sich mit hochgezogenen Augenbrauen um. „Brauchst du Hilfe beim Aufräumen?“, fragte er spitz.

„Ja, ich weiß. Ich versuche schon seit Wochen, ein größeres Büro zu bekommen, aber die Typen vom Handel sind der Meinung, dass sie ihre eigenen ganz dringend benötigen. Und ich ertrinke hier fast in Anmeldelisten, Formularen, Adressenlisten, Einverständniserklärungen, Briefen, Bittstellungen und noch mehr Formularen“, erklärte die junge Frau, die wohl Valria sein musste, während sie aufstand und, über Bücherstapel kletternd, hinter dem Schreibtisch hervorkam.

„Du könntest das Büro ja teilen“, schlug Deor vor und gab sich keine Mühe, eine ernste Miene zu bewahren.

„Sicher. Und dann lege ich mir vielleicht noch ein drittes und viertes zu, zwischen denen ich ständig hin und her renne. Ich bin eben nicht für das Büroleben geschaffen“, fügte sie seufzend hinzu. Dann wanderte ihr Blick zu Neolyt hinüber, die sie bis dahin nicht beachtet hatte, und zog die Augenbrauen hoch.

„Ein bisschen jung, ja?“, fragte sie Deor. „Wie alt bist du, Neolyt?“

„Acht Winter“, erklärte sie, unsicher, ob das gut oder schlecht war.

Valria seufzte abermals und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

„Deor, das können wir nicht machen. Zehn Jahre, das mag noch gehen, außerdem war er schon fast elf. Aber acht Jahre ist absolut unmöglich! Dafür werden wir niemals die Erlaubnis bekommen. Und wer wird sich bereiterklären, sie zu unterrichten?“

Deor kniff die Lippen zusammen. „Das kann ich machen“, entgegnete er.

„Du hast aber schon einen Schüler und außerdem überleg doch mal, sie ist noch ein Kind!“

Neolyt runzelte die Stirn. „Als Wolf bin ich sogar schon erwachsen“, unterbrach sie die beiden Erwachsenen.

„Als Wolf?“, fragte Valria verständnislos.

„Ich bin ein Halbwolf“, erklärte sie mit anfänglich fester Stimme. „Also eigentlich glaube ich, mehr Wolf als Mensch, weil ich nämlich leichter ein Wolf sein kann, als ein Mensch.“ Sie wurde leiser und verstummte schließlich unter den verblüfften Blicken der beiden Erwachsenen.

Deor und Valria sahen sich an. Dann lächelten beide.

„Das ist natürlich etwas anderes und ich denke, es dürfte auch kein Problem sein, dass Deor dich und Yewan unterrichtet“, erklärte Valria, nun viel freundlicher. „Es tut mir leid, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du ein Halbwolf bist. Deor kann dir jetzt erst einmal dein Zimmer zeigen und dich ein bisschen herumführen.“

Deor nickte, verabschiedete sich und führte Neolyt nach draußen auf den mit Flammengeisterlampen beleuchteten Flur.

„Du darfst ihr das nicht übelnehmen, ja? Sie ist ein bisschen gestresst und eigentlich hasst sie es, im Büro zu arbeiten. Normalerweise ist sie Leiterin einer Spezialgruppe, aber wir wurden hierherbeordert, um nach Schülern zu suchen. Und jetzt muss sie den lieben langen Tag Formulare ausfüllen, die Arme.“ Er sah aus, als täte ihm das überhaupt nicht leid.

„Magst du sie nicht?“, fragte Neolyt deshalb verwundert, während sie eine Wendeltreppe hinabstiegen.

