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Teil 1: 2010 Shornee Smith

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Regionalmeisterschaften im Kunstturnen, Glasgow, sieben Jahre zuvor:

Pete Harrison stand mit einem siegessicheren Lächeln an der Seite seines elfjährigen Kronjuwels. Shornee Smith hüpfte neben ihm auf den Zehenspitzen auf und ab, um sich etwas aufzulockern. Aus dem Augenwinkel heraus betrachtet war alles wie immer, doch als er sich ihr zuwandte, bemerkte er die Anspannung in ihrem Gesicht. Ihre gesamten Bewegungen schienen steif, wie wenn durch ihre Adern kein Blut, sondern zähflüssiger Brei gepumpt würde und sich in ihren Gelenken staute. Pete runzelte besorgt die Stirn.

„Alles in Ordnung?“

Ihr Nicken wirkte gezwungen.

„Du schaffst das schon, Shornee.“

Sie nickte wieder. Schweiß tropfte von ihrem aschfahlen Gesicht. Pete zögerte noch einen Augenblick, bevor er ihre krampfhaften Bewegungen unterbrach und sie sanft an den Schultern packte.

„Bist du krank?“ Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Der Schweiß war kalt.

„Ich bin nur nervös“, flüsterte sie.

Die Zuschauer brachen in donnernden Applaus aus, als einer der männlichen Teilnehmer einen grandiosen Abgang von den Ringen darbot und auf der dicken Elefantenmatte zum Stehen kam, ohne zu übertreten. Er streckte die Arme zum Abschluss kraftvoll in die Luft, drehte sich zur Jury um und verabschiedete sich höflich. Diesen Teil seiner Kür hatte er mit Bravour hinter sich gebracht.

Pete nickte anerkennend, bevor er sich wieder seinem Schützling zuwandte. „Denk nicht an die Jury oder die Zuschauer. Stell dir einfach vor, du wärst im Training. Ganz locker.“

Sie nickte wieder, ohne ein Wort zu sagen.

Ihr Trainer ließ den Blick durch die Halle schweifen. Shornee hatte im Training durch Talent und Leidenschaft eine Perfektion erreicht, die sie in wenigen Jahren bis in die Weltmeisterschaften tragen könnte. Aufmerksam beobachtete er die Bewegungen ihrer Konkurrentin, die gerade ihre Kür am Boden vorführte.

„Du musst nicht nervös sein, Kleines“, murmelte er mehr zu sich selbst, ohne seinen Blick von dem anderen Mädchen abzuwenden. „Ich habe bisher noch keine gesehen, die dir irgendwie gefährlich werden könnte.“

Das Mädchen nahm über die Diagonale der Tamplingbahn Anlauf. Radwende, Flick-Flack, gestreckter Salto rückwärts, Absprung vorwärts in die Flugrolle und … genau an dieser Stelle geriet sie etwas ins Schleudern, zog die gestreckten Beinen viel zu früh an, kam auf die Füße und stolperte durch ihren eigenen Schwung zwei Schritte nach vorn. Die Bodenkür war beendet, und man konnte ihr den Ärger über den Patzer vom Gesicht ablesen. Die Zuschauer ehrten sie dennoch mit tosendem Applaus. Sie waren leichter zufrieden zu stellen als die Jury, der selbst der kleinste Übertritt nicht entging.

„Nächste Teilnehmerin am Boden: Shornee Smith!“, ertönte die Durchsage über Lautsprecher.

Pete drehte sich zu ihr um.

„Zeig’s ihnen!“, er nahm lächelnd ihre Hände und schüttelte sanft die Armmuskulatur durch. „Wie im Training, Shornee. Heute wird sich für dich die erste Tür zu einer Weltkarriere öffnen. Turn sie alle in Grund und Boden.“

Sie nickte stumm.

„Los jetzt“, forderte Pete sie auf und trat beiseite.

Shornee ging mit wackligen Beinen zur Bodenmatte und nahm in der Ecke Aufstellung. Die Männer und Frauen der Jury nickten ihr lächelnd zu und warteten. Das Mädchen stand da. Seine Augen flackerten.

