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Bjorn Ericson

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London, 30. Juli

Die ältere Dame im Pelzmantel trat eingeschüchtert ein paar Schritte von dem Regal zurück und versuchte dem abfälligen Blick des blonden Rockers auszuweichen, der sie demonstrativ von oben bis unten musterte.

„Ist doch sowieso Second-Hand, eingebildete Tussi“, murrte er verächtlich und deutete auf den Mantel. „Ich hoffe, Ihnen zieht auch mal jemand das Fell ab.“

„Hey, Bjorn! Die hier?“, rief Marcus, der ein paar Schritte weiter nachdenklich die Waren begutachtete und deutete auf eine Schachtel mit Schokoladenkeksen.

Der Rocker wandte sich seinem Begleiter zu und schüttelte mit dem Kopf. „Alkohol drin.“

„Mann, denen gönnt man ja gar nichts.“

Bjorn zuckte mit den Schultern. „Er ist selber schuld.“

„Pfff. Unverschämtheit. Sie tragen doch selbst eine Lederjacke, junger Mann“, verteidigte sich die Frau.

„Erstens: Kühe sind nicht vom Aussterben bedroht, und Zweitens: sie werden nicht nur wegen ihrer Haut gezüchtet, sondern es wird fast alles verwertet. Ganz im Gegensatz zum Hermelin, wo der Rest einfach in den Abfall geworfen wird.“

Er griff nach einer anderen Packung Feingebäck, warf sie in seinen Einkaufswagen und deutete Marcus, der die Dame breit grinsend anstarrte, mit einem Kopfnicken an, dass er weiter wollte.

„Sie müssen ihn entschuldigen“, wandte Marcus sich nun seinerseits an die Dame. „Wissen Sie, letztes Jahr, als es im Herbst so gestürmt hatte, wurde er unter einem Baum eingeklemmt. Er lag stundenlang im eiskalten Regen, als ein flauschiges Kaninchen auftauchte und den ganzen Baumstamm über ihm durchnagte. Seitdem hat er sich auf die Seite der Vierbeiner geschlagen und …“ Bjorn packte ihn prustend am Arm und zog ihn mit sich, während die alte Frau ihnen kopfschüttelnd hinterher schaute. Sie hörten sie noch irgendetwas murren, doch die Flüche wurden durch ihr eigenes ausgelassenes Gelächter übertönt.

„Wie wär’s mit etwas Obst?“, fragte Marcus, nachdem die beiden wieder zu Atem gekommen waren.

Bjorn nickte. „Kann ich ihm heute Nachmittag mitbringen. Ins Paket dürfen nur originalverpackte Sachen rein.“ Er sah sich suchend um. „Wo ist der verdammte Instantkaffee?“

Dass sein Vater in Wormwood Scrubs einsaß, war schon schlimm genug, doch dessen ständige Wutausbrüche führten auch noch dazu, dass die Besuchstermine immer wieder gestrichen wurden, und Bjorn gezwungen war, auf die wenigen verbleibenden Gelegenheiten zurück zu greifen.

„Wie geht’s ihm eigentlich?“, erkundigte sich Marcus.

„Fühlt sich wie immer ungerecht behandelt.“ Bjorn verzog leicht genervt das Gesicht, und drehte einmal schwungvoll den Kopf, um die langen blonden Strähnen wieder nach hinten zu befördern, während er sich über die Orangen beugte.

„Aber mal was anderes“, wechselte Marcus das Thema. „Arthur hat angerufen und gefragt, ob wir übermorgen spielen könnten.“

„Klar, bin dabei. Hat er noch was gesagt?“

Der Sänger von Destruction Crape grinste breit. „Jup. Ich soll dich grüßen und du sollst weniger saufen.“