„Doch. Aber ich bin froh, nicht an ihrer Stelle zu sein. Außerdem war sie ursprünglich die einzige aus unserer Einheit, die sich auf die Zeit hier gefreut hat.“ Abermals grinste er breit. „Komm, wir schauen nach, ob Yewan, mein anderer Schüler, auch schön fleißig die Aufgaben löst, die ich ihm gegeben habe.“ Sie gingen einen weiteren hohen Gang entlang und betraten dann durch eine zweiflügelige Holztür einen Raum voller Bücher. Gleich neben der Tür stand ein Tisch, an dem ein älterer Herr saß, der sich mit einer Lupe in der Hand über ein altes Buch beugte. Als sie eintraten, sah er auf.

„Ah, Deor, wen bringst du schon wieder mit?“, fragte er verschmitzt und lächelte Neolyt freundlich an.

„Ich heiße Neolyt“, erklärte sie ihm, immer noch etwas schüchtern.

„Sag, Neolyt, hast du schon einmal ein Buch gelesen?“, fragte er weiter, während er aufstand und auf seinen Stab gestützt hinter dem Schreibtisch hervorkam.

„Ich … ich kann gar nicht richtig lesen“, gab sie leise zu und wurde rot.

„Das ist nicht so schlimm, ich werde es dir beibringen“, schlug der Alte ihr vor und sein Lächeln wurde noch breiter und wärmer. „Im Übrigen bin ich Deas, der Wächter der Bibliothek. Obwohl es hier nicht viel zu bewachen gibt, außer Bücherwürmern und Papiermotten.“

Neolyt musste kichern und fragte sich, ob das tatsächlich stimmte oder Deas diese Wesen soeben erfunden hatte.

„Ich kann sie heute Nachmittag bei dir vorbeischicken“, meinte Deor und nickte dem Alten zum Abschied noch einmal zu.

„Denkst du, er wird mir auch schreiben beibringen?“, fragte Neolyt ihn hoffnungsvoll, während sie durch die Regalreihen gingen.

„Natürlich. Das macht er immer, wenn wir einen Analphabeten aufgabeln.“

„Analphawas?“

„Das ist jemand, der nicht lesen und schreiben kann“, erklärte er schnell.

„Ach so.“

In einer der gemütlichen Leseecken saß ein Junge tief über ein dickes Buch gebeugt und kritzelte gerade etwas auf ein Blatt Pergament.

„Yewan, ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass ich deine Schrift nicht entziffern kann, wenn du nicht hinschaust, während du etwas schreibst“, tadelte Deor ihn, doch sein Blick milderte die Worte.

„Wenn ich noch ein bisschen übe, kannst auch du sie lesen. Aber nur Übung macht den Meister und aller Anfang ist bekanntlich schwer.“ Yewan grinste übers ganze Gesicht, dann fiel sein Blick auf Neolyt und Neugier trat in seine Augen. Er stand auf und kam auf sie zu. Er musste mindestens drei Winter älter sein als sie und überragte sie um ungefähr anderthalb Köpfe.

„Ich bin Yewan“, erklärte er freundlich und streckte ihr die Hand entgegen.

„Neolyt“, entgegnete sie und schüttelte seine Hand.

„Sie wird jetzt auch meine Schülerin werden und vielleicht könnt ihr euch schon mal ein bisschen austauschen. Ich muss nur kurz schauen, wo noch ein Bett für sie frei ist. Bin gleich wieder da.“

Yewan grinste ihm hinterher und ließ sich wieder in den Sessel fallen.

„Das kann dauern. Setz dich doch.“ Er deutete auf den Sessel neben sich.

Neolyt ging hinüber. Sie versank so tief in dem weichen Polster, dass ihre Füße kaum noch den Boden berührten.

„Wie alt bist du?“, fragte der blonde Junge mit den blauen Augen. Er wirkte nett.

„Acht Winter. Und du?“

„Ich bin elf“, erwiderte Yewan ein wenig selbstzufrieden.

„Was machst du da?“, fragte sie und versuchte, einen Blick auf seine Notizen zu erhaschen.

„Ach, Hausaufgaben, die Deor mir aufgegeben hat. Er geht damit nicht gerade sparsam um.“ Abermals breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus und Neolyt hatte das Gefühl, als wären seine Muskeln wie Gummis, die immer wieder in diese Position zurückkehrten. Aber das war gut so und deshalb grinste sie zurück.

