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Ein idealer Neuanfang

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London, 03. August

Das Erdgeschoss war nahezu verstopft mit Umzugskartons, und kreuz und quer herumstehenden Möbeln, denen noch kein Platz zugewiesen worden war. Shornee drückte sich zwischen dem Chaos hindurch, öffnete einen Karton nach dem anderen, während sie kurz den Inhalt inspizierte, hob die einen vom Stapel, nur um sie auf einen anderen umzuschichten und schlug sich schließlich mit den flachen Händen stöhnend gegen die Stirn.

„Mum!“, ihre Stimme klang nahezu verzweifelt.

Ann warf einen Blick aus der Küchentür. „Ja?“

„Ich hatte doch gesagt, wir müssen die Kartons beschriften“, wiederholte Shornee nun schon zum hundertsten Male.

„Was suchst du denn?“

„Mein Duschzeug?“

Ann machte eine halbkreisförmige Bewegung mit der Hand.

„In irgendeinem der Kartons.“

Shornee ließ sich mit dem Rücken an der Wand auf den Hintern rutschen.

„Was ist?“, fragte ihre Mutter fröhlich.

Die Heranwachsende blies sich trotzig eine Strähne aus dem Gesicht. „Nichts, Mum. Gar nichts. Ich streike nur.“

Ann schmunzelte. „Sollen wir uns eine Pizza bestellen?“

Shornee nickte.

„Es wird schon alles wieder auftauchen, Engelchen“, lächelte Ann beruhigend. „Aber wenn du es eilig hast, kann ich ja nachher noch kurz in den Supermarkt und Neues kaufen.“

Shornee nickte wieder.

„Wenn wir erst einmal etwas im Magen haben, sieht alles schon ganz anders aus.“

„Du meinst, es gibt hier einen Pizzaservice, der uns die Kartons sortiert und auspackt?“

„Schön wär‘s“, lachte Ann und verschwand wieder in der Küche.

„Ach so“, rief sie in den Flur hinaus, „was mir gerade einfällt: Ich habe gleich morgen früh noch einen Termin mit Mr. Bernstein von der Buchhandlung, von der ich dir erzählt habe.“

„Du machst sicher einen enormen Eindruck, wenn du da stinkend und in zerknitterten Klamotten auftauchst.“ Shornee stand wieder auf und stemmte sich ächzend gegen den Garderobenschrank, der sich beharrlich weigerte seinen Platz zu verlassen.

„Ich hatte gedacht, du freust dich für mich.“

„Tu ich ja auch“, stöhnte Shornee, während sie noch immer gegen das Mobiliar kämpfte. „Aber ohne Duschgel und Bügeleisen …“

„Ach ja“, Ann kam wieder in den Türrahmen zurück. „Könntest du eventuell nach dem Bügeleisen suchen, wenn du Zeit hast?“

„Klar. Ich werde mit meinem magischen Blick einfach durch alles hindurchsehen und es dann aus dem Chaos schweben lassen.“

„Ja, mach das“, Ann lächelte ihre entnervte Tochter dankbar an und verschwand wieder in der Küche.

„Wieso hast du den Möbelpackern eigentlich nicht gleich gesagt, wo sie das Zeug hinstellen sollen?“

„Weil ich mir noch nicht sicher bin, wo was hin soll. Wir wollen es doch richtig schön haben.“

Shornee ließ den störrischen Garderobenschrank los und marschierte schnaubend in die Küche.

„Und wie, um alles in der Welt, soll ich dann die Kartons auspacken? Soll ich alles auf dem Boden ausleeren?“

Ann blickte ihre Tochter verständnislos an. „Räum es doch in die Schränke.“

„Ja, aber …“

„Wenn du nur motzt, werden wir nie fertig.“

Shornee verdrehte die Augen, schob ihren langen Zopf wieder auf den Rücken zurück und machte sich an die Arbeit. Sie versuchte gar nicht erst, ihrer Mutter zu erklären, dass sie alles wieder aus den Schränken räumen mussten, um diese zu verrücken. Offensichtlich wurde sie durch ihren nahezu unerträglichen Optimismus am logischen Denken gehindert.