„Grüßen, Shornee“, flüsterte Pete vom Rand und spielte nervös mit der Kordel seiner Trainingsjacke. „Grüß endlich!“

Shornee rührte sich nicht. Wie erstarrt stand sie mit weit aufgerissenen Augen da, ohne zu blinzeln.

Sie war nicht nur nervös. Shornee spürte, wie eisige Kälte durch ihre schweißnassen Hände kroch und etwas von ihr Besitz ergriff, was weit über Lampenfieber oder Versagensangst hinausging. Wie von einem unsichtbaren Vorhang gedämpft drangen die Stimmen der Zuschauer, Turner und Trainer zu ihr durch. Auf einmal wurden sie alle von einer weiteren übertönt. Sie kam aus ihrem tiefsten Inneren und vermittelte dem jungen Mädchen nichts, was auch nur im Entferntesten mit einer Ahnung gleichzusetzen wäre. … Da vorne ist sie! … Ich knall die Schlampe ab! … Es traf sie wie ein eisiger Dorn mitten ins Herz, als sie den Hass hunderter von Menschen auf sich spürte.

„Shornee“, meldete sich ein Mann aus der Jury über das Mikrofon. „Du darfst anfangen, wenn du soweit bist.“

Das Mädchen regte sich nicht. … Vaaaater!, hörte sie sich selbst schreien.

„Shornee, wir haben leider nicht den ganzen Tag Zeit, um auf dich zu warten.“

Ihre Lippen fingen an zu vibrieren.

Pete hielt es nicht länger aus. Er betrat den Parcours, eilte zu ihr und schüttelte sie leicht an den Schultern. „Shornee!“

Sie wandte ruckartig den Kopf, als wäre sie aus einer Art Trance erwacht. Ihre Augen waren noch immer weit aufgerissen.

„Wenn du nicht anfängst, disqualifizieren sie dich.“

Tränen strömten mit einem Mal über ihr Gesicht. „Ich kann nicht“, wimmerte sie, löste sich aus seinem Griff und rannte hinaus.

„Wenigstens hat Miss Smith uns mit einem hervorragenden Spurt beehrt“, hörte man den Juror mit amüsierter Stimme. „Nun gut, kommen wir zur nächsten Teilnehmerin …“

Shornee saß in der Umkleidekabine und weinte, zitterte unter dem niederschmetternden Gefühl von Scham und Angst. Irgendwo, tief in ihrem Innern hörte sie unzählige Rufe, die sie verhöhnten. Sah Augen, die sie mit Ekel und Abscheu betrachteten.

Pete klopfte kurz an und betrat die Mädchenumkleide.

„Shornee?“

Das Mädchen gab ein leises gurgelndes Geräusch von sich, als sie unter Tränen nach Luft schnappte.

Pete ging vor ihr in die Hocke und betrachtete ihr Gesicht.

„Weißt du, was du da gerade getan hast?“

Sie antwortete nicht. Die Stimmen in ihrem Kopf waren noch nicht verstummt.

„Shornee! Weißt du, was du da gerade getan hast?!“

Hinter ihm öffnete sich erneut die Tür, als er nach den Schultern des Mädchens griff. Shornee sah verzerrte Gesichter und Hände, die auf sie zukamen. Mit einem entsetzten Kreischen, wich sie ruckartig vor den Händen zurück und zog die Beine vor ihre Brust.

„Weg, von meiner Tochter“, zischte hinter ihm die Stimme ihrer Mutter.

„Shornee ist …“, Pete wusste in diesem Augenblick nicht, ob er sich über die Anwesenheit von Ann Smith freuen sollte. Shornees Mutter schien jedenfalls nicht sehr erbaut darüber, ihn hier anzutreffen.

„Gehen Sie weg!!!“, brüllte sie ihn an.

Pete drehte sich zu ihr um, und im gleichen Augenblick brannte seine Wange von einer klatschenden Ohrfeige.

„Mistkerl“, flüsterte sie.

Endlich zog sich die panische Kälte aus Shornee zurück. Die Stimmen verstummten, und sie blickte sich verwirrt um.

„Mum?“

Ann wandte sich um und nahm ihre Tochter sanft in den Arm. „Keine Angst, Engelchen“, murmelte sie. „Wir gehen nach Hause.“

Pete spürte, wie seine Wange vor Hitze pulsierte. Er war sicher, dass man die Fingerabdrücke mindestens zwei Tage lang sehen würde. Doch so langsam begann er zu begreifen, wie Mrs. Smith die Situation verstanden hatte.

