Читать книгу Der Fall Maria Okeke - Eva Ashinze - Страница 9
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Ich machte, was eigentlich dem Moment nach dem Sex vorbehalten ist: Ich zündete mir im Bett eine Zigarette an. Normalerweise rauche ich nur am offenen Fenster, doch dieser Traum hatte mich ziemlich aufgewühlt, so dass sich eine Ausnahme rechtfertigen liess. Danach erst sah ich auf die Uhr. Es war neun. Ich hatte immerhin sechs Stunden geschlafen. Das musste für heute reichen. Ich schwang mich aus dem Bett und stellte mich unter die Dusche. Beim Abtrocknen betrachtete ich mich im Spiegel. Ich sah müde aus. Für einen Mischling war meine Haut ziemlich dunkel und mein Haar kraus. Ich würde vielleicht als sehr helle Afrikanerin durchgehen, wären nicht meine Augen. Da hatte sich meine Mutter durchgesetzt. Meine Augen waren von einem auffallenden Grün wie die einer Katze.
«Es sind deine Augen. Damit machst du die Männer verrückt», hatte einer meiner Ex gesagt. «Und der Rest, naja, der Rest ist natürlich auch nicht übel.» Dabei hatte er mir auf den Po geklopft. Ich war mir vorgekommen wie ein Stück Vieh. Kurz darauf trennte ich mich von ihm. «Der Sex mit dir ist öde», sagte ich und klopfte ihm auf den Po. «Auch wenn gewisse Teile an dir nicht übel sind.»
Im Treppenhaus begegnete ich meinem betagten aber rüstigen Nachbarn und Vermieter, Willy Morgenroth. Sein Nachname mutet poetisch an, doch der Vorname zerstört alles. Was für unromantische Eltern muss der Kerl gehabt haben! Als Vermieter ist Willy super. Der Mietzins für meine geräumige Dachwohnung an der Rychenbergstrasse ist moderat, und ich kann in meinen vier Wänden tun und lassen, was ich will. Als Nachbar ist Willy Morgenroth ebenfalls schwer in Ordnung. Obwohl er dazu neigt, sich zu viele Gedanken und Sorgen um seine Mieter zu machen. Und da ich seine einzige Mieterin bin, trifft mich sein Wohlwollen mit voller Kraft. So auch heute.
«Moira, sind Sie krank?», fragte mich Willy.
«Nein.» Ich wollte an ihm vorbei und die Treppe runter.
«Sie sehen aber so aus.» Willys prüfender Blick musterte mich.
«Danke für das Kompliment», sagte ich. Doch Willy war immun gegen Sarkasmus.
«Ich zeige lediglich meine Besorgnis. Kommen Sie wenigstens auf einen Kaffee mit rein?» Er deutete auf seine offene Wohnungstür.
«Liebend gerne.» Ich zog an ihm vorbei. «Aber ich hab’s leider eilig», rief ich ihm über die Schulter zu.
Achselzuckend starrte er mir hinterher. Er ist zum Glück nicht empfindlich.
Am liebsten gehe ich zu Fuss in mein Büro in einem alten Backsteingebäude an der Ecke Wülflingerstrasse/Schaffhauserstrasse. Wenn ich schnell unterwegs bin, schaffe ich die Strecke in gut zehn Minuten. Nachdem ich mir in der Gemeinschaftsküche einen Espresso rausgelassen hatte, setzte ich mich an den Schreibtisch, checkte meine Mails, sah die Post durch und erledigte dies und das. Irgendwann konnte ich es aber nicht länger hinausschieben, das Telefonat mit Staatsanwalt Eckert, das ich Henry und Asim versprochen hatte. Ich griff zum Hörer. Nach ein bisschen Klatsch und Tratsch mit der Telefonistin hatte ich ihn am Apparat.
«Kollegin van der Meer, lang, lang ist’s her, seit ich die Ehre hatte», sülzte er. «Was kann ich für Sie tun, werte Kollegin?» Nie in meinem Leben würde ich einen Staatsanwalt mit «Herrn Kollega» anreden. Staatsanwälte sind die natürlichen Feinde von Strafverteidigern und Anwälten.
«Ich rufe an in der Angelegenheit Okeke. Maria Okeke.»
«Okeke, Okeke», murmelte er vor sich hin. «Ach ja, ich weiss. Der Suizid. Das Verfahren wird demnächst eingestellt, Fremdeinwirkung ausgeschlossen. Aber was», fügte er hinzu, «was haben Sie bei diesem Fall verloren? Wollen Sie Geschädigtenansprüche gelten machen? Das ist so gut wie unmöglich bei Suizid, das wissen Sie.»