„Seit wann unterrichtet dich Deor schon?“

„Weiß nicht genau, vielleicht ein reichliches Drei­vierteljahr?“

Dann hatte Valria also vorhin von ihm gesprochen.

„Hat er noch andere Schüler?“

„Nicht mehr. Darain hat letztes Jahr die Prüfung abgelegt. Spitzenergebnisse, hab ich gehört.“ Er schnitt eine Grimasse und wirkte trotzdem noch nett. „Er war ein aufgeblasener Besserwisser“, stellte er fest. „Er wusste echt auf alle Fragen eine Antwort und jede freie Minute hat er hier rumgesessen und ein Buch nach dem anderen auswendig gelernt.“ In gespieltem Misstrauen kniff er die Augen zusammen. „Ich hoffe, du bist nicht auch so?“

Neolyt wurde wieder rot, eine nervige Angewohnheit ihres Gesichts.

„Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nichts über Drachen und Magie und so. Ich … ich kann noch nicht einmal lesen.“

Yewan legte ihr seine Hand auf die Schulter.

„Hey, das ist doch nicht schlimm. Ich konnte auch nicht lesen, als ich zu den Reitern kam, und es ist zwar eine sauschwere Sache, das zu lernen, aber Deas ist ein wirklich guter Lehrer.“ Er lächelte und diesmal war darin nichts Schelmisches zu sehen.

„Gut, aber selbst wenn ich lesen kann, glaub ich nicht, dass ich die ganzen Bücher hier auswendig lernen werde.“ Sie ließ ihren Blick über die vielen hohen Regale gleiten.

„Nee. Ich reite lieber durch den Wald oder übe zu kämpfen.“

Neolyts Augen leuchteten auf. „Man lernt hier auch, wie man reitet und kämpft?“, fragte sie neugierig.

„Na, zu reiten sowieso, es heißt ja nicht umsonst Drachenreiter und Einhornreiter. Aber richtig zu kämpfen lernen nur die mit genügend Magiepotenzial – und die müssen sich dann auch noch dafür entscheiden, Kämpfer zu werden“, erklärte er ihr.

„Was gibt es denn sonst noch?“

„Na, du kannst zum Beispiel Heiler werden, vielleicht auch Forscher oder Experimenteller, wie sie sagen. Oder man könnte, wenn man tatsächlich nichts Besseres zu tun hat, in die Räte gehen. Und natürlich gibt’s noch die Leute vom Handel, die haben ein bisschen weniger Potenzial, und am wenigsten haben die ganz einfachen Leute, die Schmiede und Bauern und so. Die sind von einem Einhorn oder Drachen ausgewählt worden und haben meistens Reiter als Eltern, sonst wären sie gar nicht zu uns gekommen. Und sie kriegen natürlich auch nicht so eine großartige Ausbildung. Aber wir dürfen auf jeden Fall zwischen Kämpfer und Heiler wählen. Und Ratssprecher“, setzte er hinzu, das Gesicht wieder zu einer Grimasse verzogen.

„Was ist das? Ein Ratssprecher?“

„Na … also das sind die Leute, die die wichtigen Ent­scheidungen zu fällen haben, die für die Staatskasse verantwortlich sind und so …“, antwortete er ihr ein bisschen unbestimmt.

„Was hast du gegen sie?“

„Viele von ihnen machen ziemlich viel Mist, vor allem die Hochräte. Das sind die mit viel Einfluss und Macht. Und wenn jemand Neues mit tollen, neuen Ideen kommt, um sie abzulösen, bleibt ihm trotz allem nichts anderes übrig, als den alten Mist weiterzumachen, weil sie schon so tief drinstecken, dass kein Weg zurückführt. Und so geht es immer weiter. Wenigstens haben wir keine absolute Monarchie mehr.“

„Und das ist gut?“

„Ja. Obwohl wir es leider noch immer nicht zu einer Demokratie geschafft haben.“

Neolyt verstand nicht ein Wort.