*


Als die beiden am nächsten Morgen das Haus verließen, regnete es noch immer in Strömen. Ann und Shornee pressten sich zusammen unter den alten Regenschirm, bei dem die Hälfte des blauen Stoffes mangels stabiler Streben durchhing. Bis sie endlich die U-Bahn erreichten, war Shornee vollkommen durchnässt.

„Du hättest die andere Seite nehmen sollen, Engelchen“, murmelte Ann.

„Willst du den Job oder soll ich mich da vorstellen“, maulte ihre Tochter zurück und wischte sich die Regentropfen aus den Augen.

„Wenn wir wieder zu Hause sind, gehst du gleich in die Wanne. Sonst bist du morgen erkältet.“

Shornee nickte und wies mit der Hand auf die ankommende Bahn, die sie in die Stadtmitte bringen sollte.

Die beiden hätten wahrscheinlich kaum eine andere Möglichkeit gehabt, als einzusteigen. Unnachgiebig wurden sie von dem dichten Gedränge mitgezerrt, als sich mit einem zischenden Geräusch die Türen öffneten und den Einstieg freigaben. Shornee fühlte sich hin und her geschoben. Irgendwo hörte sie ihre Mutter rufen, doch sie verstand … in den Massen, die unter hasserfüllten Rufen die Hauptstraße hinuntergetrieben wurden, kein Wort. Der Mann neben ihr stolperte und stöhnte vor Schmerzen auf, als die Nachkommenden über ihn hinwegstolperten. Auch sie wurde einfach mit dem Strom mitgetragen. Dennoch versuchte sie, noch einmal zurück zu blicken, als … sich die Türen der U-Bahn schlossen. Die Bahn setzte sich mit einem lauten Hupen in Bewegung. Shornee starrte den Mann im grauen Anzug neben sich verwirrt an. Sie war sich sicher, dass er gerade noch eine karierte Tweedjacke getragen hatte.

„Shornee?!“ Ihre Mutter stand gut vier Meter hinter ihr im Gedränge. “Alles in Ordnung?“

Sie nickte und versuchte ihrer Mutter ein Lächeln zu schenken, während sich ihre Fingernägel in ihre Handfläche bohrten. Der Schmerz half ihr, sich von unzähligen fremden Menschen um sich herum abzulenken.

„Wir steigen am Piccadilly Circus aus!”, rief Ann ihr erneut zu, während Shornee sich darauf konzentrierte, die Stimmen und Bilder in ihrem Kopf nieder zu ringen.


*


Die Bücherei lag etwas abseits vom Piccadilly Circus. Ein hohes, doch recht schmales beigefarbenes Gebäude, welches trotz der unscheinbaren Fassade gut besucht war. Die Verkaufsräume waren auf drei Etagen verteilt, und für die Kundschaft übersichtlich sortiert. Angenehme gemütlich wirkende Dekorationen, Sitzgelegenheiten und lächelnde Angestellte machten die Bücherei zu einer Ruheoase inmitten der Großstadthektik von London.

Ann und Shornee fuhren mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock.

„Sieht doch recht gut aus“, lächelte Shornee ihre Mutter zuversichtlich an.

Diese nickte. Die Aufregung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Und Mr. Bernstein hat am Telefon auch einen wirklich sehr netten Eindruck gemacht.“ Sie blickte ihre Tochter nervös an. „Drück mir bitte beide Daumen.“

„Und die großen Zehen“, bekräftigte Shornee. „Jetzt beruhig dich doch mal, Mum. Im Prinzip hat er dir die Stelle doch schon zugesprochen, als wir noch in Glasgow waren.“ Die Anwesenheit ihrer Mutter wirkte auf die schüchterne Heranwachsende wahre Wunder. Es war, als würde durch Anns Furcht Shornees Unsicherheit einem abnorm starken Beschützerinstinkt weichen.

Ann atmete tief durch. „Du hast Recht.“

„Und er hat uns das kleine Häuschen vermittelt. Das hätte er wohl kaum gemacht, wenn er dich nicht haben wollte. Es gibt also keinen Grund, nervös zu sein.“

Ann nickte wieder.

Shornee musste auf einmal kichern.

