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Ein irisches Lied

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Cailbrook-Laboratorien, 2. September

„Und wie lange dauert’s“, wollte der einundzwanzigjährige Bobby Dugan wissen.

Charles Farren drehte sich mitsamt seinem ledernen Bürosesel zu dem Neuen in seiner Wachmannschaft um und zuckte mit den Schultern. „Kommt ganz darauf an“, entgegnete er gleichgültig. Er kannte solche Jungen wie Bobby noch aus seiner Zeit bei der Armee. Übereifrige, abenteuerlustige Typen, die sich schnell beweisen wollen.

Bobby wirkte ungeduldig. „Auf was?“

„Wie gut du bist“, antwortete Charles. „Und auf ein bisschen Glück“, fügte er grinsend hinzu.

Der Junge nickte als hätte er verstanden. „Aber wie lange dauert es so ungefähr. Also rein durchschnittlich?“

Charles lehnte sich mit einem Seufzen nach vorne und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. „Hör zu Junge: Mach einfach deine Runden und gut ist.“

Bobby verdrehte genervt die Augen. So hatte er sich seinen Job auf dem Gelände des Cailbrook Forschungszentrums nicht vorgestellt. Seit fast zwei Wochen ging er fünfmal in der Nacht von Gebäude zu Gebäude, rüttelte an Türen, die er selbst verschlossen hatte, kontrollierte Maschinen und Kühlaggregate, die auch ohne ihn ihre monotone Arbeit verrichteten, und setzte das elektronische Lesegerät bestimmt hundertmal bei den Kontrollstationen an. Eigentlich waren es nur acht Stationen pro Runde, doch er konnte dieses leise Piepen, das seine Anwesenheit aufzeichnete, einfach nicht mehr hören. Fast zwei Wochen, und nichts passierte. Noch nicht mal ein Fuchs oder Marder, der versuchte, durch den Zaun zu schlüpfen. Dabei hatte er direkt am ersten Tag ein erwartungsvolles, aufregendes Kribbeln gespürt, als er von Charles aus London mit hierher genommen worden war und beim Schichtwechsel all die Männer beobachten konnte, die sich die Holster umschnallten, Kevlarwesten anzogen, die Totmannmelder um den Hals hängten und die Funkgeräte einsteckten. Er kam sich vor, als wäre er mitten in einen amerikanischen Actionfilm geraten, in dem sich ein Spezialteam auf irgendeine gefährliche Mission vorbereitete.


Doch für Bobby gab es kein Holster, keine Waffe und keine Weste. Aber wenigstens eine wetterfeste Jacke mit der Aufschrift Security, ein Funkgerät und einen Totmannmelder, den auch er sich um den Hals hängen durfte. Als sie ihm das Lesegerät in die Hand drückten, hatte er im ersten Moment gedacht, es handle sich um einen Elektroschocker. Das grölende Gelächter tönte ihm noch heute in den Ohren.

Charles musterte das betretene Gesicht des Jungen. Er verstand genau, wie der Junge sich fühlte. Jeder in seinem Team war irgendwann einmal irgendwo der Grünschnabel gewesen, hatte auf große Heldentaten gehofft und sich bis auf die Knochen blamiert. Seiner Meinung nach sollte Bobby in London das Vertriebshaus oder den Bürokomplex bewachen und nicht die Laboratorien hier draußen. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er nun schon für die Firma. Fünfzehn Jahre, die ihn an den Rand seines Verstandes gebracht hatten. Irgendwann fing jeder an, in dem Wald, der das Gelände umgab, Gespenster zu sehen. In all den Jahren hatte es über zwanzig Einbrüche gegeben. Hauptsächlich belanglose Vorfälle. Jugendliche, die auf der Suche nach einem Nervenkitzel waren. Doch es gab auch andere, die dazu geführt hatten, dass einer seiner Männer im Plastiksack abtransportiert wurde und einige andere in der Krankenabteilung landeten. Zwei von ihnen hatte er daraufhin nie wieder gesehen. Es hieß, sie wären nach dem Angriff an einen ruhigeren Ort versetzt worden.

Charles zwang seine Gedanken wieder ins Hier und Jetzt und wies mit einem Nicken auf die Uhr, die über der Tür der Überwachungszentrale hing.

„Wir reden nach deiner Runde weiter“, erklärte er großmütig und drehte seinen Sessel wieder in Richtung der unzähligen Monitore, die über dem Kontrolltisch angeordnet waren.

Bobby schnaubte missmutig, nahm die Chipkarte aus der Schublade und holte das Lesegerät aus der Ladestation.

