Читать книгу Der Fall Maria Okeke - Eva Ashinze - Страница 7

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Ich setzte mich Henry gegenüber. Asim verschwand in der Küche. Einer Frau alleine erzählt mancher Mann mehr und Intimeres als in Gegenwart seinesgleichen. Weshalb das so ist, weiss ich nicht. Ich mag Frauen nicht. Ich mag auch keine Männer. Ich mag niemanden, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen.

«Erzähl mir von deiner Tochter», sagte ich zu Henry. «Erzähl mir von Maria.»

«Was soll ich dir erzählen?», fragte er einigermassen hilflos.

«Was dir durch den Kopf geht. Wie sie war, wie sie aussah, was sie so gemacht hat, ihre Hobbies, wer ihre Freunde waren. Du weisst schon. Erzähl mir von ihrem Leben.»

Henry sass eine Weile in sich versunken da. «Maria», begann er, «Maria war etwas ganz Besonderes.»

Auf diesen Satz hatte ich gewartet. Ich wusste, er würde kommen. Das glauben nämlich alle Mütter und Väter. Ihre Kinder sind immer etwas Besonderes. Dabei gibt es bei den meisten keine grossen Abweichungen vom Durchschnitt. Und wenn, dann höchstens zum Schlechteren. Diese Gedanken behielt ich für mich. Sollte Henry seinen Glauben bewahren. Er tat mir leid.

«Sie sah aus wie ihre Mutter», fuhr Henry fort. «Schön. Sie war schön. Gross und schlank und elegant. Und klug war sie, oh ja, sehr klug. Sie war gerade mitten in den Vorbereitungen zur Matura.» Er zog seine Brieftasche hervor und kramte darin herum. Dann reichte er mir ein Foto. «Das ist Maria.»

Ich betrachtete das Foto. Maria posierte vor einer Hauswand, leicht angelehnt, den Kopf kokett zur Seite geneigt mit einem geheimnisvollen Lächeln auf dem Gesicht. Maria war tatsächlich sehr schön. Sie sah aus wie Sade, die Soulsängerin. Nur schwärzer.

«Sie ist wunderschön», sagte ich zu Henry. «Und sie hat das Gymnasium besucht? Welches? Hatte sie Freunde dort?»

«Rychenberg, da geht …», er unterbrach sich. «Da ging sie zur Schule. Sie hatte sich für Sprachen entschieden. Englisch. Spanisch. Sie war gut in der Schule. Maria wollte Journalistin werden.» Er lachte bitter. «Journalistin. Ich habe ihr immer gesagt, Kleine, mach es nicht wie dein alter Vater. Du musst keine Journalistin werden. Deinem Vater hat es kein Glück gebracht. Werde Ärztin. Da verdienst du mehr. Oder Anwältin.» Er machte eine Handbewegung zu mir. «Wie du. Aber Maria wollte nicht. Sie wollte partout Journalistin werden. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt.» Er seufzte. «Sie wollte die Welt bereisen und darüber schreiben. Und über starke Frauen wollte sie schreiben, das war ihr Thema. Wo sie doch selbst so stark war.» Henry biss sich auf die Lippen. «Aber Maria war auch ein Mädchen», fuhr er fort. «Sie liebte schöne Dinge. Glitzerkram. Hübschen Schmuck, Kleider. Ein richtiges Mädchen eben. Sport, Natur und so interessierten sie nicht.»

«Freunde? Bekannte?», hakte ich nach.

«Ja, natürlich hatte sie Freunde. Viele Freunde. Sie war sehr beliebt, weisst du.»

«Engere Freunde? Eine beste Freundin?»

«Ja, ja, die hatte sie auch. Sie waren oft zu viert unterwegs, Jungen und Mädchen bunt gemischt.» Er schüttelte belustigt den Kopf. «Nur Freunde. Wir sind nur Freunde, sagte Maria immer.»

«Hatte sie auch einen festen Freund?»

«Nein. Keinen festen Freund. Früher, da gab es einen. Sie haben sich vor über einem Jahr getrennt. Ein netter Junge war das. Und seither …» Henry schüttelte den Kopf. Ein wunderschönes Mädchen und kein Freund weit und breit. Das war eigenartig. Ich machte mir im Kopf eine Notiz.