„Und warum gehst du nicht in die Räte und versuchst, das durchzusetzen?“

Doch die Antwort blieb Yewan erspart, da in diesem Augenblick Deor wieder auftauchte.

„Na, worüber redet ihr gerade?“

„Ratsprobleme“, erklärte Yewan mit einem stolzen Unterton.

„Seit wann interessierst du dich dafür?“

„Tu ich gar nicht. Und genau darüber reden wir.“

„Gut …“, erklärte Deor, für einen Moment aus dem Konzept gebracht. „Neolyt, ich habe ein Zimmer für dich gefunden und es werden auch schon passende Sachen für dich bereitgelegt. Und Yewan, ich gebe dir den Nachmittag frei, unter der Bedingung, dass du keinen Unsinn anstellst.“

„Würde ich nie tun“, beteuerte Yewan und zwinkerte Neolyt zu.

„Du kommst nach dem Mittagessen bitte wieder hier hoch, Neolyt.“

Sie nickte. „Wo ist mein Zimmer?“, fiel ihr dann noch ein zu fragen.

„Lora wird es dir zeigen. Sie wartet draußen vor der Bibliothek“, antwortete Deor und bedeutete ihr, dass sie gehen durfte.

Vor der Bibliothek stand eine kleine, pummelige Frau mit einem netten rosa Gesicht und neben ihr blinzelte ein ebenfalls etwas pummeliges, hellbraunes Fasteinhorn neugierig durch die Mähnenfransen.

„Du musst Neolyt sein, nicht wahr?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Ich bin Lora, aber das hat Meister Deor dir sicher schon gesagt. Ich bin so etwas wie die Betreuerin für die weiblichen Schülerinnen, ich wasche eure Sachen, mache eure Zimmer sauber, aber das ist kein Grund, sie absichtlich einzusauen.“ Sie holte kurz Luft und dann ging es auch schon weiter. Wie ein Wasserfall redete sie unaufhörlich auf Neolyt ein und machte nur Pausen, um Luft zu holen, und egal über wen oder was sie sprach, die ganze Zeit lächelte ihr pausbäckiges Gesicht. Neolyt fragte sich allmählich, ob wohl alle Reiter die Angewohnheit hatten, ununterbrochen zu grinsen oder zu lächeln.

Als sie in dem Korridor mit den Mädchenzimmern vor der Nummer 17 angelangt waren, hatte Neolyt eine Menge Dinge über andere Leute erfahren, die sie nicht verstand, sie nicht interessierten und sie alle miteinander sehr wenig angingen. Lora zückte einen Schlüsselbund, den Neolyt neugierig beäugte – schlaue Sache, immer ein Schlüssel für eine Tür –, und schloss einen kleinen Raum mit drei Betten, drei Schränken und drei Schreibtischen auf, von denen augenscheinlich jeweils nur zwei besetzt waren. Auf dem dritten Bett lagen eine schwarze Leinenhose und eine blaue Tunika.

„Das sind deine Sachen, in deinem Schrank hängen noch ein paar Wechselsachen und etwas zum Anziehen, falls du mal raus willst, ansonsten ist das Bad ganz hinten im Flur links und wenn du dich umgezogen hast, zeige ich dir den Speisesaal.“ Damit ging sie hinaus und Neolyt hatte endlich ihre Ruhe.

Schnell schlüpfte sie in die neuen Kleider. Der Stoff fühlte sich weich an auf der Haut. Ihre alten hängte sie ordentlich in den kleinen Schrank neben ihrem Bett. Dann sah sie sich noch einmal um. Hier würde sie also von nun an wohnen. Auf einmal fühlte sie sich einsam und allein, doch schnell verdrängte sie dieses Gefühl und ging hinaus auf den Flur, auf einen erneuten Redeschwall gefasst, der auch prompt eintrat.