„Mach die Jacke lieber zu, Junge“, murmelte Charles, als Bobby sich der Tür zuwandte. „Ist stürmisch heute Nacht.“

„Ja, Daddy“, gab dieser trotzig zurück und trat durch die dicke Stahltür nach draußen. Eisiger Wind fuhr ihm unter die Jacke und blähte sie weit auf. Eilig zog er den Reißverschluss bis zum Kinn nach oben, bevor er zwischen den wenigen Fahrzeugen, die allesamt dem Sicherheitspersonal gehörten, hindurch ging. Außer ihnen war niemand mehr hier. Sie waren alle zu Hause und genossen ihren Feierabend. Bobby warf einen kurzen Blick auf eine der überdachten Plattformen, die an den vier Eckpunkten des Geländes den Maschendrahtzaun überragten. In jeder anderen Nacht hätte er gerne mit seinen Arbeitskollegen getauscht. Heute war er zum ersten Mal froh, sich zwischen seinen Rundgängen in die geheizte Zentrale zurückziehen zu können. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die pechschwarze Wand, die das Grundstück umgab. Der ganze Wald bewegte sich in wabernden Schatten mit dem Wind und schuf monströse Trugbilder, die sich in sein Unterbewusstsein fraßen. Bobby riss sich schaudernd los und setzte seinen Weg zum Bürogebäude fort.

Gerade als der Graupelschauer einsetzte, erreichte er die Tür, doch bevor er die Chipkarte durch das elektronische Schloss zog, kroch ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinauf. Es war als würde irgendjemand direkt hinter ihm stehen. Langsam drehte er sich um, doch er konnte weder zwischen den Fahrzeugen noch auf der anderen Seite des Zauns etwas entdecken. Offensichtlich forderte der kurze Blick auf den Wald seinen Tribut. Bestimmt hatte er sich alles nur eingebildet. Bobby schlüpfte hastig durch die Tür. Doch dann entfuhr ihm ein leiser Schreckensschrei, weil er das Gefühl hatte, irgendetwas sei durch ihn hindurch geglitten.

„Hey Bobby“, hörte er die Stimme von William, einem der Wachleute auf der naheliegenden Plattform über Funk. „Genießt du etwa das Wetter, oder wieso stehst du da auf der Schwelle rum?“

Bobbys Finger tasteten zitternd nach dem Funkgerät. Ungeschickt zerrte er es aus der Gürteltasche und ließ es fallen. Als er sich bückte, blieb der Totmannmelder an seinem Oberschenkel hängen und geriet in die Waagerechte. Fast zeitgleich schrillte in der Zentrale und an den Funkgeräten der anderen ein durchdringendes Warnsignal los. Bobby kniff die Augen zusammen und fluchte.

„Alles in Ordnung“, hörte er William wieder über Funk. „Ich seh‘ ihn.“

„Was ist passiert?“ Charles Stimme klang genervt.

Bobby riss sein Funkgerät an sich und drückte eilig den Knopf. Er wollte William den Triumph nicht gönnen, sich über ihn lustig zu machen.

„Entschuldigung“, meldete er sich hastig. „Eiskalte Finger. Hab das Funkgerät fallen lassen, und als ich es aufheben wollte, ist der Melder losgegangen.“

Es dauerte einen Moment, bis sich Charles wieder hören ließ. „Okay. Pass in Zukunft etwas besser auf. … William! Funkdisziplin halten!“

Bobby ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Vor ihm erstreckte sich ein langer Gang mit weißen Kunststoffwänden und grau marmoriertem Linoleumboden, der durch die nächtliche Notbeleuchtung, in unwirkliches Licht getaucht wurde. Bobby würde es den Männern gegenüber niemals zugeben, doch er hasste diesen Gang. Die Totenstille, die hier nachts herrschte, die Beleuchtung, die seinen eigenen Schatten in unzählige Riesen verwandelte, und die vielen Türen, die ihn an den Film Poltergeist erinnerten, den er vor einigen Jahren bei seinem Onkel gesehen hatte: Dieser kurze Flur, der sich immer weiter in die Länge zog, während die Mutter von Sue Ann verzweifelt versuchte, die letzte Tür zu erreichen.

Bobby drückte gewohnheitsmäßig die Türklinken rechts und links, während er den Gang durchschritt. In der Mitte war die erste Station an der Wand befestigt. Er hielt kurz sein Lesegerät dagegen, wartete auf das kurze Piepen und setzte seinen Weg fort. Die letzte Tür führte ihn ins Treppenhaus und damit in die obere Etage, wo sich die Büros der Kittelträger, wie Charles die Wissenschaftler nannte, befanden. Bobby ging die gefliesten Stufen hinauf und stutzte. Einen Augenblick dachte er, sich zu irren, aber dann hörte er es wieder: Irgendjemand sang!