«Und weshalb glaubst du nicht, dass Maria sich umgebracht hat?» Ich war müde und wollte endlich zum Kern der Sache kommen. Die weiteren Details über Maria konnte Henry mir, sollte es notwendig werden, auch später erzählen.

«Weshalb sollte sie?» Henry setzte sich gerade hin. «Weshalb sollte Maria sich umbringen? Sie war glücklich. Ich habe es dir ja gerade gesagt, sie hatte ein Ziel, Pläne, sie hatte Freunde. Sie war nicht unglücklich, nicht traurig, nicht deprimiert, nichts.»

«Vielleicht hat sie es dir nur nicht erzählt? Vielleicht wollte sie dir keinen Kummer machen?»

«Quatsch.» Henry fuhr wütend auf. «So war Maria nicht. Sie hat mir alles erzählt. Wir waren so.» Er presste zwei Finger zusammen. «Maria hatte keine Geheimnisse vor mir.»

Tja, das ist auch so etwas, was Eltern für gewöhnlich glauben. Sie vertrauen ihren Kindern blindlings. Aber alle Kinder haben Geheimnisse. Besonders die Achtzehnjährigen.

«Und weshalb sagt der Staatsanwalt, Maria habe sich prostituiert?»

Henry sprang auf und tigerte wütend auf und ab. «Das stimmt nicht! Maria hätte nie und nimmer als Prostituierte gearbeitet. Nie! Sie war nicht so. Ausserdem – wann hätte sie das machen sollen? Und weshalb? Wir haben Geld. Genug Geld. Und sie war immer den ganzen Tag in der Schule, und danach hat sie gelernt oder Freunde getroffen. Sie hatte keine Zeit und auch keinen Grund, so etwas zu machen.» Er schüttelte heftig den Kopf. «Das ist vollkommen am Haar herbeigerissen.»

«An den Haaren herbeigezogen. Tja, du magst ja Recht haben. Aber wie kommt der Staatsanwalt zu dieser Schlussfolgerung? Welcher Staatsanwalt ist überhaupt zuständig für den Fall?»

Henry zuckte mit den Achseln. «Eckert heisst er.» Eckert. Eckert Ulrich. Mit dem hatte ich mich auch schon herumgeschlagen, der war gar nicht mein Typ. Eckert liebte es, in Einvernahmen die Einschüchterungstaktik anzuwenden, er haute auf den Tisch und brüllte herum. Und bei den Anträgen zum Strafmass schöpfte er immer aus den Vollen.

«Wegen ihrer Kleidung hat der Staatsanwalt gesagt», fuhr Henry fort. »Sie hatte wohl nicht viel an. Ich weiss es nicht genau. Und da war irgendein Zettel, den sie gefunden hatten. Ich habe das nicht richtig verstanden. Ich war zu aufgewühlt, weisst du!» Er sah mich an.

Ich nickte beschwichtigend. «Ist nicht so wichtig. Das kann ich beim Staatsanwalt in Erfahrung bringen. Aber setz dich wieder, bitte. Ich kann mich besser mit dir unterhalten, wenn du sitzt.»

«Entschuldige. Das ist alles sehr schwer.»

Ich schwieg einen Moment. «Du glaubst also nicht, dass Maria sich umgebracht hat. Unfall?», schlug ich vor.

«Was für ein Unfall?», Er sah mich ungläubig an. «Wie kann man zu Fuss auf einer Brücke verunfallen und über das Geländer stürzen?»

«Vielleicht war Alkohol im Spiel? Eine Mutprobe?»

«Maria trinkt nicht», antwortete Henry im Brustton der Überzeugung. «Und Mutproben – für so etwas ist sie zu intelligent.»

Natürlich. Wie hatte ich nur auf den Gedanken kommen können. Trinken, Rauchen, Drogen, waghalsige dummgefährliche Mutproben, das machen immer nur die Kinder der anderen Eltern. Wobei mir die Unfalltheorie doch auch ziemlich abwegig schien. Vor allem angesichts der Tatsache, dass der Staatsanwalt diese Möglichkeit in keinster Weise in Betracht gezogen hatte.

«Also kein Selbstmord und kein Unfall. Und deswegen nimmst du an, es war Mord.»

«Was soll es denn sonst gewesen sein?»

