Читать книгу TIONCALAI - Esther-Maria Herenz - Страница 14
ОглавлениеSternbilder
Zwei Tage später betrat Neolyt nach einem ausgiebigen Frühstück den Unterrichtsraum, in dem Deor bereits wartete. Ein Blick auf den Sonnenmesser an der Wand verriet ihr, dass sie tatsächlich etwas spät dran war.
„Ravela, Neolyt“, begrüßte Deor sie und sie erwiderte seinen Gruß. „Ich habe mir gedacht, dass wir heute mit der Geschichte der Reiter beginnen“, meinte er leichthin und hielt dann inne, als würde er auf eine Reaktion ihrerseits warten.
„Gut“, erwiderte sie daher.
„Dann hat dir Yewan noch nichts darüber erzählt?“
„Nein. Sollte er denn?“
„Auf keinen Fall. Er ist etwas … voreingenommen, was das betrifft“, erklärte Deor vorsichtig.
Neolyt setzte sich auf die Bank und Deor nahm seine gewohnte Position vor der Tafel ein. „Über den Ursprung der Einhorn- und Drachenreiter kursieren nur Legenden, aber eines ist gewiss: Es waren keine Menschen, die damals zu den Einhörnern kamen. In jeder bekannten Legende ist von mächtigen, bereits der Magie begabten Wesen die Rede, die zwar menschenähnliche Gestalt hatten, unsereinem jedoch ansonsten weit voraus waren. Man kann nicht genau sagen, wann der Orden der Einhornreiter gegründet wurde, da es zwischendurch einige Zeitverschiebungen gegeben hat.“
„Was ist eine Zeitverschiebung?“, fragte Neolyt und blickte von den Notizen auf.
„Das hängt mit Dimensionssprüngen zusammen“, erklärte Deor, was Neolyt nur noch mehr verwirrte. „Es bedeutet, dass die Einhornreiter damals mit den Einhörnern in eine andere Welt gereist sind, aber dazu kommen wir später noch.“
Neolyt verstand den Zweck hinter dem Geschichtsunterricht partout nicht. Warum sollte man etwas lernen, was schon längst vergangen war? Das hatte doch keinen Sinn. Man konnte es nicht ändern und es war nicht einmal sicher, ob es überhaupt stimmte.
„Dafür kann man etwas für heute aus der Vergangenheit lernen“, erklärte ihr Elly einige Wochen später, als sich Neolyt darüber in ihrem Zimmer ausließ.
„Ach ja? Und wie soll das gehen? Das wird doch so nie wieder passieren“, meinte Neolyt spöttisch.
„Man kann aus den Fehlern anderer lernen. Wenn zum Beispiel jemand in der Vergangenheit einen Krieg verloren hat, lässt sich im Nachhinein meist genau sagen, warum. Das kann man sich zunutze machen und das nächste Mal den Fehler nicht wiederholen.“
„Warum sollte man Krieg führen?“, fragte Neolyt verblüfft.
„Menschen haben die blöde Angewohnheit, ständig nach Macht, Geld und Besitz zu streben. Wer ihnen dabei im Weg steht, wird beseitigt“, erklärte Elly und seufzte. „Aber du hast recht, es ist sinnlos.“
Neolyt runzelte die Stirn. Das war noch so eine Sache, wegen der sie am liebsten Wolf geblieben wäre. Aber Yewan lag natürlich richtig, wenn er sagte, dass sie selbst bestimmen konnte, wie und wer sie war. Sie würde nicht einfach so Krieg führen.
Erst einige Wochen später durften die Unterklässler wieder aus dem „Bau“, wie die unterirdische Schule allgemein genannt wurde, hinaus. Drinnen war die Temperatur nach wie vor angenehm warm, doch draußen war es inzwischen kalt genug geworden, dass eine ansehnliche Schneedecke auf den Bäumen und Lichtungen lag. Dieser Ausflug wurde daher deutlich amüsanter als der letzte. Yewan und seine Freunde zettelten eine Schneeballschlacht an und an magischen Tricks wurde dabei nicht gespart. Neolyt tollte in Wolfsgestalt durch das kühle Weiß, wich einem Schneeball aus und erwiderte den Wurf mit einer Lawine aus den Zweigen einer Tanne über Yewans Kopf. Nach ihrer Rückkehr waren alle klitschnass, hatten hochrote Köpfe und grinsten übers ganze Gesicht. Nur Neolyt hatte sich den Schnee aus dem Fell geschüttelt und sah amüsiert lächelnd dabei zu, wie Yewan, Elly und Elnar sich aus ihren nassen Jacken schälten.