Bobby verdrehte die Augen. Heute Nacht wollten sich wohl alle über ihn lustig machen. Aber diesmal würde er sich das nicht bieten lassen. Ruhig erklomm er die Stufen und öffnete die Tür zu den Büroräumen. Der Gang hier glich dem in der unteren Etage, nur dass der Boden mit grünem Kunstfaserteppich ausgelegt war. Eine der hinteren Türen war nur angelehnt. Das bläulich flackernde Licht eines Computers strömte von dort in den Gang.

I put it in my pocket and I took it home to Jenny“, drang eine etwas krächzende leise Stimme an sein Ohr. “She sighed and she swore that she never would deceive me”, sang die Stimme weiter. Bobby verzog das Gesicht und blieb stehen. Was hatten sie wohl jetzt wieder ausgeheckt? Wollte man ihn mit einem kindischen „Buh!“ erschrecken oder würde ein Wassereimer auf der Türkante auf ihn warten? Er hielt alles für möglich. Aber er hatte nicht vor, in die Falle zu gehen. Kurzentschlossen griff er nach dem Funkgerät und drückte den Knopf.

„Sehr witzig, Jungs“, meldete er sich, „wirklich, sehr witzig.“

Der Funk schwieg eine Weile, und Bobby nutzte die Zeit, um sich weiter vorzuarbeiten.

Wack fall the daddy-o, wack fall the daddy-o. There’s whiskey in the jar.”

Bobby hatte die Tür erreicht. Auf dem Namensschild stand: Dr. Clark.

„Was ist los, Bobby“, erkundigte sich Charles just in diesem Augenblick über Funk.

Augenblicklich wurde es still in dem Zimmer. Das bläuliche Licht hinter der Tür erlosch und Bobby war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob wirklich ein Kollege hinter der Tür auf ihn wartete.

„Bobby?“, dröhnte Charles Stimme aus dem Funkgerät.

Bobbys Finger schlossen sich fester um den Griff des Lesegeräts. Er stieß die Tür mit dem Fuß auf. Hinter dem luxuriösen Schreibtisch zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab.

„Keine Bewegung!“, brüllte Bobby dem Mann entgegen.

„Wie denn?“, fragte eine helle, etwas heisere Stimme.

„Was ist denn daran nicht zu verstehen?“, wollte Bobby irritiert wissen.

„Wenn ich mich nicht mehr bewegen soll, muss ich auch den Atem anhalten und irgendwann umkippen“, entgegnete der Einbrecher frech. „Vielleicht solltest du es mit Hände hoch und keinen Schritt weiter! versuchen.“

Bobby schüttelte verwirrt den Kopf. „Okay, dann: Hände hoch und keinen Schritt weiter!“

„Ich will aber nicht“, entgegnete der Einbrecher, stützte sich auf den Schreibtisch auf und sprang ab. Gerade als Bobby schon befürchtete, der Mann würde sich auf ihn stürzen, blieb dieser mit dem Fuß an der Tischkante hängen. Fluchend knallte er vor Bobby auf den Boden. Der Einbrecher blickte auf, und der junge Wachmann wurde einen kurzen Augenblick von dessen smaragdfarbenen Augen eingefangen. Es war wie ein kurzer Impuls, der in seinem Innern ausgelöst wurde, und Bobby schlug so fest er konnte mit dem Lesegerät zu. Der Einbrecher sackte in sich zusammen. Ein dünnes blutrotes Rinnsal sickerte aus der Platzwunde auf seiner Stirn.

Bobby drückte triumphierend den Knopf des Funkgerätes.

„Hier Bobby“, sagte er entschlossen. „Eindringling im Büro von Dr. Clark.“

„William! Steven! Kümmert euch darum!“, befahl Charles unverzüglich und fügte in beinahe väterlichem Ton hinzu: „Halt dich erst mal zurück, Kleiner.“

„Zu spät“, entgegnete Bobby triumphierend. „Hab ihn niedergeschlagen, als er flüchten wollte.“

Der Funk schwieg, und Bobby blieb nichts anderes übrig, als auf William und Steven zu warten. Zeit, sich den ungebetenen Gast etwas genauer anzusehen. Er schaltete das Licht ein und ging neben dem Mann in die Hocke. Im Hellen betrachtet, erschien ihm der Typ noch verrückter als er zuvor angenommen hatte. Seine Gesichtszüge waren eindeutig europäisch, doch seine schwarzen Haare hatte er, wie die Chinesen in alten Kung- Fu- Filmen, zu einem langen Zopf geflochten. Aber das war nicht das einzige, was ihm kurios vorkam. Auch der optische Gesamteindruck war schon nahezu schmerzhaft: Ein himmelblaues Schnürhemd, braune Wildlederhosen und ausgelatschte neongelbe Converse-Turnschuhe.