Ich konnte ihm sein Befremden nicht verübeln. Mir selbst war es gestern Abend ja ähnlich ergangen. «Der Vater hat mich beauftragt. Er glaubt nicht an Suizid.»
«Was glaubt er dann? Es war ein Unfall oder was?» Irgendwie erinnerte mich diese Unterhaltung ebenfalls stark an gestern Abend. «Ein Unfall kann aufgrund der Untersuchungsergebnisse so gut wie ausgeschlossen werden», fuhr Eckert fort. «Das Mädchen war sauber, keine Drogen, kein Alkohol und …»
«Nein», ich unterbrach ihn abrupt. «Mein Mandant glaubt auch nicht an einen Unfall. Er glaubt, es war Mord.»
«Mord? Sagten Sie Mord?» Eckert lachte laut. Ich schwieg demonstrativ.
Nach einer Weile riss Eckert sich zusammen. «Hören Sie, ich kann verstehen, dass der Vater nicht gerade glücklich ist über den Selbstmord seiner Tochter.»
Deswegen mochte ich Eckert nicht. Einen solchen Satz laut auszusprechen – und sei es nur gegenüber der Anwältin – zeugte von einem ausgesprochenen Mangel an Empathie.
«Aber ich war da. Ich habe das Mädchen gesehen. Ich habe die Örtlichkeit in Augenschein genommen. Ich habe mit den Autofahrern gesprochen, die, nebenbei gesagt, alle mehr oder minder traumatisiert sind von den Geschehnissen. Ich habe die Untersuchungsergebnisse studiert. Das war eindeutig Suizid.»
«Der Vater ist anderer Meinung. Er hat mich mandatiert, um entsprechende Abklärungen zu treffen. Und als Anwältin vertrete ich nun mal, wie Sie bestens wissen, die Interessen meiner Auftraggeber», sagte ich.
«Ist das wieder einmal einer Ihrer hoffnungslosen Fälle? Verdienen Sie eigentlich noch genügend Kohle neben all ihren Wohltätigkeitsmandaten, Sie Mutter Theresa unter der Anwälten?» Eckert lachte verächtlich. Ich ignorierte ihn, obwohl ich innerlich kochte.
«Geben Sie mir kurz eine Zusammenfassung, was sich in jener Nacht abgespielt hat», sagte ich.
«Eine Zusammenfassung? Sie wissen doch schon alles», erwiderte er kurzangebunden.
«Bitte», überwand ich mich zu sagen. «Ich kenne nur die Darstellung des Vaters. Ich brauche Ihre unvoreingenommene und professionelle Sicht auf die Dinge.» Nun schmeichelte ich dem Kerl auch noch! Aber es nützte offensichtlich.
«Na gut», sagte Eckert widerwillig. «Aber ich mach es kurz. Anfang März – das genaue Datum müsste ich in den Akten nachschauen – ging beim Polizeinotruf eine Meldung ein. Ein Autolenker war auf der A1 verunfallt und sein Auto hatte sich überschlagen. Die Kollegen vor Ort, zu denen ich später stiess, stellten fest, dass der Lenker sowie einige weitere Personenwagen über einen menschlichen Körper gefahren waren, der mitten auf der Autobahn gelegen hatte. Nach der Spurensicherung auf der Autobahn sowie auf der Strasse, die an dieser Stelle über die A1 führt, nach der Legalinspektion vor Ort durch den Bezirksarzt und schliesslich nach der Obduktion durch die Rechtsmedizin konnte Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden. Unter anderem fanden sich am Brückengeländer Fingerbadrücke des Opfers an eindeutigen Stellen, und ihre Handtasche hatte neben dem Geländer gelegen. Sie musste von dort oben gesprungen sein. Vielleicht war sie bereits beim Aufprall auf die A1 tot. Vielleicht war sie nur schwer verletzt und endgültig tot erst, nachdem sie von den Fahrzeugen überfahren worden war. Das kann nicht restlos geklärt werden. Es spielt auch keine Rolle. Aufjeden Fall ist es ein eindeutiger Fall von Suizid», schloss er. «Wenn auch mit sehr unangenehmen Nebenwirkungen für die betroffenen Autolenker.»