„Hören Sie, ich wollte ihr nur ...“

„Sie brauchen gar nichts weiter zu sagen“, fuhr sie ihm ins Wort. „Ich habe genug gesehen! Wenigstens weiß ich jetzt, wo ihre ständigen Albträume herkommen.“

„Aber …“

Anns Stimme überschlug sich fast, als sie Pete die rasende Wut einer Mutter entgegen kreischte. „Raaauuuus!“

Pete nickte langsam und verließ die Umkleide. Die Frau war zu aufgebracht, um mit ihr reden zu können, und er nahm sich fest vor, sie am nächsten Tag anzurufen und das Missverständnis aufzuklären. Doch zu einer Aussprache sollte es nie kommen. Stattdessen wurde er am darauffolgenden Morgen wegen dem Verdacht auf Missbrauch Schutzbefohlener verhaftet.


*


Glasgow, 28. Juli 2010

Kent Larson hielt den Atem an und beobachtete, wie Shornee zwischen den knarrenden Holmen des Stufenbarrens hin- und herflog. Seine Augen folgten jeder einzelnen ihrer geschmeidigen Bewegungen, bis sie schließlich mit einem eleganten Salto abging und sicher auf beiden Füßen landete. Sie atmete einen kurzen Augenblick tief durch, bevor sie sich strahlend zu ihm umdrehte.

„Und?“

Er nickte langsam. „Wie viel Zeit willst du eigentlich noch verschwenden?“

Shornee blickte zu Boden.

„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, Shornee. Weißt du, was das heißt?“

Sie nickte betreten.

„Du bist in diesem Sport schon eine alte Oma.“

Der sintflutartige Regen, der seit einigen Minuten aus den niederdrückenden grauen Wolken gegen die Fenster der Turnhalle prasselte, verwandelte sich in ihrer Erinnerung in das Getöse der Zuschauer, die sich für die Leistung der Wettkampfteilnehmer begeisterten.

„Sie ….“

„Was?“ Kents Stimme klang gereizt. Er wusste genau, was sie sagen würde.

„Sie hassen mich“, murmelte Shornee.

“Ich kann diesen Blödsinn nicht mehr hören!“ Kent wandte sich mit einem verächtlichen Schnauben wieder einer zwölfjährigen Turnerin auf dem Schwebebalken zu. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich auf irgendwelche endlosen Diskussionen einzulassen.

Shornee kämpfte verkrampft gegen ihre Hemmungen an, bevor sie einen weiteren Versuch startete.

„Aber … wie war ich, Kent?“

„Weltklasse, wie immer“, brummte er unwillig, ohne sich umzudrehen und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen am Schwebebalken: Die neue große Hoffnung des Vereins.

Als sich Shornee nach dem Training auf den Heimweg machte, war ihre Laune wieder auf dem Tiefpunkt. Nicht nur, dass die dichte Wolkendecke immer noch dabei war, Ballast abzuwerfen, und sie bereits nach den ersten Metern völlig durchnässt war. Sehnsüchtig schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit, als Pete noch das Training leitete. Sicher waren auch ihm die Wettkämpfe wichtig, doch er hätte sie auch nach dem damaligen Fiasko niemals links liegen gelassen, sondern sie weiter gefördert. Noch immer machte sie sich schwere Vorwürfe, dass sie damals zu scheu gewesen war, ihn vor Gericht zu entlasten. Dass er dennoch frei gesprochen wurde, hatte jedoch nicht verhindern können, dass der Verein sich von ihm trennte.

Shornee schlurfte missmutig die Straße entlang. Eigentlich sollte sie über die Ängste einer Elfjährigen schon längst hinweg sein, und unter ein bisschen Lampenfieber hatte doch jeder zu leiden.

Als sie endlich zu Hause ankam wurde sie von dem durchdringenden Geruch nach gebratenem Speck, Zwiebeln und Knoblauch empfangen. Ihre Mutter kochte mal wieder Nudeln. Doch selbst die Aussicht auf ihren Lieblingskohlenhydratspender konnte ihre Laune diesmal nicht heben. Wütend warf sie ihre Trainingstasche in eine Ecke, streifte die Schuhe von den Füßen und verkroch sich in ihr Zimmer.