„Mann, du kriegst doch mit Sicherheit einmal am Tag eine auf die Fresse, wenn du dich so auf die Straße traust“, murmelte Bobby belustigt.

Der Einbrecher antwortete nicht, sondern lag noch immer reglos am Boden. Bobby erhob sich wieder und sah seinen beiden Kollegen entgegen, die eben aus dem Treppenhaus in den Flur traten. Gespannt wartete er auf die anerkennenden Blicke und Bemerkungen, auf ein Schulterklopfen. Doch nichts dergleichen geschah. Die beiden schoben sich an ihm vorbei, ohne ein Wort zu sagen. William überprüfte Atmung und Puls des Einbrechers, bevor er Steven zunickte und sie ihn rechts und links an den Oberarmen griffen und einfach den Flur hinunter schleiften. Bobby folgte ihnen in einigem Abstand. Er war sauer! Er hatte sich vollkommen unbewaffnet einem Einbrecher in den Weg gestellt und ihn bezwungen. Keiner schien sich dafür zu interessieren.

Sie brachten den Einbrecher ins Treppenhaus und trugen ihn eine weitere Etage nach oben, wo Charles bereits auf sie wartete. Bobby war bisher noch nie hier gewesen, und mehr als einen Fahrstuhl schien es auch nicht zu geben. Charles legte seinen Daumen auf einen Scanner neben der Fahrstuhltür, die sich daraufhin zur Seite schob.

„Musst du nicht deine Runde beenden, Kleiner?“ Es war mehr ein Befehl als eine Frage, und der junge Wachmann beobachtete empört, wie die drei mit seinem Einbrecher den Fahrstuhl bestiegen.

„Aber …“ Bobby suchte nach den richtigen Worten.

„Deine Runde!“, herrschte Charles ihn an. Die Tür begann sich zu schließen, und Bobby, der den schlaff zwischen William und Steven hängenden Einbrecher nicht aus den Augen gelassen hatte, sah, wie dieser die Augen öffnete und ihm mit einem breiten Grinsen zuzwinkerte.


Der Fahrstuhl fuhr hinab in das zweite Untergeschoss. Charles trat als erster auf den Gang hinaus. Der unterirdische Komplex zog sich in einem Irrgarten aus rechtwinklig angelegten Gängen durch das gesamte Gelände. Zwischen ihnen befanden sich die unterschiedlichsten Laboratorien, Büros, Lager und Überwachungsräume. Die meisten davon waren rundum verglast, und die unzähligen Überwachungskameras machten es hier unten nahezu unmöglich, sich unbemerkt zu bewegen. Über jeder Kreuzung hing ein Schild mit einem Code aus Zahlen und Buchstaben, die den Eingeweihten den richtigen Weg wiesen. Alles hier unten erstrahlte im kalten, sterilen Weiß, und der Geruch nach Phenol hing überall in der Luft.

Doch die sterile Kälte und die Ausdünstungen der Chemikalien waren nicht der eigentliche Grund, weshalb sich die Wachmänner hier unten so unwohl fühlten, oder die Menschen, die hier arbeiten mussten mit der Zeit so abstumpften, dass man sie beinahe als seelisch tot bezeichnen konnte. Es waren die merkwürdigen Geräusche, die keinen Ursprung zu haben schienen. Unmenschlich klingende, qualvolle Laute, die weniger in den Gängen widerhallten, sondern sich in die Tiefen des Unterbewusstseins hineinfraßen und tagelang festsetzten. Manchmal konnte man aus dem Augenwinkel heraus, oder im spiegelnden Glas eine menschliche Gestalt erkennen, die genauso plötzlich wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war. Kurze Schreckmomente, die bei den einen schnell vorbeigingen und bei anderen dazu führten, dass sie heimlich Dr. Clark ihre Kündigung auf den Tisch legten und bei Nacht und Nebel verschwanden.