*


Bjorns Gedanken schweiften zurück zu jenem Tag, als der Asphalt ihm die Haut von der Wange riss, dass sie aussah, als hätte ein sadistischer Bildhauer ihn mit einem Stück Holz verwechselt, und eingehend mit Schmirgelpapier bearbeitet. Doch angesichts eines drohenden monatelangen Krankenhausaufenthalts, wenn er Glück gehabt hätte, war dies eine kaum erwähnenswerte Verletzung. Denn eigentlich war der Bus drauf und dran, ihn frontal zu erwischen. Doch statt meterweit die Straße hinunter geschleudert zu werden, wurde er vorher von etwas anderem erfasst, so schnell und kraftvoll, dass er erst dachte, der Bus wäre von einem Ferrari überholt worden. Er landete auf der anderen Seite der Straße, während der Doppeldecker an ihm vorbeifuhr und der Fahrer ihm empört den Vogel zeigte. „Du solltest mehr auf die Strömung achten.“ Die ersten Worte, die er nie vergessen hatte. Sie kamen aus dem Mund von Arthur Kruger, der ihn von der Fahrbahn gerissen, und so vor dem Unfall bewahrt hatte. Der Beginn einer innigen Freundschaft, die schon bald eher einem Vater-Sohn-Verhältnis glich. Bis heute war er sich sicher, dass Arthur Strömung gesagt hatte, obwohl dieser rigoros behauptete, dass er vom Verkehrsstrom geredet hätte. Doch wie könnte der Altrocker etwas von seinen Tagträumen wissen, die ihn immer wieder auf hohe See hinaustrieben oder in irgendwelchen martialischen Schlachten gefangen hielten? Der Einzige, dem er je davon erzählt hatte, war Marcus, als sie sich über die neuen Songs unterhielten, die Bjorn geschrieben hatte. Aber das war erst viel später.


*


Als die beiden den Supermarkt verließen, hatte es draußen, ganz entgegen der Wettervorhersage, wie aus Eimern angefangen zu gießen, und der Wind peitschte den beiden das Wasser in unregelmäßigen Böen ins Gesicht. Bjorn fluchte und zog seine Lederjacke am Kragen zusammen.

„Ich hoffe, du schaffst es nachher“, murmelte Marcus zum Abschied.

Wir schaffen es nicht!“

Bjorn drehte leicht das Gesicht zur Seite, als die Gischt donnernd über die Reling fegte.

Hast du etwa Angst?!“ Die Worte kamen aus Björns Mund, sie übertönten den Sturm, doch sie klangen rau … befremdlich … älter.

„Wovor? Dass die anderen den Gig versauen, wenn du nicht zur Probe kommst, oder dass die Einkäufe unter deiner Aufsicht ersaufen?“ Marcus schaute den Gitarristen verdutzt an. Bjorn stand breitbeinig da und verlagerte immer wieder sein Gewicht von dem einen aufs andere Bein und federte in den Knien nach. „Was machst du denn da, zum Teufel? Biste wieder abgedriftet?“

Bjorn antwortete nicht, sondern starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die gegenüberliegende Straßenseite.

Marcus klopfte ihm auf die Schulter. „Hey!“

Die Klippen kamen immer näher, und das Drachenschiff unter seinen Füßen wurde gefährlich hin und her geworfen. Bjorn hörte sich selber lachen, als verspotte er die Gewalten der See, als plötzlich eine weitere Welle gegen den Bug schlug und ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte.

Bjorn blinzelte und blickte sich, sichtlich verwirrt, nach allen Seiten um. „Was zum …“

„Wieder da?“ Marcus grinste ihn an. „Wehe, da wird kein genialer Songtext draus.“

Bjorn schüttelte den Kopf. Doch das galt nicht den Worten seines Freundes, sondern er versuchte vielmehr, das Dröhnen der Fluten aus seinem Kopf zu vertreiben.

„Mann“, murmelte er, „Das war heftig. Ich muss nach Hause und das aufschreiben.“


*


Bjorns kleines Ein-Zimmer-Apartment war auf dem besten Weg zu einer Messi-Wohnung. Nicht, dass er zu faul war Ordnung zu schaffen oder tatsächlich nicht in der Lage, irgendetwas wegzuwerfen. Es lag wohl eher daran, dass er mit dem Kopf nur selten wirklich anwesend war, wenn er sich zu Hause aufhielt. Ständig kreisten seine Gedanken um die alten nordischen Völker, die vor Jahrhunderten die raue See befahren hatten. Es hatte mit dem Einsetzen seiner Pubertät begonnen. Die Träume suchten ihn anfangs noch des Nächtens heim und verschwammen wenige Sekunden nach dem Erwachen, so wie es wohlerzogene Schlafbilder nun einmal zu tun pflegten. Doch es dauerte nicht lange, bis sie ihn noch Stunden danach verfolgten. Und nur wenige Monate, bis sie ihn sogar tagsüber einfach mit sich rissen. Weit weg, in eine andere Zeit, in der er Eiszapfen an seinem Bart fühlte und der Wind wie Nadelstiche in seine Haut eindrang. Bjorn fing an Gedichte über seine Tagträume zu schreiben, irgendwann zwangen sich seinen Versen Melodien auf, und schließlich entdeckte er seine Fertigkeiten an der Gitarre. Unterricht hatte er keinen. In einem Buch mit den typischen Lagerfeuerliedern waren auf den letzten Seiten die Grundgriffe aufgezeigt und obwohl er diese beinahe umgehend beherrschte machte ihm anfangs seine rechte Hand Probleme, die sich beim Anschlag der Saiten bewegte, als würde sie einen Geigenbogen führen.