Der Bericht des Staatsanwaltes enthielt nicht viel Neues. «Und als Grund für den Suizid vermuten Sie Schuldgefühle, weil Maria sich prostituiert haben soll», sagte ich.
«Nun ja. Die Ursache für einen Suizid zu ermitteln, gehört nicht zu den Aufgaben der Staatsanwaltschaft. Aber auffällig war schon, dass das Opfer sehr spärlich und aufreizend bekleidet war. So was bekommt man sonst nur in einschlägigen Etablissements zu sehen.»
Du musst es ja wissen, dachte ich.
«Ausserdem», fuhr Eckert fort, «ausserdem wurde in ihrer Handtasche eine Karte von einer Beratungsstelle für Prostituierte gefunden. Arbeitende im Sexgewerbe heisst das heutzutage.» Er schnaubte belustigt. «Strada irgendwas heisst die Organisation.»
«La Strada.»
«La Strada, genau. Das und die Kleidung, da war der Schluss naheliegend, dass es ich um eine Prostituierte handelte. Und Sie wissen ja, Nigerianerin und Juju-Rituale und so.» Er schwieg bedeutungsvoll. «Sie wissen doch, was Juju ist.»
Ich seufzte gelangweilt. Ja, ich weiss, was Juju ist. Als Strafverteidigerin komme ich mit den seltsamsten Dingen in Kontakt. Juju ist eines davon. Ich hatte mich vor einigen Jahren in einem meiner Fälle vor Gericht als Strafbefreiungsgrund für meine Mandantin auf ein Juju-Ritual berufen. Und natürlich nicht Recht bekommen.
Im traditionellen Juju-Glauben, der vor allem in Nigeria praktiziert wird, existieren gute und böse Geister. Wird einem Gott ein Schwur geleistet und gebrochen, strafen die bösen Geister, die dead-dead, die Menschen und treiben sie in Tod und Wahnsinn. Mit diesen als schwarze Magie eingesetzten Juju-Ritualen werden Frauen kontrolliert, die nach Europa geschleust werden, um sich zu prostituieren. Die Frauen verpflichten sich vor der Abreise in einem von einem Juju-Priester durchgeführten Ritual, alle Kosten zurückzuzahlen und alles zu tun, was ihnen aufgetragen wird. Es wird eine starke psychische Abhängigkeit hergestellt.
Der Richter in meinem Fall damals war noch nicht so weit gewesen. Doch heutzutage sind die Macht des Juju und die psychische Gewalt, die dadurch auf die Frauen ausgeübt wird, auch in der Schweiz bekannt.
«Maria ist hier zur Welt gekommen», sagte ich zu Eckert. «Sie hat den Schweizer Pass. Nigeria hat sie kein einziges Mal besucht.» Das behauptete ich einfach mal. Tat aber wohl auch nichts zur Sache. «Wo bitte sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen ihrer angeblichen Prostitution und Juju? Hat allenfalls ein Voodoo-Priester aus Nigeria an der Langstrasse eine Zweigniederlassung eröffnet?»
«Hören Sie, ich habe Ihnen aus reinem Goodwill die Auskünfte gegeben, die Sie haben wollten. Der Vater hat keine Parteistellung, das wissen Sie so gut wie ich, also auch keine Rechte im Verfahren. Wär’s das also gewesen?», fragte Eckert gereizt.
«Nur noch eines: Ich brauche die vollständigen Akten», sagte ich. «Das Recht auf Akteinsicht hat er nämlich, der Vater, auch ohne Parteistellung.»
«Tja, dafür brauche ich zuerst eine Vollmacht von ihm. Danach erhalten Sie die Akten.»
«Können Sie keine Ausnahme machen? Ich könnte die Akten jetzt gleich abholen, die Vollmacht reiche ich nach.»
«Kein Ausnahme. Erst die Vollmacht. War’s das?», fragte er ungeduldig.
Ich hatte bekommen, was ich hatte bekommen wollen. Mit einer Hand hatte ich bereits begonnen, eine Mail an einen säumigen Mandanten zu schreiben. Dabei stiess ich meinen Kaffeebecher um und der Rest des Espressos tropfte auf meine beige Leinenhose. «Scheisse!», rief ich.
«Wie bitte?»
«Verdammt, habe ich das laut gesagt?», flötete ich in den Hörer. «Entschuldigung!! Die Vollmacht lasse ich Ihnen zukommen.» Ich legte auf. Immerhin hatte ich nun doch noch das letzte Wort gehabt.