Sie schleiften den Einbrecher die Gänge entlang, wobei sie mehrmals nach rechts oder links abbogen und schließlich vor einem von Panzerglas umgebenen Untersuchungszimmer stehenblieben, an dessen Rückseite ein Überwachungsraum mit verspiegelter Scheibe angrenzte. In seiner Mitte war eine Art Behandlungsstuhl im Boden verankert. Er bestand vollständig aus kaltem Industriestahl, hatte keinerlei Polsterung, und an Armlehnen und Fußstützen waren dicke Bänder aus Polyester mit doppelseitigem Klettverschluss befestigt. Eine Art Küchenzeile umrundete den ganzen Raum, wobei an der linken Seite einer der Unterschränke fehlte und so Platz für einen provisorischen Schreibtisch bot. Eigentlich könnte man sagen, dass hier alles vorhanden war, was man in jedem gut ausgestatteten Arztzimmer finden konnte, wenn man mal von der unbequemen Sitzgelegenheit für den Patienten absah. Charles öffnete die Tür mit einer Chipkarte und trat beiseite. Dem Phenol mischte sich der starke Geruch von Formaldehyd hinzu.

William und Steven schleiften ihren Gefangenen zum Stuhl, wuchteten ihn hoch und schnallten ihn fest, während Charles an der Tür stehen blieb und, mit der Hand am Pistolenholster, wartete.

„Vergesst nicht, ihn zu durchsuchen“, wies Charles seine Männer an, die sich umgehend um den Inhalt von dessen Taschen kümmerten. Neben einem zerknitterten Einkaufszettel, ein paar Pfundnoten und einer Tüte Gummibärchen, entdeckten die geübten Blicke der Sicherheitsmänner noch einige Verdickungen an seinem Gürtel. Erst bei näherer Untersuchung förderten sie einige kleine Wurfmesser ans Tageslicht, die in das Leder eingenäht waren, und durch eine winzige Drahtschlinge nach oben heraussprangen. Steven warf dem Gefangenen einen beeindruckten Blick zu.

„Blöd ist der Kerl nicht“, murmelte er. „Ich kenn solche Vorrichtungen ja für die Unterarme, und am Gürtel hab ich sie auch schon gesehen, aber so …“

William warf alles auf die Ablage und nickte Charles zu.

„Was hat Dr. Clark gesagt?“, fragte Steven. „Kommt er her?“

Charles nickte. „Er war nicht gerade erbaut darüber, dass der Kerl es bis in sein Büro geschafft hat. Ich fürchte, Bobby wird sich wohl noch einiges anhören dürfen.“

„Aber immerhin hat er ihn ja noch geschnappt“, beschwichtigte William. Auch wenn er sich gerne über den Jungen lustig machte, der aufgrund seiner mangelnden Erfahrung von einem verbalen Fettnäpfchen ins andere stolperte, hatte Bobby doch einiges an Courage bewiesen.

„Er hatte enormes Glück, dass es keiner von ihnen war. Sonst wär er jetzt tot“, brummte Charles, als sie den Raum verließen und sich die Tür hinter ihnen verriegelte. „William, bleib hier und behalte unseren Gast im Auge“, ordnete Charles an und gab Steven einen Wink, mit ihm wieder nach oben zu fahren.

William umrundete den Raum und stieg die wenigen Stufen zum Überwachungsraum hinauf. Das gestanzte Metall der Treppe schepperte leise unter seinen schweren Armeestiefeln. Drinnen war der Geruch schon um einiges angenehmer. Erleichtert holte er sich einen Kaffee aus dem Automaten hinter der Tür und ließ sich in den Bürosessel am Kontrolltisch fallen. Es tat ihm nicht im Geringsten leid, dass Steven wieder auf der Plattform frieren durfte. Routiniert schaltete er Kameras und Aufnahmegeräte ein, stellte die Lautstärke etwas höher und widmete sich dem Pornoheftchen, das einer seiner Kollegen freundlicherweise hier unten liegengelassen hatte.

Die Zeit verging. William spürte, wie seine Glieder langsam steif wurden. Gelangweilt warf er das Magazin auf den Tisch zurück. Als er sich streckte, bemerkte er, dass ihr ungebetener Gast offensichtlich hellwach war. Doch im Gegensatz zu all den anderen, die sich vor ihm in dieser Situation befunden hatten, zeigte er keinerlei Anzeichen von Angst oder Verwirrung, sondern saß einfach nur vollkommen entspannt da und starrte schmunzelnd zu ihm hinauf. William ließ die Arme wieder sinken, stand langsam auf und trat einige Schritte seitwärts. Die Augen des Einbrechers folgten jeder seiner Bewegungen. William runzelte die Stirn und überlegte, ob er Charles nicht lieber darüber informieren sollte. Der Kerl wurde ihm irgendwie unheimlich, und als hätte er Williams Gedanken gehört, begann dieser die Lippen zu spitzen. Über die Lautsprecher ertönte ein fröhlich gepfiffenes Whiskey in the Jar. Immer und immer wieder von vorne. Williams Nerven waren bald bis zum Zerreißen gespannt, auch weil ihm diese grünen, durchdringenden Augen permanent folgten.