„Ach, das passt dir ja wundervoll und es ist viel bequemer als das, was du vorher getragen hast, nicht wahr? Und viel sauberer natürlich, hattest du dieses Hemd eigentlich jemals gewaschen?“ Abermals redete und erzählte Lora den ganzen Weg über bis zum Speisesaal, den man schon vom anderen Ende des Ganges aus hören konnte.

„Machen die schon wieder einen Lärm“, bemerkte Lora, nur kurz ihren Redeschwall unterbrechend, dann ging es weiter mit einer Geschichte über den Freund des Mannes einer Cousine zweiten Grades.

Lora hatte recht gehabt, Lärm war ein sehr passendes Wort für den Zustand des Speisesaals. Löffel schwebten in der Luft, Suppe wurde dem Nachbarn über die neue Hose gekippt und Wasser über das Hemd des anderen. Neolyt hielt einen Teller mit warmer Suppe und einen Löffel in der Hand und sah sich im Raum um. Da sie Yewan nirgendwo entdecken konnte, setzte sie sich schließlich an den Rand einer laut schnatternden Mädchengruppe. Dann sah sie auf den Löffel und auf die Suppe, seufzte und fragte sich, wie um alles in der Welt sie mit dem einen das andere in ihren Mund befördern sollte. Das einzige, was sie in menschlicher Gestalt bisher zu sich genommen hatte, war Brot und Wasser gewesen. Nie aber hatte sie so etwas wie einen Löffel, geschweige denn eine Gabel oder ein Messer benutzen müssen. Einige Minuten saß sie nur da und sah sie sich um, in der Hoffnung, es sich bei den anderen abgucken zu können. Aber es sah zu kompliziert aus, als dass sie es hätte nachvollziehen können.

„Hey, schmeckt dir deine Suppe nicht?“, fragte auf einmal das Mädchen neben ihr. Sie hatte zwei lange, blonde Zöpfe und ihr neugieriges Gesicht war von Sommersprossen übersäht.

Neolyt wurde rot. Sicher würden die andere sie aus­lachen, wenn sie zugab, nicht mit einem Löffel umgehen zu können, aber schließlich antwortete sie trotzdem: „Ich weiß nicht genau, ich hab noch gar nicht gekostet.“

„Warum denn nicht?“

„Ich … na ja, ich hab vorher noch nie mit einem Löffel gegessen und …“

Das Mädchen grinste. „Du verarschst mich, oder?“

„Nein, ehrlich. Ich hatte ja auch nie einen Grund dazu. Bei uns im Rudel wurde immer gejagt und ich glaube, Reh und Wildschwein kann man nicht so gut mit dem Löffel essen.“

„Bei dir im Rudel? Sag bloß, du bist bei Wölfen aufgewachsen.“ Die Stimme des Mädchens klang ziemlich ungläubig.

„Doch, natürlich. Ich bin ein Halbwolf.“

Die Augen der anderen weiteten sich.

„Ehrlich? Ist ja total irre! Dann ist es ja klar, dass du das nicht kannst. Aber ich kann’s dir zeigen, pass auf.“ Sie nahm ihren Löffel in die Hand und bedeutete Neolyt, es nach­zumachen. Dann lachte sie. „Nein, schau, du musst den Löffel auf den Mittelfinger legen – ja –, den Zeigefinger daneben – genau … – und den Daumen drüber – nein, schau mal, so. Gut. Und jetzt nimmst du so die Suppe drauf und steckst dir alles zusammen in den Mund.“ Aufmerksam beobachtete sie, wie Neolyt sie nachahmte und streckte ihr dann die Hand entgegen. „Ich bin Aely. Aber die meisten nennen mich Elly.“

Neolyt nickte. „Ich bin Neolyt. Mich hat bis jetzt noch kaum ein Mensch irgendwie genannt.“

„Darf ich mir einen Spitznamen für dich ausdenken?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. „Mmh … wie wär’s mit … Neo? Ach nee, das klingt doof. Aber Nel ist gut, oder? Ja, Nel ist ein guter Name. Gefällt er dir auch?“ Neolyt nickte zustimmend, obwohl sie keine Ahnung hatte, wozu ein Spitzname gut war.