„Was ist so lustig?“ Ann warf ihr einen kurzen Blick zu.

„Stell dir doch einfach vor, du hättest ein Blind Date mit einer Internetbekanntschaft“, lachte sie.

Ann sah ihre Tochter verständnislos an. „Und du glaubst, dass mich das weniger nervös machen würde?“

Shornee hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut. Ich bin ja schon ruhig.“

„Die Frechheiten hast du bestimmt von deinem Vater.“

Sie verließen den Fahrstuhl und gingen den schmalen Gang hinunter, der durch eine Bogenöffnung ins Vorzimmer des Büros führte.

„Mrs. Smith, nehme ich an“, wurde sie von der dort sitzenden Dame lächelnd begrüßt. „Ich bin Elizabeth Milton, die Sekretärin von Mr. Bernstein.“

„Guten Morgen“, erwiderte Ann mit einem etwas scheuen Lächeln und deutete auf Shornee. „Das ist meine Tochter Shornee. Meine seelische Unterstützung.“

Shornee gab ihr zögernd die Hand.

„Du kannst hier solange auf deine Mutter warten“, erklärte sie, und wies mit einem Kopfnicken auf die Couch, die für wartende Besucher an der Wand aufgestellt war. Sie wandte sich wieder Ann zu. „Folgen Sie mir, bitte. Mr. Bernstein erwartet Sie bereits.“

Shornee beobachtete, wie die Sekretärin an die Tür an der Rückwand des Raumes klopfte, öffnete und Ann in dem Raum dahinter verschwand. Etwas hilflos blickte sie sich um.

„Du kannst dich ruhig setzen“, forderte Mrs. Milton sie erneut auf.

Shornee nickte und zog sich etwas unsicher auf die Couch zurück.

„Möchtest du etwas zu trinken?“, wollte die Sekretärin von ihr wissen, bekam jedoch keine Reaktion. Die Achtzehnjährige saß stocksteif in die Ecke gedrückt und schien sich noch schmaler machen zu wollen, als sie ohnehin schon war.


*


Ernest Bernstein war ein schlanker, hochgewachsener Mann Mitte Fünfzig und entsprach mit seinen erdfarbenen Cordhosen und dem Rollkragenpullover irgendwie dem typischen Bild eines altmodischen Bibliothekars.

„Mrs. Smith. Schön, dass Sie da sind. Wie geht es ihnen?“, begrüßte er sich beinahe überschwänglich.

Ann lächelte. Ihr Eindruck am Telefon hatte sie offensichtlich nicht getäuscht. „Alles gut verlaufen“, lächelte sie.

Er wies auf eine kleine gemütliche Polsterecke. „Setzen wir uns. Möchten Sie einen heißen Tee, Kaffee oder etwas anderes?“

„Ein Tee wäre schön.“

„Ich komme gleich wieder“, Ernest wirkte etwas verlegen, während er zur Tür ging und wies auf ein kleines Gerät auf seinem Schreibtisch. „Die Sprechanlage ist kaputt.“

Ann setzte sich und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das Büro vermittelte einem dasselbe wohlige Gefühl, wie die Verkaufsräume unten. Einige Pflanzen und Familienbilder, die an den Wänden hingen, gaben diesem Zimmer noch eine liebevolle persönliche Note. Ihr Blick blieb an dem etwas pausbäckigen Gesicht eines blondgelockten Jungen hängen, der auf einigen der gerahmten Fotographien abgelichtet war. Eine dicke Hornbrille ließ seine Augen beinahe glubschig erscheinen.

Mr. Bernstein kehrte mit zwei Tassen Tee zurück und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel.

„So“, begann er. „Jetzt sind wir versorgt.“

„Vielen Dank“, lächelte Ann. „Ich muss sagen, ich bin ziemlich erleichtert.“

„Wieso?“

„Dass Sie genauso nett wie am Telefon sind“, Ann biss sich verlegen auf die Unterlippe. Der Satz war ihr einfach so rausgerutscht. Dass sie gleich beim ersten Kennenlernen mit Komplimenten um sich warf, musste auf ihn wirken, als wolle sie sich einschleimen.

Mr. Bernstein schien peinlich berührt und wechselte das Thema.