Eine weitere halbe Stunde verging, bis William endlich Charles und Dr. Clark den Gang hinunter kommen sah. Das Pfeifen verstummte. William warf einen Blick ins Labor und zuckte leicht zusammen, als der Kerl dort unten ihm mit einem frechen Grinsen zuzwinkerte.


Dr. Clark war ein hagerer Mann, Mitte Fünfzig und im Gegensatz zu den Männern des firmeninternen Sicherheitsdienstes eher klein. Er arbeitete schon seit Jahrzehnten in dieser Forschungseinrichtung, in der selbst die Angestellten nur spärlich darüber informiert waren, an, oder besser gesagt, mit was sie eigentlich arbeiteten. Dr. Clark hatte ein vielköpfiges Team aus Wissenschaftlern unter sich, die alle aus den verschiedensten Bereichen kamen, und obwohl es immer wieder Ansätze zu hitzigen Debatten zwischen den einzelnen Vertretern der unterschiedlichen Zweige gab, wagte keiner von ihnen, den reibungslosen Ablauf ihrer Zusammenarbeit durch persönliche Differenzen zu stören. Dr. Clarks kalte Ausstrahlung und sein detailliertes Wissen über das Privatleben seiner Mitarbeiter sorgten in den Laboren nicht nur für Disziplin, sondern auch für Loyalität.

Mit einem Ausdruck der Freude empfangen zu werden, war für ihn ein mehr als seltenes Ereignis, doch als er dicht gefolgt von Charles den Überwachungsraum betrat, hatte er kurzzeitig das Gefühl, William wäre über sein Erscheinen richtiggehend erleichtert. Dr. Clark musterte das blasse, schweißnasse Gesicht seines Sicherheitsfachmanns.

„Sind Sie krank?“

William riss sich zusammen und versuchte zu seiner alten Professionalität zurück zu finden. „Mir geht es gut“, erwiderte er, „doch mit dem Kerl dort unten stimmt etwas nicht.“

Dr. Clark warf einen prüfenden Blick durch die Scheibe. Der Einbrecher saß unbeteiligt da und starrte Löcher in die Luft.

„Hat er schon irgendwas gesagt?“, erkundigte er sich bei William, ohne ihn anzusehen.

„Nein“, erwiderte dieser und versuchte dabei so ruhig und professionell zu klingen, wie möglich. „Er hat zirka zwanzig Minuten lang Whiskey in the Jar vor sich hingepfiffen. Ansonsten war er ruhig.“

Dr. Clark betätigte einen der Knöpfe, der die Kameras auf Infrarot umschaltete und drehte sich zu den Monitoren an der Rückseite um. Die Thermografie zeigte keinerlei Auffälligkeiten, wenn man mal davon absah, dass ihr Gefangener es auf einmal vorzog, seine Augen geschlossen zu halten.

„Dann unterhalten wir uns mal mit unserem Gast.“ Entschlossen verließ er den Überwachungsraum. Charles wandte sich ebenfalls um, als William ihn am Arm packte.

„Was ist?“, wollte Charles erstaunt wissen.

William deutete mit einem Kopfnicken zur Scheibe. „Sei vorsichtig, wenn du da drin bist.“

Charles schüttelte verständnislos den Kopf. „Alles in Ordnung mit dir?“

„Ich sage dir, der Kerl ist nicht normal. Er hat mich die ganze Zeit beobachtet.“ Williams Stimme wurde immer eindringlicher.

„Du weißt doch, dass …“

„Dass er mich eigentlich nicht durch den Spiegel sehen kann“, beendete William Charles angefangenen Satz und nickte. „Aber er hat mich gesehen!“

„Vielleicht gehört er zu ihnen“, überlegte Charles. „Ich informiere den Doktor.“ Mit diesen Worten ließ er den verunsicherten William zurück und folgte Dr. Clark ins Labor.


„Sie dachten also, es wäre eine nette Idee, uns einmal zu besuchen“, eröffnete Dr. Clark höflich die Befragung des Eindringlings. Er stand mit dem Rücken zu ihm an einem der Schränke und zog eine Spritze mit Natriumpentothal auf.