*


Während Bjorn seine Einkäufe verstaute und die Sachen für seinen Vater auf dem Küchentisch aufstapelte, war er in Gedanken bereits wieder in weiter Ferne, als er von der Türklingel wieder ins Hier und Jetzt zurückgerissen wurde.

Unwillig riss er den Hörer von der Sprechanlage.

„Wer stört?“

„Ich bin es“, hörte er die etwas schrille Stimme von Mrs. Jones, von der Jugendfürsorge, die ihn in den letzten Jahren begleitet hatte.

„Sie werde ich wohl nie los“, blaffte er frech und drückte auf den Knopf. Ein leises Surren und das darauffolgende laute Knarzen, als die Haustür, drei Stockwerke unter ihm aus dem maroden Rahmen nach innen gedrückt wurde, verriet ihm, dass sie es diesmal auf Anhieb geschafft hatte, ins Innere zu gelangen. Bjorn öffnete die Wohnungstür und beeilte sich, zumindest einen Teil des Mülls unter der Spüle zu verbergen.

Als sie oben ankam, klopfte sie zunächst höflich gegen den Türrahmen, bevor sie mit einem angewiderten Gesichtsausdruck eintrat.

„Wenn Sie wollen, dass hier aufgeräumt ist, sollten Sie sich vielleicht vorher ankündigen“, murmelte Bjorn, ohne sich umzudrehen. Die Begrüßung war in den letzten Jahren zu einer Art Ritual zwischen ihm und seiner Betreuerin geworden, doch als er sich endlich zu ihr umdrehte, erschrak er. Unter ihrer Solariumbräune schimmerte krankhafte Blässe hervor, und verlieh ihr den merkwürdigen Teint aschebedeckter Holzscheite. Den spröden aufgeblähten Mund hatte sie mit rotem Lippenstift weiträumig übermalt, so dass man sich fragte, ob sie heute Morgen im Bad auf einem wackligen Hocker gestanden hatte. Einer der Striche ging weit über ihren Mundwinkel hinaus. Ihr Augen-Makeup war auch nicht viel gekonnter gestaltet und vollendeten das Bild eines betrunkenen Zirkusclowns.

„Das wäre wohl nicht im Sinne der Sache, oder?“, fragte sie mit einer Stimme, die wie die einer alten Krähe in einer rostigen Gießkanne klang.

„Wenn Sie Drogen suchen, die sind im Kühlschrank.“ Bjorn holte sich eine Flasche Bier heraus und winkte ihr damit zu. „Auch eins?“

Sie schüttelte ablehnend mit dem Kopf. „Nicht um diese Uhrzeit.“ Mrs. Jones schwankte leicht. Doch trotz des kränklichen Zustandes schienen ihre Augen hellwach. Mit bohrendem Blick beobachtete sie Bjorn dabei, wie er die Flasche ansetzte.

„Wie viel trinkst du zur Zeit?“, krächzte sie, während ihr der Speichel aus den Mundwinkeln rann.

„Wenn Sie da sind … nicht genug“, bemerkte Bjorn und versuchte krampfhaft, seine Augen von ihrem Gesicht loszureißen. Er war gefangen, von jener Abscheulichkeit, die man gezwungen ist, anzustarren, obwohl alles in einem aufschreit, dass man wegsehen sollte.

„Das ist nicht lustig. Der Anfang des Alkoholismus ist die Regelmäßigkeit, Bjorn, und ich habe dich schon lange nicht mehr mit einer Cola oder etwas anderem gesehen.“

„Es ist reine Geschmackssache, keine Problembe-wältigung, wenn Sie das damit sagen wollen, Mrs. Jones“, knurrte er und holte einen Karton aus dem Kleiderschrank, um die Lebensmittel für seinen Vater zu verpacken. Als er etwas dichter an ihr vorbeiging stieg ihm ein beißender, süßlicher Geruch in die Nase, der seinen Magen rebellieren ließ.

“Haben Sie ein neues Parfüm?“, fragte er und versuchte möglichst beiläufig zu klingen.

“Warum?“

“Nur so“, murmelte er und begann, die Einkäufe sorgsam in die Kiste zu stellen. „Ehrlich gesagt, Sie sehen heute ziemlich scheiße aus. Ist nicht persönlich gemeint.“

Mrs. Jones sah ihm eine Weile beim Packen zu, ohne auf seine Bemerkung zu reagieren.