„Shornee?!“ Ann stellte die Abzugshaube aus und lauschte. Eine Tür wurde zugeknallt, und kurz darauf erbebte die kleine Drei-Zimmer-Wohnung von dröhnendem Punkrock.

Sie hatte sich schon immer gefragt, wie ein schüchternes stilles Mädchen auf diese Musik gekommen war. Seufzend streifte Ann ihre Schürze ab und klopfte an der Zimmertür ihrer Tochter.

„Engelchen?“

„Büm müscht da!“, brüllte Shornee von der anderen Seite der Tür, ohne ihr Gesicht aus dem Kopfkissen zu nehmen.

Ann trat behutsam ein, drehte die Musik etwas leiser und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.

„Das Training lief wohl nicht so gut?“. Sie strich ihrer Tochter sanft übers Haar.

„Üsch geh nüscht mehr hüm.“

Ann zog leicht die Augenbrauen hoch. „Aber du liebst doch das Turnen.“

Shornee setzte sich mit einem Ruck auf. „Aber was bringt das? Kent beachtet mich doch kaum. Wie soll ich denn besser werden, wenn mich keiner korrigiert!“

„Hast du mal mit ihm darüber geredet?“

Shornee pustete sich trotzig eine Strähne ihrer langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Bringt doch nichts. Seit er sich sicher ist, dass ich nicht auf die blöden Wettkämpfe gehen werde, bin ich doch abgeschrieben.“

Ann senkte mit einem geheimnisvollen Lächeln den Blick. „Und wenn du in einen anderen Verein gehen würdest?“ Sie flüsterte beinahe.

„In welchen denn? Die anderen sind einfach Mist. Da komm ich doch auch nicht weiter.“

„Dann vielleicht … in einer anderen Stadt?“

„Wo denn?“

„London.“

„London?“ Shornee sah ihre Mutter mit großen Augen an.

Ann nickte. „London“, sie lächelte verschmitzt. „Ich habe endlich Arbeit gefunden.“

Ihre Tochter runzelte die Stirn. „In London?“

Ann nickte erneut. „Mr. Cullen, du weißt schon, der nette ältere Herr aus dem zweiten Stock, hat mir von einem Freund erzählt, der dort eine große Buchhandlung betreibt und auf der Suche nach einer Verkäuferin ist. Also dachte ich, ich versuche es einfach mal. Heute Morgen kam die Antwort und ich habe auch schon mit Mr. Bernstein telefoniert. So eine Art Vorstellungsgespräch auf Entfernung.“

Shornees Augen wurden immer größer, obgleich sie sich nicht über den Kontakt von ihrem Nachbarn wunderte. Immerhin wirkte dieser selbst, wie ein verstaubter Bibliothekar. „Und … das hat funktioniert?“

Ann nickte. „Ich habe schon mit deinem Arzt gesprochen. Er ist auch der Meinung, dass dir ein Tapetenwechsel gut tun würde, und vielleicht könntest du dort ja deinen Schulabschluss nachholen. Aber wenn du hier nicht weg willst, versteh ich das natürlich. Dann werde ich morgen anrufen und absagen.“

Shornee senkte den Kopf und überlegte. „Mum …“

„Ich weiß, wir sind hier zuhause.“ Ann hatte Schwierigkeiten, ihre Enttäuschung zu verbergen.

„… wir haben hier doch nichts“, fuhr Shornee fort. „Aber muss ich unbedingt wieder in die Schule?“

„Irgendwann musst du dich wieder den Menschen stellen, Engelchen. Auch mit der neuen Stelle werde ich mir noch keinen Privatlehrer leisten können.“

Shornee biss sich auf die Unterlippe. „Reden wir nach dem Umzug nochmal darüber?“

Anns Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Du bist also einverstanden?“

Shornee nickte. „Gehen wir al…“ Sie wurde von dem freudigen Ansturm ihrer Mutter unterbrochen, die ihr in diesem Moment lachend um den Hals fiel. „Ich liebe dich, Engelchen.“


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