Der Einbrecher begann zu kichern. „Besuchen. Das ist gut.“

Dr. Clark drehte sich mit der Spritze in der Hand um und musterte das Gesicht seines Gefangenen. „Sind Sie sich eigentlich bewusst, in welcher Lage Sie sich hier befinden?“

Der Einbrecher verzog grüblerisch das Gesicht. „Prostata-Untersuchung?“

Mit lautem Zischen öffnete sich die Tür und Charles trat ein.

„Mr. Farren“, wandte sich Dr. Clark zu ihm um. „Schön dass Sie auch endlich zu uns stoßen. Würden Sie unserem Gast bitte den linken Arm abbinden?“

„Entschuldigung. William hatte noch etwas dem Überwachungsbericht zuzufügen. Es könnte sein, dass er zu Bernsteins Leuten gehört.“ Charles machte sich daran, der Anweisung zu folgen. Achtlos schnitt er den Stoff des linken Ärmels mit seinem Messer an und riss ihn herunter.

Dr. Clark warf einen kurzen Blick auf den durchtrainierten Oberarm und nickte zufrieden. „Bernstein also. Nun, wenn es so sein sollte, hat er uns ein hervorragendes Objekt geliefert.“

Der Gefangene ließ sich widerstandslos die Spritze verabreichen und lehnte genießerisch den Kopf zurück, als das Wahrheitsserum nach kurzer Zeit seine Wirkung zeigte.

Dr. Clark setzte sich auf den Bürostuhl am Computer, schaltete ihn an und drehte sich wieder zu seinem Gefangenen um. „Wie fühlen Sie sich?“

„Tooooll“, erwiderte dieser. „Gibt’s die auch zum Mitnehmen?“

„Nein“, antwortete Dr. Clark sachlich. „Fangen wir mit ein paar ganz einfachen Fragen an: Wie heißen Sie?“

„Toadwart“, sagte der Gefangene, „Sie können mich aber auch Toadie nennen.“

„Für wen arbeiten Sie?“

„Herzog Igzorn“, kicherte er.

Die Faust von Charles traf ihn mit voller Wucht am Unterkiefer. „Verarsch uns nicht!“, herrschte er den Einbrecher an.

„Wie lautet Ihr Name?“, fragte Dr. Clark erneut.

Der Gefangene grinste Charles mit blutverschmierten Zähnen herausfordernd an. „Yakko“, antwortete er und bekam prompt einen Schlag gegen die unteren Rippenbögen. „Wenn ihr nicht lieb zu mir seid, kommen meine Geschwister und stellen hier alles auf den Kopf“, fügte der Einbrecher röchelnd hinzu.

Dr. Clark seufzte. „Yakko? Der von den Animaniacs? Sie sehen wohl gern Cartoons, Mister …?“

„Tänzer“, vervollständigte der Gefangene lächelnd. „Angenehm.“

Dr. Clark nickte zufrieden. „Wenn wir schon so gemütlich zusammen sitzen: Sollen wir uns nicht duzen?“

„Aber nicht doch“, entgegnete Mr. Tänzer. „Sie wollen doch nicht, dass Ihr Schoßhündchen hier eifersüchtig wird.“

„Wollen Sie mir dann vielleicht verraten, was Sie in meinem Büro zu suchen hatten?“

Der Gefangene ließ den Kopf zur Seite kippen, um den Wissenschaftler direkt anzusehen. „Informationen.“

„Was für Informationen?“

„Über die Versuchstiere. Ich bin Tierschützer.“

Dr. Clark zog die Stirn in Falten. „Tierschützer? Sie sind Tierschützer?“

Der Gefangene nickte. „Ich wollte die armen Affen befreien.“

„So“, Dr. Clark wechselte mit Charles zweifelnde Blicke. „Affen? Sie glauben, dass es hier Affen gibt?“

Der Gefangene nickte eifrig. „Oh ja, jede Menge“, er drehte den Kopf wieder, um Charles in die Augen zu sehen. „Aber wie ich festgestellt habe, werdet ihr alle artgerecht gehalten.“

Der Wissenschaftler stand auf und zog eine weitere Spritze auf.

„Na endlich“, murmelte Mr. Tänzer erleichtert. „Mir gehen so langsam die Sprüche aus.“

Dr. Clark versenkte die Nadel in seiner Vene. „Genießen Sie es“, sagte er mit kaltem Lächeln, während das Wahrheitsserum in die Blutbahn gedrückt wurde und der Gefangene in einem langgezogenem Stöhnen erschlaffte und seine Augen schloss.