„Wie geht es ihm?“, versuchte sie schließlich wieder das Gespräch aufzunehmen.

„Wie immer.“

„Bjorn“, sie trat etwas näher heran. Der Geruch verstärkte sich wieder, so dass er sich sein Handgelenk unter die Nase halten musste, um nicht einem Brechreiz zu erliegen.

„Ich wollte noch einmal mit dir über deine Zukunft reden“, sagte sie, leckte sich langsam über die Lippen und hinterließ weißen aufgeschäumten Speichel an ihrer Oberlippe.

Er verdrehte genervt die Augen und wandte sich zu ihr um, doch bevor er antworten konnte, zuckte er angeekelt zusammen. Wo zuvor noch ihr sonst so blendend weißes Lächeln gewesen war, ragten bräunlichschwarze, schartige Gebilde aus einem zurückgewichenen gelblich schimmernden Zahnfleisch hervor.

„Ich muss zugeben, dass du wirklich Talent hast“, krächzte sie. Es klackerte leise, als einer ihrer Zähne heraus und auf den Boden fiel. „Aber weißt du, wie wenige Musiker es schaffen?“

Fuck! Die verwest ja! Bjorn wich vor ihr zur Küchentheke zurück. „Ganz ehrlich, Mrs. Jones, Sie sollten vielleicht einen Arzt aufsuchen“, flüsterte er heiser.

Mit langsam schlurfenden Schritten folgte sie ihm.

„Es ist nie falsch, noch einen Ausweichplan zu haben, Bjorn.“ Das Krächzen ihrer Stimme klang immer dumpfer, als ob sie durch eine Pappröhre sprechen würde. „Vor allem in der heutigen Zeit. Es ist nicht mehr so leicht, wie früher. Aber das weißt du ja.“

“Wenn Sie das sagen“, murmelte er und durchsuchte hastig, hinter seinem Rücken, den Inhalt der Spüle nach seinem Küchenmesser ab.

“Sie werden dich sowieso kriegen, und dann wird nichts mehr aus dem Traum vom Rockstar.“

Bjorn erstarrte in seiner Bewegung. Aus ihrer triefenden Nase krochen Maden hervor, wanden sich haltsuchend um die Flügel und fielen zu Boden. Mit einem schlürfenden Geräusch zog sie den Schleim wieder nach oben, würgte und spie Rotz und Maden wieder aus.

“Oder glaubst du tatsächlich, dass sie dich gehen lassen?“ Sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Er starrte auf ihre Fingernägel. Als hätte sie sich ausgegraben, dachte er. Endlich fand er das Messer und griff zu.

“Aber keine Angst“, knarzte sie. „Ich werde dir helfen, dass du für immer musizieren kannst. Du darfst einfach nur nicht weitergehen, wenn du drüben bist.“ Plötzlich warf sie sich mit voller Wucht gegen ihn und packte ihn mit unmenschlicher Kraft am Hals. Bjorns Hand wurde von seinem eigenen Körper in der Spüle eingeklemmt, während ihm die immer dürrer werdenden Finger seiner Jugendberaterin die Blutzufuhr zum Gehirn abdrückte. Er hatte das Gefühl, dass ein ganzer Orkan durch seine Ohren brauste, als sich durch den Rückstau ein unerträglicher Druck aufbaute.

“Es ist gleich vorbei“, gluckste sie vergnügt, während weitere Zähne aus ihrem Mund fielen. „Aber dafür kannst du dort Gitarre spielen … für alle Ewigkeit Saiten zupfen …“

Bjorn zog sein rechtes Knie ruckartig nach oben und stemmte sie etwas von sich weg, während er seinen Körper geschickt zur Seite drehte. Vor seinen Augen flackerten zahllose Lichter. Noch immer drückte sie ihm die Luft ab, doch seine Hand war frei. Der Druck in seinem Kopf wurde immer stärker und er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Seine Wohnung verschwand in einem immer dichter werdenden Nebel. Er stach zu. Die Klinge drang tief in ihre Bauchdecke ein. Das zusehends verwesende Ding, das als seine Jugendberaterin aufgetreten war, kreischte auf und ließ von ihm ab. Doch noch bevor es sich von ihm zurückziehen konnte, riss er die Klinge zur Seite durch. Ein zähflüssiger dunkelroter Brei aus verwesenden Gedärmen und Maden schwappte aus der klaffenden Wunde. Bittersüßer Gestank breitete sich aus, während Mrs. Jones vornüber kippte und Bjorn mit sich zu Boden riss.


