Читать книгу Der Fall Maria Okeke - Eva Ashinze - Страница 6
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«Moira, endlich.» Asim küsste mich auf die Wange und führte mich durch das «Alibaba» zu einem Tisch in der hinteren Ecke. «Das ist Henry.» Er deutet auf einen dunkelhäutigen Mann, der mit gesenktem Kopf am Tisch sass. «Henry Okeke.»
«Henry, das ist Moira, Moira van der Meer, die Anwältin.»
Henry hob den Kopf und nickte mir zu. Er war gutaussehend, oder er wäre gutaussehend gewesen, wenn er nicht so verhärmt gewirkt hätte. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und die Kleidung hing lose an seinem Körper. Offenbar hatte er in letzter Zeit stark abgenommen. Ich setzte mich zu ihm. Er roch nach dem Staub einer ungelüfteten Wohnung, nach Zigarettenrauch und nach etwas anderem, Bitterem: Er roch wie Traurigkeit.
Asim stellte eine Tasse Kaffee vor mich hin. Wein bot er mir heute nicht an. Das hiess, es war wirklich ernst. «Erzähl es Moira», sagte er zu Henry gewandt.
«Es ist … Der Staatsanwalt …», setzte Henry mehrmals an, schüttelte dann den Kopf und deutete mit dem Kinn auf Asim. «Erzähl du. Ich kann nicht.» Sein Deutsch war gut, zwar nicht so gut wie das von Asim, aber gut. Sein Akzent verriet jedoch – neben seinem Aussehen – seine afrikanische Herkunft.
«Es geht um Henrys Tochter. Maria.» Asim beobachtete mich. «Maria ist tot.»
Ich zuckte zusammen. Maria ist tot. Dann beruhigte ich mich. Marias gibt es zu Tausenden. Das hier war eine andere Maria. Nicht meine. Ein Zufall. Kein Zeichen.
«Tot? Wurde sie ermordet?»
Asim schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Achseln, was mich unter anderen Umständen sehr erheitert hätte. Asim gab mir einen Zeitungsauschnitt. «Am besten liest du das.»
Frau von mehreren Autos überrollt
Auf der Autobahn A1 bei Winterthur-Wülflingen ist am späten Freitagabend des 2. März eine Frau von mehreren Fahrzeugen überrollt worden. Sie wurde zunächst von einem Personenwagen überfahren. Nach der Kollision geriet das Auto ins Schleudern, überschlug sich und kam auf dem Dach zu liegen. Der Lenker wurde dabei nicht verletzt. Anschliessend wurde die tödlich verletzte Frau von weiteren Fahrzeugen überrollt. Die Autobahn musste für mehrere Stunden gesperrt werden. Die Staatsanwaltschaft geht aufgrund der Untersuchungen von einem Suizid aus. Die verstorbene Frau sprang von der Brücke vor der Ausfahrt Winterthur-Wülflingen. Noch ungesichert ist die Identität der Frau. Ein Gentest, durchgeführt vom Rechtsmedizinischen Institut Zürich, soll im Laufe der Woche Klarheit bringen. «Dieses Vorgehen ist bei Verkehrsunfällen dieser Art üblich», so der Sprecher der Kantonspolizei. «Denn das Opfer ist so stark entstellt, dass eine Identifikation nicht möglich ist.»
Ich war etwas ratlos. Der Artikel war einige Wochen alt. «Ich verstehe nicht», sagte ich. «Geht es in diesem Artikel um Maria? Sie hat sich umgebracht? Weshalb …»
Henry unterbrach mich. «Sie hat sich nicht umgebracht. Das ist eine Lüge! Eine Lüge! Der Staatsanwalt behauptet das. Er behauptet, sie habe sich prostituiert. Eine Nutte sei sie gewesen, und dann habe sie sich umgebracht, aus Scham und weil sie deswegen depressiv war oder was weiss ich. Aber das stimmt nicht. Das ist nicht wahr.» Seine Stimme brach. Er bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen. Aus seiner Kehle drang ein dumpfer Krächzer, der mich erschauern liess. Asim sah mich an und deutete mit dem Kopf auf die Eingangstür des «Alibaba». Ich nickte und stand auf.
«Wir lassen dich einen Augenblick allein.» Asim legte Henry die Hand auf die Schulter. «Nachher besprechen wir alles in Ruhe.»
«Maria war sein Ein und Alles.» Asim steckte sich eine Zigarette in den Mund. «Er ist unter Abacha aus Nigeria geflohen, zusammen mit seiner Frau, die damals schwanger war.» Nigerianer. Das hatte ich bereits vermutet. Henrys Aussehen, sein Akzent, sein Name. Das alles kam mir bekannt vor. «Kurz darauf ist seine Frau gestorben», fuhr Asim fort. «Seither hat er Maria alleine grossgezogen.» Er stiess Rauch aus und hustete gleichzeitig. «Er war Journalist, weisst du. Deswegen musste er gehen. Flucht oder Folter. Das war die Wahl, wenn du eine andere Meinung vertreten hast als die Regierung. Jetzt arbeitet er als Arbeiter in einer Firma für Medizinaltechnik. Künstliche Gelenke herstellen und so. Er hat zig Weiterbildungen besucht.»