Was sollte es sonst gewesen sein? Ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass die Welt nach dem Tod eines geliebten Menschen immer düster aussieht. Ich sagte nicht, dass man sich Erklärungen zurechtlegt, die sich aber fast immer als irrig erweisen. Maria hatte sich von der Brücke gestürzt. Dagegen gab es bislang keine stichhaltigen Einwände. Dafür, dass sie das getan hatte, sprach jedoch sehr viel. Die Sachlage schien eindeutig. Und wer wusste, was für dunkle Seiten hinter Marias hübscher Fassade verborgen waren?

«Nur noch eine letzte Frage, Henry», sagte ich stattdessen. «Was passierte von dem Moment an, als du Maria das letzte Mal gesehen hast, bis zur Nachricht ihres Suizids? Angeblichen Suizids», ergänzte ich schnell.

Henry erzählte mir, er habe Maria den ganzen Tag nicht gesehen. Nur morgens, beim Frühstück. Dann ging Maria zur Schule, und Henry legte sich schlafen. Am Nachmittag kam eine SMS von Maria, in der sie ihm mitteilte, sie komme erst spät nach Hause. Sie wolle mit einer Freundin lernen und bleibe da auch zum Essen. «Sie hat sich immer abgemeldet, weisst du», sagte Henry mit einem traurigen Lächeln. «Sie war sehr pflichtbewusst, auch wenn sie eigentlich erwachsen war. Aber nie hat sie mich im Ungewissen gelassen, wo sie ist oder wann sie nach Hause kommt.» Henry ging zur Arbeit. Als er frühmorgens zurück in die Wohnung kam, war Maria nicht da. Das Bett unberührt. «Ich habe mir Sorgen gemacht. Grosse Sorgen. Ich habe die Freundin angerufen, Helene. Die hat mir gesagt, Maria sei um 22 Uhr nach Hause gegangen. Ich hatte Panik. Ich hatte solche Angst um Maria. Meine Frau habe ich bereits verloren. Ich betete, lieber Gott, lass bitte nicht zu, dass Maria etwas zustösst. Lieber Gott, bring Maria heil zurück zu mir. Aber Gott hat mich nicht erhört.» Henry schwieg einen Moment. «Ich ging zur Polizei. Man belächelte mich. ‹Eine Neunzehnjährige ist seit zehn Stunden verschwunden, was Sie nicht sagen.› Als sie dann mit der Nachricht zu mir kamen, eine dunkelhäutige junge Frau sei tot aufgefunden worden, da lächelten sie nicht mehr.» Henry lachte grimmig. «Ich identifizierte ihre Tasche. Und ihre Halskette, eine kleine goldene Sonne. Trotzdem haben sie noch diesen Gentest durchgeführt, um ganz sicherzugehen. Aber ich wusste es. Ich wusste, dass es Maria war, die überfahren worden war. Trotzdem habe ich gehofft und gehofft, bis ich dann das Testergebnis erhielt.» Er schlug die Hände vor das Gesicht. Ich fragte noch nach ein, zwei Details, dann hatte ich das Gefühl, es reiche für heute. Henry war sehr aufgewühlt.

«Übernimmst du den Fall, ja?» Er sah mich flehend an.

Ich zögerte. «Ich werde sehen, was ich tun kann. Auf jeden Fall nehme ich Kontakt mit Eckert auf und sehe mir alle Unterlagen an. Die ganzen Untersuchungsberichte und so. In Ordnung? Aber versprechen kann ich nichts.» Ich wollte nichts versprechen. Ich hatte den Fall für mich bereits abgeschlossen.

«Wer füllt die Lücke aus, die eine verstorbene Person hinterlässt? Wer wird ihre Luft atmen? Essen, was sie gegessen hätte, heiraten, wen sie geheiratet hätte? Wer wird den Beruf ausüben, der dieser Person vorbestimmt war?» Henry sprach die Worte vor sich hin. Dann sah er mir direkt in die Augen. «Du verstehst mich», sagte er leise in Pidgin English. «Du bist eine von uns.» Ich wich seinem Blick aus.

Kurze darauf verabschiedete ich mich. Mein Taxi wartete bereits vor der Tür des «Alibaba». Ein teurer Spass, der heutige Abend. In mehr als einer Hinsicht.

«Ich melde mich. Und übrigens: Mach dir keine Sorgen wegen meines Honorars.» Ich warf einen giftigen Blick in Asims Richtung. «Das übernimmt Asim.»

Der Fall Maria Okeke

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