„In welchem Zimmer bist du eigentlich?“

„Ich glaube, siebzehn.“

„Oh, das ist ja toll. Dann sind wir im gleichen Zimmer. Bei uns wohnt noch Elbea, sie ist unglaublich hübsch, ich beneide sie so um ihre braunen Locken, aber sie sagt eigentlich nie etwas. Ab dem nächsten Jahr haben wir das Zimmer für uns, sie ist dann nämlich fertig mit der Ausbildung. Du bist ganz neu, oder? Wann bist du angekommen?“

„Heute Vormittag.“

„Bei wem hast du Unterricht?“

„Ich weiß nicht genau. Deor ist mein Mentor und Deas soll mir lesen und schreiben beibringen. Habe ich dann noch andere Lehrer?“

„Kann sein. Manchmal werden alle Schüler zusammen von Wadne im Schwertkampf unterrichtet.“

Der Speisesaal leerte sich allmählich und auch Neolyt hatte schließlich ihre Suppe aufgegessen.

„Danke noch mal“, sagte sie, während sie aufstand, und lächelte Elly zu.

„Gerne doch. Beim Abendessen können wir mit Messer und Gabel weitermachen.“

„Wir essen zweimal am Tag?“ Neolyt war verwundert. Im Rudel hatte es allerhöchstens alle zwei Tage etwas gegeben.

„Dreimal.“ Elly grinste. „Wir sehen uns heute Abend, ja?“ Dann war sie auch schon verschwunden.

Ein paar Stunden später saß Neolyt in der Bibliothek an einem Tisch neben Deas und malte konzentriert einige Zeichen auf ein Stück Pergament, die schon auf einem anderen standen, dort aber viel ebenmäßiger aussahen.

„Gut, Neolyt, und jetzt lies sie mir bitte noch einmal vor.“

Sie seufzte, das ging nun schon seit Stunden so.

„M, Q, W, E, N, R, B, T, V, Z, C, U, X, O, L, P, I, K, A, J, S, H, D, G, F und … Ypson.“

„Ypsilon.“

„Mein ich ja. Ypsilon.“ Sie lehnte sich zurück. Das war anstrengender, als sie gedacht hätte.

Etwas weiter hinten saß Deor, in ein Buch vertieft. Neolyt sah ihn neidisch an, sie würde auch gerne so gut lesen können wie er, dann wären diese ganzen Übungen ein Klacks für sie.

„Dann machen wir jetzt weiter mit …“ Deas griff weit über den Tisch und stieß dabei mit dem Arm gegen die Lampe mit dem Flammengeist, die zu Bruch ging und ihren Inhalt auf Neolyts Übungspergament kippte. Kleine, züngelnde Flammen tanzten über das Papier. Ohne zu zögern, geschweige denn nachzudenken, erstickte Neolyt sie mit der bloßen Hand, und als sie sie zurückzog, war es, als wäre das Feuer nie dagewesen. Auch ihre Handfläche und Finger wiesen keinerlei Verletzung auf.

Ein überraschter Ausruf kam von Deas, dann wandte er sich zu Deor um. „Du hättest mich ruhig vorher warnen können, dass sie über Feuerkräfte verfügt.“

„Was?“, fragte Deor, aus den Untiefen des Buches gerissen.

„Du hast sie noch nicht geprüft, stimmt’s?“ Deas seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich hätte mich beinahe zu Tode erschreckt, als sie ihre Hand aufs Feuer gelegt hat.“

„Feuer also. Na dann kann ich mir die Prozedur ja sparen.“ Und Deor versank wieder in seinem Buch.

Deas schüttelte abermals den Kopf, dann setzten sie den Unterricht fort.