„Treffen wir uns nachher in der Bibliothek?“, fragte Yewan schließlich. „Ich hab noch eine Menge zu erledigen und ich glaube, du sitzt auch gerade über den Magieschemen, oder?“, fügte er an Neolyt gewandt hinzu.
„Die hatte ich schon. Wir haben jetzt mit den Momen-Faltern angefangen. Dauert das wirklich bis zum Ende des Jahres?“
„Oh ja, wenn du Glück hast und schnell lernst. Das ist ein riesiges Stoffgebiet, weil auch die ganz kleinen Feen und so mit reingehören.“
„Was für ein Magieschema haben die eigentlich?“
„Geman“, erwiderte er. „Bis gleich!“
Die anderen bogen in den Gang zu den Schülerzimmern ein, während Neolyt den Weg zur Bibliothek nahm. Schon seit Langem war sie nicht mehr allein durch die Gänge gegangen. Sie fühlte sich beobachtet und unsicher. Einzelne Schülergruppen liefen an ihr vorüber und hin und wieder auch Erwachsene. Sie hielt sich lieber dicht an den Wänden, um nicht allzu sehr im Weg zu stehen, zumal sie deutlich kleiner war als die anderen und befürchtete, einfach niedergetrampelt zu werden. Einmal hatte sie bei der Jagd auf eine Hirschherde mit ansehen müssen, wie Karr unter die Hufe der panischen Tiere geraten und einfach untergegangen war. Das würde sie niemals vergessen, weil Karr zeitweilig ihr Lehrer gewesen war und sie und ihre Freundin Manae die Einzeljagd gelehrt hatte.
So in Gedanken versunken merkte sie erst spät, dass jemand ihren Namen rief.
„Neolyt!“ Valria eilte auf sie zu. „Schön, dass ich dich auch einmal sehe. Von Deor und Wadne habe ich schon so viel über dich gehört“, meinte sie und lächelte. „Nur Gutes, natürlich. Du scheinst schnell zu lernen.“
„Ich habe ja auch in den Ferien Unterricht“, erklärte Neolyt, der das Lob unangenehm war.
„Hättest du kurz Zeit? Ich würde mich gern etwas mit dir unterhalten.“
„Ja, aber ich muss bald in die Bibliothek, Elly, Yewan und Elnar warten dort.“
„Es dauert nicht lange, keine Sorge.“
Neolyt folgte ihr in ein kleines, leerstehendes Klassenzimmer. Für einen Moment herrschte Stille.
„Deor hat mir von deiner besonderen Gabe erzählt“, begann Valria schließlich. „Ist es wahr? Kannst du Magie spüren?“
Neolyt fühlte sich unter dem neugierig drängenden Blick unwohl, doch für einen Moment unterdrückte sie ihre wölfische Natur, die ihr mit allen Sinnen den Gegenangriff befahl.
„Elnar und Deor sagen das“, entgegnete sie ruhig. „Manchmal fühle ich etwas, aber selten stark.“
„Aber du bist dir sicher, dass es Magie ist, die du spürst. Nicht etwas anderes?“
„Ja, ich erkenne, dass es Magie ist.“
„Gut, gut.“ Valria fuhr sich mit erleichtertem Gesichtsausdruck durchs Haar. „Wenn du wüsstest, was für einen Stein uns vom Herzen fällt“, murmelte sie.
„Wem?“, hakte Neolyt nach.
Etwas an Valrias Lächeln wirkte unecht. „Der kleinen Gruppe von Magieforschern, der ich angehöre“, erklärte sie eine Spur zu hastig, aber das fiel Neolyt nicht auf. „Wir hatten so etwas in einer Berechnung festgestellt und dachten schon, wir müssten alles hinterfragen, was wir bis dato herausgefunden hatten. Aber das langweilt dich sicher nur.“
„Warum darf ich es niemandem erzählen?“, fragte Neolyt. Deor hatte es ihr noch immer nicht verraten wollen.
„Es gibt Leute, die dich deswegen töten würden“, erklärte Valria unverblümt.
Neolyt zuckte erschrocken zurück und ein Knoten der Angst schnürte sich in ihrer Brust. „Töten?“
„Ja. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Behalt es für dich, dann kann dir nichts passieren.“ Valria lächelte ihr aufmunternd zu.
Am nächsten Morgen war Neolyts Angst so groß geworden, dass sie nicht mehr an sich halten konnte, als sie zu Deor ins Klassenzimmer trat.