„Wie war der Umzug? Ist alles gut gegangen?“

„Oh, etwas chaotisch, und vieles haben wir noch nicht wiedergefunden, aber das kriegen wir in den Griff.“

Er wies mit dem Zeigefinger über die Schulter zur Tür. „Ihre Tochter?“

Sie nickte. „Sie müssen verzeihen. Sie ist zwar ein aufgewecktes Mädchen, aber wenn sie sich mit Fremden konfrontiert sieht, ist sie … naja, etwas scheu.“

Mr. Bernstein nickte verständnisvoll. „Das muss in der Schule ziemlich schwer für sie gewesen sein.“

„Zu schwer. Sie ist seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Es gab da einige schlimme Dinge mit ihrem Kunstturntrainer. Das ist schon Jahre her, aber wir haben noch immer etwas daran zu knabbern.“

Er nickte. „Ich glaube, ich erinnere mich. Die Geschichte ging auch durch die Nachrichten. Wurde er nicht freigesprochen?“

Ann nickte bedrückt. „Ich hege die Hoffnung, dass der Ortswechsel ihr gut genug tut, dass sie vielleicht endlich ihren Schulabschluss macht.“ Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. Erst der Patzer mit dem Kompliment und jetzt schüttete sie ihm auch noch ihr Herz aus. Das war überhaupt nicht ihre Art. Vor allem der Missbrauchsfall ging ihren Arbeitgeber überhaupt nichts an! Doch Mr. Bernstein hatte eine so liebenswerte und väterliche Art an sich, dass sie die Last der vergangenen Jahre einfach nicht zurückhalten konnte.

„Und das können Sie ja jetzt auch“, lächelte Mr. Bernstein beruhigend, „und für Ihre Tochter hätte ich vielleicht auch eine Lösung.“

Ann blickte ihn verwirrt an. „Wie meinen Sie das?“

„Nun, mein Neffe Albert wird in einigen Tagen in der St. Georg Secondary School den Unterricht besuchen. Es gibt dort eine spezielle Klasse für junge Erwachsene, die vorher keine Möglichkeit hatten ihren Abschluss zu machen. Ich kenne die Klassenlehrerin sehr gut, und sie hat einigen Einfluss bei dem Direktor der Schule. Wenn Shornee möchte, könnte ich mit ihr reden.“

Ann fühlte sich völlig überfahren. „Aber …“

„Oder wollen Sie nicht?“ Mr. Bernstein schmunzelte.

„Nein … Doch, ja. Ich meine“, sie suchte einen kurzen Augenblick nach den richtigen Worten. „Ich verstehe das nicht.“

„Was?“

„Ich suche schon seit über fünf Jahren nach Arbeit und dann stellen Sie mich nur aufgrund einer Empfehlung und eines kurzen Telefonats ein. Sie vermitteln uns dieses hübsche kleine Häuschen und jetzt haben sie auch noch einen Schulplatz für Shornee …“

Er lächelte. „Mrs. Smith …“

„Verstehen Sie mich nicht falsch …“

„Mrs. Smith“, unterbrach Mr. Bernstein erneut. „Ich habe keine bösen Absichten.“

Sie schwieg.

„Mike hat mir einfach nur viel von ihnen erzählt, und wir fanden beide, dass Sie ein bisschen Glück verdient haben.“

Anns Gesicht verfinsterte sich. „Mr. Bernstein, sie sind ein wirklich netter Mann, aber wir …“

Er winkte beschwichtigend ab. „Aber Sie brauchen keine Almosen“, beendete er ihren Satz. „Und ich gebe auch keine. Immerhin bekommen Sie Ihr Gehalt hier nicht umsonst, die Miete für das Häuschen müssen sie ebenfalls selber tragen, und was die Schule angeht … Shornee kriegt ihren Abschluss auch nicht einfach so geschenkt. Mein Beitrag dazu besteht nur aus ein paar Telefonaten, die mich noch nicht einmal nennenswerte Zeit kosten.“

Ann schwieg beschämt.