„Zu viel?“, wollte Charles wissen.

„Der kommt gleich wieder zu sich“, erklärte Dr. Clark, drehte sich mit dem Stuhl um und hielt einen Moment inne. Irgendwie fühlte er sich beobachtet. Bevor er sein Passwort eingab warf er noch einmal einen prüfenden Blick über die Schulter. Doch sein Gefangener schlummerte friedlich lächelnd im Land der Träume.

„Stimmt etwas nicht?“, wollte Charles wissen.

Dr. Clark zuckte mit den Schultern. „Ich schicke später einen der Hunde her. Anscheinend spaziert einer unserer Probanden hier ungesichert herum.“

Er wandte sich wieder dem Computer zu, loggte sich ein und schrieb einen kurzen Bericht über die bisherige Befragung, bis ihm ein leises Stöhnen verriet, dass der Gefangene wieder zu sich kam.

„Wer hat Sie geschickt?“, fragte er, ohne sich dabei umzudrehen.

„Kilian“, antwortete der Einbrecher, wie in Trance.

„Na also. Und hat dieser Kilian auch einen Nachnamen?“

„Öhm … nein … das heißt … manchmal.“

Dr. Clark warf einen Blick über die Schulter. „Wie nennen Sie ihn denn?“

„Boss.“

„Was sollten Sie hier für ihn machen?“

„Heiraten.“

Dr. Clark drehte sich wieder auf dem Stuhl um.

Der Gefangene grinste ihn diabolisch an. „Sind Sie noch zu haben?“

Dr. Clark schaltete den Computer aus und nickte Charles zu. „Er gehört Ihnen. Wenn er so nicht redet … sein Astralleib wird es mit Sicherheit tun. Legen Sie mir den Bericht auf meinen Schreibtisch.“

Der Sicherheitschef nickte und bereitete ein Tablett mit verschiedensten Messern, Zangen, Klemmen und zwei großen Schwämmen vor. Holte eine Autobatterie und zwei Kabel aus einem der Schränke und schloss sie an, während Dr. Clark das Labor verließ.

„Jetzt unterhalten wir uns.“ Charles griff nach einer der Metallklemmen und stellte sich neben Mr. Tänzer, der auf die kleine Digitaluhr neben dem Monitor schaute. „Oh, es ist spät“, stellte er scheinbar erschrocken fest.

Auf dem Infrarotbild im Überwachungsraum erstrahlten die Augen des Gefangenen in gleißendem Weiß, als die Bänder, welche ihn am Stuhl fixierten, wie Papier zerrissen. Die Stimme klang auf einmal wie das tiefe Grollen eines hungrigen Wolfes. „Zeit zu sterben!“ Seine Hand schnellte vor. Zu schnell um zu reagieren. Der Sicherheitschef spürte, wie sich nadelspitze Klauen in seinen Hals bohrten. Blut spritzte, als sich der Kehlkopf vom übrigen Gewebe trennte und Charles mit einem gurgelnden Geräusch in die Knie sackte.

William, der die Szene mit Schrecken beobachtet hatte, erwachte aus seiner Starre und schlug mit aller Gewalt auf den Alarmknopf. Hastig zerrte er seine Pistole aus dem Holster, als er sah, wie er erneut von den grünen Augen des Einbrechers fixiert wurde. Die Lider verengten sich etwas, wie bei einem Raubtier, das seine Beute anvisiert, und auf einmal war William sich gar nicht mehr so sicher, ob das Panzerglas tatsächlich halten würde. Fünf Minuten, dachte er verzweifelt, sie brauchen circa fünf Minuten, bis sie hier sind. Er zog sich an die hintere Wand zurück. Kalter Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen, während er die Pistole mit beiden Händen umfasste und auf den Gefangenen zielte.

Das Telefon am Kontrolltisch klingelte. William ignorierte es und konzentrierte sich auf den Schuss, den er genau in dem Moment abgeben musste, wenn der Kerl durch die Scheibe springen würde.

Doch der Gefangene dachte gar nicht daran. Stattdessen zwinkerte er ihm zu und setzte sich an den Computer.

„Was zum …“, William beobachtete, wie er sich einloggte und die Dateien durchstöberte.

Noch immer klingelte das Telefon und William riss den Hörer an sich. „Er ist im System!“, brüllte er in die Sprechmuschel.

„Wo ist Charles?“, fragte Dr. Clark ungehalten.

„Tot!“, kreischte William und ließ erschrocken den Hörer fallen, als er bemerkte, dass das Labor verlassen war.


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