„Valria hat mir erzählt, warum niemand wissen darf, dass ich Magie spüre“, platzte sie heraus und Deor ließ vor Schreck ein Tintenfass fallen, das laut splitternd auf dem Boden zersprang und seinen Inhalt überall hin verspritzte.
„Was hat sie dir erzählt?“, fragte er ungläubig.
„Sie würden mich töten, wenn sie es erführen. Irgendwelche Leute“, stieß Neolyt hervor und kämpfte mit den Tränen.
„Oh, Neolyt, es tut mir leid“, sagte er und nahm sie in den Arm. „Ich wollte es dir nicht erzählen. Ich dachte, es wäre zu viel für dich.“
„Aber es ist die Wahrheit? Ich – ich habe solche Angst!“
„Das brauchst du nicht, Neolyt. Wenn du es niemandem erzählst und in unserer Nähe bleibst, kann dir nichts passieren. Wir passen auf dich auf, keine Sorge.“
„Deswegen sollte ich in den Ferien nicht zum Rudel, oder? Aber meine Familie kann doch genauso auf mich aufpassen.“
„Nun, diese Menschen sind der Magie fähig, Neolyt. Du würdest das Rudel in Gefahr bringen, indem du dort hinreist.“
„Nein! Dann will ich dort nicht hin. Ich bleibe hier, ihnen darf nichts passieren.“ Neolyt schluchzte laut.
„Beruhige dich. Die Leute wissen nicht, was du kannst. Sie kennen dich nicht und sie wissen nicht, wo du bist. Du musst wirklich keine Angst haben, nur vorsichtig solltest du in Zukunft sein.“
„Das werde ich bestimmt“, versprach sie.
„Gut. Wollen wir dann mit dem Unterricht anfangen?“, fragte Deor.
Neolyt nickte und wischte sich energisch die Tränen aus den Augen.
Mit einer einzigen Handbewegung reparierte Deor das Tintenfass und ließ die Tinte zurückfließen.
Mit der Zeit verblasste die Bedrohung durch die unbekannten Mörder mehr und mehr. Nur wenn sie schlafen ging, kamen in Neolyt manchmal die Ängste zurück, doch auch dies wurde immer seltener.
Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, an den Wochenenden nicht zu ihrer Familie fahren zu können, und stattdessen genoss sie den zusätzlichen Unterricht. Sie liebte die Magie und jedes neue Wissen war ihr willkommen. Selbst Geschichte ließ sie über sich ergehen und versuchte, wie Elly es ihr geraten hatte, die Kreisläufe zu erkennen, was ihr allerdings kaum gelang.
Einige Wochen später kam Yewan mit breitem Grinsen auf sie zugelaufen.
„Hey, Neolyt. Ich habe im Unterricht gerade mit Astronomie angefangen und Deor meinte, solange wir einen so klaren Sternenhimmel hätten, sollten wir das ausnutzen. Deshalb gehen wir heute Abend an den Spiegelsee und schauen uns die Sternbilder an. Er sagte, heute könne ich vielleicht endlich einen Sternenstein herstellen.“
„Das freut mich für dich“, antwortete Neolyt, die nicht verstand, warum er ihr das erzählte.
„Stimmt, das Beste hatte ich vergessen: Du darfst mitkommen.“ Er sah sie erwartungsvoll an.
„Wenn es so gut ist, wie du es erzählst, kann’s wohl nicht schaden“, meinte sie. Es würde schön sein, einmal wieder an die frische Luft zu kommen, den letzten Ausgang hatte sie verpasst, weil Deor ihr Unmengen an Hausaufgaben aufgegeben hatte. Sie vermutete, dass das Absicht gewesen war, um sie nicht in Gefahr zu bringen.
Am Abend trafen sie sich vor dem Eingangsraum der Lehrer.
„Hätte ich auch so etwas mitnehmen sollen?“, fragte Neolyt mit einem Blick auf die schwarzen Rucksäcke, die Deor und Yewan trugen.
„Nein, das ist Unterrichtsmaterial. Du bist nur als Zuschauerin dabei“, erklärte Yewan.
Über ihre normalen Kleider zogen sie dunkle Jacken und Hosen, die zwar dünn waren, aber dennoch wärmten. Danach gingen sie einen langen, niedrigen Gang entlang, der zu einem der Holzkästen führte, der sie an die Oberfläche transportieren würde. Unruhig trommelte Neolyt mit den Fingern auf den Griff im Innern des Kastens. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, nur von einer merkwürdigen Seilverknotung gehalten zu werden.