Am Abend war Neolyt so gerädert und in ihrem Kopf schwirrten die Buchstaben und Wörter so wild durch­einander, dass sie sich kaum darüber wunderte, dass irgendein Schwachkopf das Fleisch einfach angebraten hatte. Geduldig lernte sie von Elly den Gebrauch von Messer und Gabel.

Irgendwann später, als ihr keine Ausrede mehr einfiel, das komische Fleisch nicht essen zu müssen, lies sich Yewan neben ihr auf die Bank fallen und machte sich heißhungrig über das braune Fleisch her.

„Schmeckt das?“ Sie sah ihm skeptisch zu, wie er sich Gabel für Gabel in den Mund schob.

Er kaute hinter und erwiderte mit halbvollem Mund: „Überhaupt nift. If kann deinf gerne effen.“ Er schluckte und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nein. Lesen und schreiben macht hungrig. Ich hab mich nur gewundert, weil es so aussieht, als wäre es angebraten worden.“

Bei diesen Worten fing Yewan derart an zu lachen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Dann sah er sie an und fragte noch immer breit grinsend: „Das hast du ernst gemeint, oder?“

„Natürlich.“

„Hast du noch nie gebratenes Fleisch gegessen?“

„Nein. Macht man das normalerweise so? Das ist doch verrückt. Im Rudel wäre niemand auf eine so blöde Idee gekommen.“ Sie schüttelte verwirrt den Kopf, weil Yewan erneut lachte. „Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Fleisch braten … blöde Idee“, brachte er nur zwischen zwei Lachanfällen heraus. Als er sich schließlich beruhigt hatte, hakte er noch einmal nach: „Dann bist du also wirklich ein Halbwolf?“

„Woher weißt du das?“

„Von Deor. Ich dachte, er will mich auf den Arm nehmen. Und eigentlich sollte ich dich auch nicht darauf ansprechen.“

Neolyt nickte und schnitt ein Stück des Fleisches ab. Sie kaute, hielt inne, kaute weiter und schluckte hinter, dann schüttelte sie sich und schob ihren Teller demonstrativ Yewan hinüber. Er kicherte wieder.

„Da sag ich nicht nein.“

Neolyt stand auf und ging runter zu den Schüler­zimmern. Die Lampen in den Korridoren verdunkelten sich zunehmend, wahrscheinlich, um Tag und Nacht zu simulieren, wofür Neolyt hier unter der Erde schon das Gefühl verloren hatte. Schließlich erreichte sie todmüde Zimmer 17, klopfte und nach einiger Zeit wurde die Tür von einem großen, schlanken, braungelockten Mädchen mit dunkelgrünen Augen geöffnet. Sie lächelte freundlich.

„Hi. Du bist Neolyt, oder? Elly hat mir schon von dir erzählt. Ich bin Elbea, aber das weißt du sicher schon.“

Neolyt nickte und ging zu ihrem Bett hinüber.

„Ich muss nochmal in den Hausaufgabenraum, aber ich werde euch nicht wecken, wenn ich wiederkomme, versprochen.“ Sie sah kurz auf den Flur. „Elly kommt auch schon.“ Dann war sie verschwunden und wenig später öffnete sich die Tür und Elly kam herein.

„Wo warst du noch?“, fragte Neolyt, eher uninteressiert an der Antwort.

„Ach, Hausaufgaben machen. Ich will jetzt einfach nur noch ins Bett.“

Das konnte Neolyt voll und ganz nachvollziehen.

Sie folgte Elly in die Waschräume und, nach vollzogener Prozedur, wieder zurück in ihr Zimmer. Dort zog sie sich um und ließ sich todmüde ins Bett fallen. Elly löschte das Licht.