«Schön und gut, dass du mir seine Lebensgeschichte erzählst», sagte ich. «Aber was hat es mit Marias Tod auf sich? Und weshalb bin ich hier? Bei Selbstmord gibt es für einen Anwalt in der Regel nichts mehr abzukassieren.»
«Du bist grässlich, weisst du das? Manchmal bist du einfach nur grässlich.» Asim starrte mich an. Ich weiss es. Ich bin grässlich. Ich kultiviere das Grässlichsein, so oft es geht.
Asim zündete sich an der Kippe gleich eine neue Zigarette an, und ich tat es ihm gleich. Ich schaute einen Moment in den Himmel. Sterne funkelten, es war kalt und klar, eine Seltenheit im April.
«Maria ist eines Tages verschwunden», nahm Asim den Faden wieder auf.
«Wie alt ist Maria? War Maria?» unterbrach ich ihn.
«Achtzehn, neunzehn. Maria war verschwunden. Henry meldete sie vermisst. Eine junge Frau wurde auf der Autobahn überfahren, nachdem sie sich von einer Brücke gestürzt hatte. Sie war zwar bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, aber schwarz, also zählten die Bullen eins und eins zusammen und tauchten bei Henry auf. Um sicher zu gehen, wurde ein Gentest gemacht. Die tote Frau ist Maria.» Asim drückte seine Zigarette an der Hauswand aus und steckte den Stummel in die Hosentasche. Ich nahm einen letzten Zug von meiner Zigarette und schnippte sie auf den Boden vor der Eingangstür. Asims missbilligenden Blick ignorierte ich.
«Heute hat Henry ein Schreiben der Staatsanwaltschaft erhalten», nahm Asim den Faden wieder auf. «Die Einstellung des Verfahrens wird angekündigt, da es sich eindeutig um Suizid handle.»
«Das ist Standard, dass ein solches Schreiben kurz vor der Einstellung verschickt wird.» Ich zuckte die Achseln. «Aber wo komme ich nun ins Spiel? Will Henry Ansprüche geltend machen gegen die Autofahrer? Das dürfte bei Suizid schwierig werden.»
«Nein.» Asim schüttelte den Kopf. «Henry glaubt nicht an einen Selbstmord. Er glaubt nicht, dass Maria von der Brücke gesprungen ist. Er glaubt, sie wurde gestossen.»
Das musste ich zuerst verdauen.
«Ich weiss, was du denkst», sagte Asim. «Aber hör dir wenigstens an, was Henry zu sagen hat. Hör es dir an.» Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. Und deswegen war ich um Mitternacht durch die halbe Stadt gerast? Wegen des Hirngespinsts eines trauernden Vaters. Wohlweislich sprach ich das nicht laut aus.
«Selbst wenn ich Henry Glauben schenke», sagte ich stattdessen, «und dann? Was stellst du dir dann vor? Was soll ich machen? Nachforschungen anstellen? Das ist nichts für mich. Ich bin keine Privatdetektivin, keine Miss Marple. Ich bin Anwältin.»
«Und? Stellen Anwälte etwa keine Nachforschungen an? Du kannst mit dem Staatsanwalt reden. Dir die Akten ansehen. Solche Sachen.» Asim machte eine Pause. «Bitte.»
«Ich werde nichts finden.» Mein Widerstand bröckelte bereits.
«Egal. Mach es trotzdem. Mach es für mich.» Er sah mir in die Augen. Asim war schlau wie ein Fuchs. Und hinterhältig. Und berechnend. Er war mein Freund. Ich schwieg eine Weile.
«Das wird dich etwas kosten», sagte ich schliesslich.
«Ich weiss.»
Ich seufzte müde. «Lass uns reingehen. Es ist spät und irgendwann möchte ich heute Nacht noch in mein Bett. Und», fügte ich an, «ich möchte alleine mit Henry sprechen. Dich will ich nicht dabei haben.» Asim nickte. Er hatte mich da, wo er mich haben wollte.
«Woher kennt ihr euch eigentlich?», fragte ich Asim, der mir die Tür zum «Alibaba» aufhielt. Ich hatte schon viele Freunde von Asim kennengelernt. Henry aber hatte ich weder jemals zuvor gesehen, noch Asim von ihm sprechen hören. Aber dass Asim und Henry sich gut kannten, war offensichtlich. «Und weshalb hast du mir noch nie etwas von Henry erzählt?»
«Antwort auf die erste Frage: Von früher, viel früher. Antwort auf die zweite Frage: Weshalb sollte ich? Kenne ich alle deine Freunde?»
Ich war genauso schlau wie zuvor.