„Haben Wölfe eigentlich eigene Sternbilder?“, fragte Deor und brach damit die Stille.
„Ich weiß nicht“, antwortete Neolyt. „Wir haben Sternbindungen, aber das ist wahrscheinlich das Gleiche.“
„Und was für Bilder sind das?“
„Viele Tiere und Bäume. Und ein paar Menschen, die wegen besonderer Taten in die Heldenwälder gekommen sind“, erklärte sie.
„Dann habt ihr also auch eine eigene Religion?“ Deor wirkte erstaunt.
„Was ist eine Rehlegion?“
„Eine Religion ist sozusagen das, woran man glaubt, was nach dem Tod geschieht, und wer das leitet, was wir tun“, versuchte Deor etwas umständlich, sich in Worte zu fassen.
„Ach so. Na ja, einige glauben daran, aber eigentlich ist es uns egal, solange wir überleben.“
„Und was ist mit den Sternbildern?“
„Es sind Geschichten. Ich weiß nicht, ob sie stimmen.“
Sie waren oben angekommen und Deor öffnete die knarzende Schiebetür. Draußen war es noch kühl, doch Schnee lag nicht mehr. Durch die kahlen, von der Nacht geschwärzten Äste der Bäume funkelten vereinzelt Sterne. Neolyt konnte sehen, dass sich Deor und Yewan durchaus Mühe gaben, sich leise zu bewegen, um die stille Schönheit der Nacht nicht zu stören. Doch umsonst, selbst eine taube Maus hätte sie gehört.
Scheinbar endlos schritten sie durch den tiefdunklen Wald, bis er sich schließlich lichtete und sie hinaus auf einen Kiesstrand traten. Der Anblick verschlug Neolyt den Atem. Ihre Mutter hatte sie noch nie mit aufs Sterneneis genommen, aber sie hatte Geschichten von den Hochjährigen gehört. Niemals jedoch hätte sie sich so etwas vorstellen können. Der Himmel war unglaublich klar, es schienen mehr Sterne als gewöhnlich und der ruhige, glatte See spiegelte sie zu Tausenden wider.
„Wow“, flüsterte Yewan, der wohl Ähnliches empfand wie sie.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, meinte Deor. Auch er hatte die Stimme gesenkt. „Kommt, wir fahren auf den See hinaus.“
Am Ufer lag ein mittelgroßes Floß, wohin sie Deor mit knirschenden Schritten folgten. Das Geräusch hallte einsam durch die Nacht. Nachdem sie sich auf die dicht aneinander gebundenen Stämme gesetzt hatten, ließ Deor das Floß mit einer knappen Handbewegung anfahren. Neolyt betrachtete mit großen Augen die funkelnden Wellen, die ihr Gefährt mit der Fahrt in den See schlug. Das Wasser war tiefschwarz und wie mit weißblauen Funken besetzt. Der Himmel schien eine Erweiterung des Sees zu sein, als säßen sie in einer endlos weiten Kugel.
„Gut, wir sind da.“ Deor stoppte das Floß. „Nimm dir schon mal einen Stein“, sagte er zu Yewan, dann fügte er an Neolyt gewandt hinzu: „Ich möchte, dass du versuchst, Magie zu spüren.“
Sie nickte.
Während Yewan und Deor sich leise flüsternd auf den Zauber vorbereiteten, setzte Neolyt sich im Schneidersitz an die Kante des Floßes und entspannte sich, wie Deor es ihr in den letzten Stunden beigebracht hatte. Ihr Atem wurde langsamer, ihr Blick richtete sich in weite Ferne. Die plätschernden Wellen des Sees waren das einzige, was ihre Ohren wahrnahmen, und die einzelnen, klar leuchtenden Sterne verschwammen zu einem Meer aus weißblauem Licht.
Und mit einem Mal spürte sie alles. Es war so groß! Sie fühlte alle Fische und Lebewesen im See, ein ganzes Stück des Waldes, die Berge am anderen Ufer, jede Mücke in der Luft, sogar das Licht der Sterne fühlte sie auf sich gebündelt. Sie spürte alles. Nach Luft schnappend erwachte sie aus der Trance.
„Alles in Ordnung, Neolyt?“, fragte Yewan hinter ihr.
„Ja, alles klar“, erwiderte sie und fuhr sich mit zitternden Fingern über die Augen.
