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Wolf und Mensch

Schon zwei Wochen später bestätigten sich Neolyts Zweifel an Yewans Beteuerung, das Geheimnis für sich zu behalten. In einer Pause zwischen zwei Schwertkampfstunden betrat Deor die Halle und eilte auf sie zu.

„Ravela, Deor“, sprach sie die traditionelle Begrüßung der Reiter und stellte die Wasserflasche beiseite. Sie hatte sich trotz Elnars Bitten für die Kämpferausbildung entschieden und auch er hatte eingesehen, dass dies ihrer Natur und ihrem Talent entspräche, was sie nicht ganz verstanden hatte, aber sie war froh gewesen, dass er ihr nicht böse war. Denn inzwischen wurden ihr ihre Freunde unter den Menschen, Elly, Yewan, Elnar und auch Deor, tatsächlich wichtig. Mit anderen redete sie hingegen nach wie vor ungern. Womöglich war es freundlich gemeint, wenn Deas sie gelegentlich ansprach, doch sie fühlte sich stets in die Ecke gedrängt, bedroht.

Sofort erkannte sie, dass Deor nicht gut gelaunt war.

„Ravela, Neolyt“, antwortete er ihr und fuhr ohne Umschweife fort: „Was um alles in der Welt hat euch dazu getrieben, es Yewan zu verraten? Du kennst ihn doch! Du weißt, dass er gern die Ernsthaftigkeit einiger Tatsachen ignoriert.“

„Aber er wird es niemandem verraten“, sagte sie, obwohl sie sich da inzwischen nicht mehr sicher war.

Deors Antwort überraschte sie. „Ja, jetzt wird er kein Wort mehr darüber verlieren. Ich möchte nur, dass auch du und Elnar niemandem mehr davon erzählt.“

Unter seinem eindringlichen Blick kam sie sich noch kleiner vor. Und wieder in die Enge gedrängt. Beinahe automatisch ging sie zum Angriff über.

„Ich würde wirklich gerne wissen, was es mit diesem sechsten Sinn auf sich hat, dass er so geheim bleiben muss!“, brauste sie auf.

Kurz erschrocken, zuckte Deor zurück, dann sah er sie besorgt an. „Du fühlst dich noch immer von Menschen bedroht.“ Es war keine Frage und einen Moment lang schämte Neolyt sich dafür.

„Ich bin ein Wolf und der Mensch war mein ganzes Leben lang ein Feind.“ Ihre Verteidigung fiel nicht annähernd so selbstsicher aus, wie sie gehofft hatte.

„Vergiss nicht, dass du selbst auch ein Mensch bist“, erinnerte Deor sie und wandte sich zum Gehen.

Neolyt blieb allein zurück und betrachtete unsicher und sorgenvoll ihre menschlichen Hände.

Natürlich hatte Deor längst bemerkte, dass Neolyt etwas beschäftigte. Oft hatte sie während der Übungen die Konzentration verloren und zerstreut gewirkt, zweimal sogar hatte sie vergessen, einen Aufsatz für die Zauberwesen- und Pflanzenkunde zu schreiben. Doch immer, wenn er sie gefragt hatte, ob etwas nicht stimme, hatte sie geschwiegen und den Kopf geschüttelt.

Etwa drei Wochen später hatten die Schüler Ausgangstag. Natürlich war ihnen eingeschärft worden, auf keinen Fall Magie anzuwenden, doch da die Zeit kaum reichte, in das nächste Dorf zu gelangen, und die meisten Schüler daher im Wald blieben, hielt sich ohnehin niemand daran.

Gelangweilt schlenderte Yewan unter den kahlen Baumkronen dahin. Er hätte bleiben und seinen Streich weiterplanen sollen, anstatt sich hier draußen in der klirrenden Kälte den Hintern abzufrieren. Nicht mehr lange, dann würde es schneien. Trotzdem tat ihm ein bisschen ungefiltert frische Luft sicherlich gut. Noch maximal eine Stunde, dann würde er sich auf den Rückweg machen. Einer Eingebung folgend schlug er die Richtung zum See ein. Er mochte den Platz, es war ruhig und weit und man hatte endlich seinen Frieden. So gern er sich auch unter das Volk mischte und dort seine Späße trieb, manchmal brauchte er Zeit für sich. Als er zwischen den Bäumen hervor auf den Kiesstrand trat, sah er einen Wolf am Ufer stehen. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, wer das war.

„Neolyt?“, fragte er leise und machte einen Schritt auf sie zu. Die Steine knirschten unglaublich laut unter seinen Füßen und das Geräusch hallte über den See.

Erschrocken fuhr Neolyt herum und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Es war das erste Mal, dass Yewan sah, wie sie sich verwandelte, und er war schwer beeindruckt, wie schnell und scheinbar mühelos ihr das gelang.

Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie offenbar geweint hatte, glitzernde Tränenspuren zogen sich über ihre Wangen. Ihr war wohl sein Blick aufgefallen, denn sie drehte sich kurz weg und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und machte einen weiteren unsicheren Schritt auf sie zu.

Neolyt sah ihn an und wandte sich dann ab. Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Was … ist denn los?“, fragte er weiter und kam sich dabei schrecklich unbeholfen vor.

Sie antwortete ihm nicht, sondern schaute auf den See hinaus. Er schimmerte silbern im Spiegelbild des wolkenverhangenen Himmels.

„Es regnet gleich“, flüsterte sie schließlich mit brüchiger Stimme.

„Neolyt, du solltest deine Sorgen nicht mit dir allein herumtragen. Das wird dich kaputt machen. Wenn du sie mir nicht erzählen willst, dann vielleicht Elly oder Deor.“

„Ich hab keine Sorgen“, fauchte sie und sah ihn wieder an.

„Deor hat erzählt, dass du oft die Konzentration verlierst und Hausaufgaben vergisst. Das passt nicht zu dir. Irgendwas stimmt nicht.“ Er sah sie eindringlich an und erkannte die plötzliche Angst in ihren Augen.

„Ich weiß nicht, wer ich bin!“, schrie sie ihn an und Tränen rollten ihr über die Wangen, während es mit einem Mal anfing, wie aus Kübeln zu regnen. Mit einer raschen Handbewegung errichtete Yewan einen Schild um sie, doch sie waren bereits bis auf die Haut durchweicht. Neolyt hielt die Arme krampfhaft vor dem Bauch verschränkt und blickte auf einen Punkt knapp über seiner linken Schulter.

„Was meinst du damit?“, fragte er vorsichtig.

„Ich bin Wolf und Mensch! Aber der Mensch ist der Feind des Wolfes! Wie kann ich zwei Gegensätze zugleich sein?“

Unbeholfen trat er noch einen Schritt näher.

„Das musst du nicht. Nicht alle Menschen sind gleich. Du bist ein guter Mensch und du bist mehr als nur eine Freundin der Wölfe. Lass dir von niemandem einreden, dich für eine deiner Seiten entscheiden zu müssen, sei einfach du selbst.“

Sie sah ihn schmerzhaft entgeistert an und im nächsten Moment umarmte sie ihn schluchzend. Unsicher legte er die Arme um sie und klopfte ihr vorsichtig auf den Rücken. Er hatte das Gefühl, etwas Starkes und doch sehr Zerbrechliches zu halten.

„Danke“, sagte sie schließlich und zog geräuschvoll die Nase hoch. Der Regen prasselte auf den Schild und den See, das Geräusch hatte etwas Beruhigendes. „Woher willst du wissen, dass ich ein guter Mensch bin? Ich weiß es selbst nicht einmal. Ich bin doch so selten Mensch.“

„Im Aussehen vielleicht, aber im Wesen bist du immer beides zugleich.“

„Kann man das mit Magie herausfinden?“

„Ich glaube schon, aber ich würde es mir nie erlauben, die Gedanken von jemandem zu lesen, der mir das nicht gestattet hat.“

„Und woher weißt du das dann?“, fragte sie drängender.

„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Aber wie sollte es anders sein? Du hast erzählt, du hättest deinen Bruder gerettet, obwohl es gegen die Gesetze des Rudels war. Und das ist etwas Gutes.“

„Ja“, sagte sie nur. Dann fuhr ein Lächeln über ihr Gesicht. „Danke.“

„Keine Ursache“, erklärte er und grinste.

„Was bist du für ein Mensch?“, fragte Neolyt.

„Das werde ich dir sicher nicht so leicht verraten“, antwortete er lachend.

„Aber du weißt, wer ich bin“, widersprach sie und zog die Stirn kraus.

„Das habe ich aber auch selbst herausgefunden“, meinte er, immer noch amüsiert grinsend.

„Aber ich kann das nicht! Ich habe vorher kaum Menschen getroffen und ich weiß nicht, wie man in euren, ich meine, in unseren Gesichtern lesen kann.“

„Das lernst du schon“, versicherte er ihr. „Lass uns ein Stück gehen, da hinten bei der Weide kann man sich gut hinsetzen.“

„In Ordnung.“ Sie sah ihn unsicher an. „Darf ich ein Wolf sein?“

„Du kannst deine Wolfsgestalt annehmen, wann immer du willst.“

Sie nickte dankbar, dann floss ihre menschliche Gestalt zurück in die einer Wölfin. Lächelnd sah Yewan ihr nach, wie sie aus dem Schild hinaus in den Regen lief und über die nassen Steine sprang. Etwas in ihm regte sich, wenn er sie so sah. Aber wusste nicht genau, was.

Sie braucht ihn, doch darf ihn nicht brauchen.

TIONCALAI

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