Eigentlich hatte Neolyt gedacht, sofort Schlaf zu finden, aber in der Stille und der Dunkelheit kehrte das Gefühl der Einsamkeit zurück. Im Wald war es nie so dunkel geworden, die Bäume hatten gerauscht und im Sommer die Grillen gezirpt, hin und wieder ein Vogel gezwitschert oder ein Bach geplätschert. Hier aber, viele Schritt unter der Erde, war die Stille so erdrückend, dass sie meinte, kaum atmen zu können. Neolyt konnte die Hand nicht vor Augen sehen und das Gefühl beschlich sie, die Wände würden immer näher rücken und sie zerquetschen. Sie fühlte sich gefangen, eingesperrt, vergraben. Angst stieg in ihr hoch, pure Angst, doch zwang sie sich, sie nicht hinauszuschreien, sondern leise weinend, starr in ihrem Bett liegen zu bleiben.

„Kannst du nicht schlafen?“, flüsterte auf einmal eine Stimme neben ihr.

Neolyt wollte nichts sagen, so tun, als ob sie schliefe, doch ein leiser Schluchzer entrang sich ihrer Kehle.

„Hey, was ist los?“ Ganz schwach glommen die Flammen­geisterlampen auf.

„Nichts.“ Ihre Stimme klang erstickt, sie hätte sich selbst kein Wort geglaubt.

Sie spürte, wie Elly sich auf ihren Bettrand setzte und ihr übers Haar strich.

„Tut mir leid, dass ich heute so viel geredet habe. Das muss beschissen gewesen sein, fremde Umgebung und lauter fremde Leute, die pausenlos auf einen einquatschen. Aber ich wollte einfach nicht, dass du mich etwas fragst. Es wäre mir total peinlich gewesen, schließlich bist du bei Wölfen aufgewachsen und fändest mich bestimmt total blöd.“

„Warum?“ Neolyt setzte sich auf und blinzelte die Tränen aus ihren Augen weg.

„Na ja, weil ich eben einfach nur aus irgendeinem Kaff in Yalyris komme und nur rein zufällig entdeckt wurde.“

„Wie denn?“

„Ich bin mit meiner Mutter zur Auswahl der neuen Reiterschüler gegangen, weil wir gerade in der Hauptstadt waren und ich unbedingt hinwollte. Tja, irgend so ein Dummkopf hat dann halt gedacht, ich wäre auch ein Kandidat, mich auf die Tribüne gezogen und ich wurde ausgewählt. Meine Mutter hat erst totales Theater gemacht, weil ich zur Ausbildung woanders hinsollte, aber schließlich hat sie mich doch gehen lassen.“

„Da siehst du. Überhaupt kein Zufall – Schicksal. Bei mir war es Zufall. Ich bin nicht mal ausgewählt worden. Deor ist einfach nur gekommen, weil es eine Geschichte gab. Und meine Mutter hat sich gar nicht aufgeregt. Sie hat gesagt: Geh mit, bald kommst du ja wieder. Sonst nichts.“ Abermals füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Elly nahm sie in den Arm, strich ihr übers Haar und murmelte tröstende Worte. Es war ein gutes Gefühl, umarmt zu werden.

„Ich glaube, deiner Mutter liegt sehr viel an dir und sie wollte sicher nur dein Bestes.“ Neolyt hörte, wie Elly schnaubte. „Aber vielleicht hätte sie dich vorher fragen sollen, was du möchtest.“

Neolyt nickte und löste sich aus der Umarmung. Mit einer energischen Bewegung rieb sie sich die Tränen aus den Augen und lächelte die Freundin an. „Danke. Ich denke, jetzt kann ich schlafen. Können wir das Licht ein bisschen anlassen?“

Sie schlief tatsächlich ein, tief unter der Erde, weit entfernt von ihrer Familie, nicht ahnend, worauf sie sich eingelassen hatte, was alles aus diesem Anfang erwachsen würde, wie oft sie sich wünschen würde, alles wäre anders gewesen und sie wäre nie zu den Einhornreitern gekommen. Aber im Bett neben ihr lag ihre erste echte Freundin.

Sie mögen den schweren Weg mit ihr gehen.

TIONCALAI

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