„Hast du etwas gespürt?“
„Ich habe alles gespürt.“
„Alles?“, fragte Deor und trat zu ihnen heran. „Wie meinst du das?“
„Bis über das Ufer hinaus alles, was lebt. Und auch Wasser, Steine und Licht.“
„Licht? Das ist großartig, Neolyt.“ Deor lächelte stolz. „Es gibt manchmal sehr magiegeladene Nächte in den Bergen“, erklärte er, „vor allem hier am See. Und wie es scheint, lässt sich dein sechster Sinn noch um einiges erweitern und ausbilden.“
„Kann ich das jetzt immer machen?“, fragte sie mit glücklich strahlenden Augen.
Doch Deor schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider nicht. Aber wenn du den Sinn nur immer trainierst, wird er eines Tages genauso stark oder vielleicht sogar noch stärker sein als jetzt“, fügte er hinzu, als er ihre enttäuschte Miene sah.
„Keine Sorge, so ehrgeizig und schlau, wie du bist, wirst du in einem halben Jahr schon besser sein als jetzt“, sagte Yewan und sie musste lachen.
„So schnell wird es wohl nicht gehen, aber mach dir darüber jetzt keine Gedanken“, riet ihr Deor. „Genieß das Gefühl und behalte es im Gedächtnis.“
Etwas später stieß Yewan einen gedämpften Freudenschrei aus und kam breit grinsend zu Neolyt hinüber, die ihre Finger vom schwarzen Wasser umspielen ließ.
„Ich hab’s geschafft“, erklärte er und hielt ihr etwas hin.
Neolyt stand auf und betrachtete eingehend den Stein in seiner Handfläche. Er war tiefschwarz und schien mit vielen winzigen Sternen besetzt zu sein. „Du hast den Sternhimmel in den Stein gebannt“, flüsterte sie überrascht, als sie einige Sternbindungen erkannte.
„Du kannst ihn haben, wenn du willst.“ Er streckte ihr den Stein entgegen.
Neolyt nahm ihn in die Hand und musterte ihn abermals sehr genau. Dann zeigte sie auf eine Verbindung. „Das ist die weiße Wölfin Anuim, nach der meine Mutter benannt worden ist“, erklärte sie und fuhr eine Linie aus Sternen nach. Augenblicklich erklang eine Folge von Tönen, die klar und wunderschön über den See hallte.
„Interessant.“ Deor blickte sie überrascht an. „Eure Sternbindungen entsprechen den magischen Tonfolgen der Sterne. Damit hast du schon mal ein relativ großes Stoffgebiet übersprungen.“
„Aber ich muss die alle lernen?“, fragte Yewan und blickte Deor entgeistert an.
„Die magische Verbindung von Licht und Ton ist sehr wichtig“, erklärte dieser. „Du wirst wohl einige der Folgen lernen müssen. Aber keine Sorge, auch Neolyt wird lernen müssen, wie man mit einem Ton Licht entfacht.“
„Als ob’s das besser machen würde“, murrte Yewan und nahm sich einen nächsten Stein aus dem Rucksack.
Noch einige Stunden lang blieben sie auf dem See. Neolyt spielte Melodien auf dem Sternenstein und Yewan schuf noch drei weitere, bis Deor endlich zufrieden war und er sich von Neolyt ein paar Tonfolgen zeigen lassen sollte. Tatsächlich beherrschte er bereits vier davon, als sie wieder zum Ufer aufbrachen, auch wenn er meinte, sie am nächsten Tag sowieso wieder vergessen zu haben.
Bedauernd sah Neolyt auf den See zurück, als sie wieder in den Wald hineintraten. Das berauschende Gefühl der Weite war vergangen, doch die Nacht hatte noch immer dieselbe unvergleichliche Schönheit.
Erst auf dem Weg im Holzkasten unter die Erde überkam sie eine überwältigende Müdigkeit. Nachdem sie Yewan und Deor eine gute Nacht gewünscht hatte, schlurfte sie zu ihrem Zimmer und ließ sich nach einer kurzen Dusche ins Bett fallen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Sterne leuchten. Und mit einem Mal überkam sie eine schreckliche Sehnsucht nach ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrem Rudel und ihrem Wald. Wie lange würde sie wohl ohne sie aushalten müssen? Und wie sehr würde die Magie sie verändern? Bereits jetzt merkte sie, dass sie nicht mehr dieselbe war. Aber das gehörte zum Älterwerden dazu. Und die Magie war ein Teil ihrer selbst geworden, ein aufregender, machtvoller und wunderbarer Teil.
Sie drehte sich zur linken Seite und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Dann schloss sie die Augen und verlor sich im Sternenhimmel.
Sterne sind die Brücken zwischen den Herzen.