Tosende Gischt peitschte gegen den Bug des Drachenbootes. Wind und Wellen jagten über die Männer hinweg, zerrten an ihnen und versuchten, sie auf dem schwankenden Deck zu Fall zu bringen. Mit unbewegten Gesichtern standen sie da. In ihren Bärten gefror das Wasser zu Eis.

Ornolfr! Runter!“, brüllte auf einmal eine tiefe Stimme. Bjorn fuhr blitzschnell herum, doch es war zu spät. Die Rah hatte sich losgerissen, donnerte mit voller Wucht gegen sein Brustbein und schleuderte ihn quer übers Deck …


„Na? Wieder da?“ Die Stimme über ihm hatte vom vielen Whiskygenuss einen rauchigen Klang und war ihm sehr vertraut.

“Arthur“, stellte er verwirrt fest. Das Licht der Küchenlampe über ihm blendete ihn und er musste die Augen zukneifen, um einigermaßen etwas zu erkennen.

“Ich dachte schon, ich muss den Leichenwagen bestellen“, grinste der gut vierzigjährige Rocker und reichte ihm die Hand.

„Wo ist sie hin?“ Bjorn sah sich verwirrt um. Nichts deutete augenscheinlich darauf hin, dass Mrs. Jones wirklich in seiner Wohnung gewesen war. Er musterte den Boden, konnte jedoch weder Blut noch Maden oder Zähne entdecken. Er war sich nicht ganz sicher, doch er glaubte, noch immer etwas von dem Verwesungsgeruch wahrzunehmen.

“Wer?“

“Mrs. Jones“, murmelte Bjorn. “Sie hat ...”, vor seinem inneren Auge tauchten wieder die Bilder ihres Zerfalls auf. Er schüttelte sie ab und versuchte auf die Beine zu kommen. „… mich angegriffen“, beendete er seinen Satz und hielt sich an Arthurs Schulter fest, um nicht wieder zu stürzen.

“Also … hier ist niemand“, erklärte Arthur. „Als ich hier ankam stand die Tür offen und du lagst auf dem Boden. Sah so aus, als hättest du dir die Birne an der Schranktür angehauen.“

Bjorn tastete mit der freien Hand seinen Kopf ab. Eine riesige Beule wölbte sich aus seinem Hinterkopf. Schranktür …?

„Was machst du eigentlich hier?“, fragte er schließlich verwundert.

“Marcus machte sich Sorgen, weil du die Probe verpasst hast. Dachte, ich seh mal nach dem Rechten.“

„Probe …?“, wiederholte Bjorn und ihm wurde schlagartig bewusst, dass er wohl mehrere Stunden so dagelegen haben musste.

Es war das erste Mal, dass Arthur ihn zu Hause aufsuchte. Obgleich Bjorn schon des Öfteren daran gedacht hatte, ihn einzuladen, hatte er es immer wieder vor sich hergeschoben … auf einen Zeitpunkt, wenn er die Wohnung etwas in Ordnung gebracht hätte. Aber dieser Tag war nie gekommen. Tatsächlich war der Betreiber des Great Puppy der Einzige, vor dem er sich deswegen schämte.

„Sorry, wegen der Unordnung“, murmelte er etwas verlegen, doch Arthur winkte gönnerhaft ab.

“Meine erste eigene Bude sah genauso aus. Ich muss jetzt leider wieder los. Geht’s soweit wieder oder soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“

„Ich komm klar. Aber ist dir wirklich nichts aufgefallen?“

“Nein“, bekräftigte Arthur erneut, klopfte Bjorn noch mal zum Abschied auf die Schulter und ließ den Jungen allein.

Nachdenklich blickte Bjorn ihm nach, bevor er prüfend an sich hinuntersah. Er erinnerte sich noch genau, wie sie sich auf ihn gestürzt hatte. Sein schwarzes T-Shirt war von einem feinen aschgrauen Staub bedeckt, auf den er sich keinen Reim machen konnte. Noch einmal suchte er den Boden nach Überresten ab. Ergebnislos. „Unmöglich, dass das ein Tagtraum war“, sagte er zu sich selbst. Aber je länger er wieder bei Besinnung war, desto irrealer kam ihm der Angriff vor. Immerhin war sie vor seinen Augen wortwörtlich verwest! Er erinnerte sich an die Maden und schüttelte angeekelt den Kopf. Was für’n Trip!, dachte er, während er vor den Spiegel trat und sich selbst betrachtete. „Du hast ganz schöne Hallus“, warf Bjorn seinem Spiegelbild vor und erstarrte, als er die tiefblauen Würgemale an seinem Hals entdeckte.


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