„Sehen Sie es doch einmal so: Sie und Ihre Tochter sind hier völlig fremd. Alles was ich Ihnen gerade gebe, ist eine Starthilfe. Den Rest müssen sie schon selbst machen.“

Ann nickte betreten. „Bitte entschuldigen sie meinen Ausbruch.“

„Es gibt nichts zu entschuldigen“, lächelte Mr. Bernstein. „Also wenn Sie die Stelle immer noch haben wollen, könnten wir uns jetzt über die Konditionen unterhalten.“


*


Es war ein merkwürdiges, leicht prickelndes Gefühl, das Shornee dazu veranlasste, endlich den Kopf zu heben. Sie konnte es nicht genau in Worte fassen. Es war genauso anziehend wie furchteinflößend, und dass auch Mrs. Milton erwartungsvoll aufsah, erschreckte sie etwas.

Unter dem Bogengang tauchte die imposante Gestalt eines dunkelhaarigen, athletisch gebauten Mannes im schwarzen Maßanzug auf.

Shornee war wie gebannt. Sie hatte das Gefühl, dass bei jedem seiner Schritte die Luft vibrierte.

„Guten Morgen, Herr von Falkenberg“, krächzte die Sekretärin heiser.

„Ist er da?“ Seine Stimme hatte einen tiefen angenehm warmen Klang.

„Oh … er ist …“

Er brachte sie mit einer kleinen Geste zum Schweigen und ging weiter auf die Tür zu.

„Er hat ein Bewerbungsgespräch“, rief sie ihm hastig hinterher.

Herr von Falkenberg hielt einen kurzen Augenblick inne, bevor er nach der Türklinke griff. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, wies er Mrs. Milton an. „Und für die hübsche nasse Dame einen heißen Tee.“ Er schmunzelte über die Schulter hinweg in Shornees Richtung, die wie erstarrt dasaß und krampfhaft die nicht vorhandenen Fliegen an der gegenüberliegenden Wand zählte, und betrat das Büro.

„… und jeder der Mitarbeiter arbeitet zusätzlich zwei Samstage im Monat. Wenn Sie ihre Ko…“, Mr. Bernstein brach ab, als er hinter sich das leise Klacken der Tür hörte.

„Guten Morgen, Nathaniel“, begrüßte er von Falkenberg, ohne sich umzudrehen. „Wir sind hier gleich fertig.“

„Ich habe Zeit“, erwiderte dieser und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand neben der Tür.

Ernest richtete seine Worte wieder an Ann. „Nun, wie gesagt, wenn Sie … Ann? Hören Sie mir noch zu?“

Ann zuckte leicht zusammen und riss sich mit Gewalt von den bernsteinfarbenen Augen des ungebetenen Gastes los. „Oh, verzeihen Sie, Mr. Bernstein, ich war etwas aus dem Takt geraten.“

„Ich wollte nur noch sagen, dass Sie die Samstage auch mit Kollegen tauschen können. Das überlasse ich immer den Angestellten.“

Sie nickte nervös und konnte sich nur schwer beherrschen, nicht immer wieder zu dem Mann zu schielen, der langsam zum Fenster ging und gedankenversunken hinausblickte.

Mr. Bernstein atmete tief durch, stand etwas übereilt auf, nahm den Arbeitsvertrag von seinem Schreibtisch und setzte seine Unterschrift darunter.

„Nehmen Sie ihn mit nach Hause und lesen Sie ihn sich in aller Ruhe durch. Rufen Sie mich am besten morgen nochmal an. Bis dahin habe ich auch mit Mrs. Thorn über den Schulplatz gesprochen.“ Er reichte ihr den Vertrag und gab ihr die Hand.

„Ich hoffe, Sie entschuldigen diesen abrupten Abschied.“

Ann nickte verwirrt. „Natürlich.“

„Wir hören dann morgen voneinander.“ Er lächelte ihr noch einmal zuversichtlich zu und schob sie sanft hinaus.


Ernest verharrte noch einen Augenblick mit der Türklinke in der Hand und verzog unwillig das Gesicht.

„Du hast kein besonders gutes Timing, Nathaniel“, knirschte er, als gerade in diesem Augenblick die Tür erneut geöffnet wurde und mit einem dumpfen Geräusch gegen seine Stirn stieß.

„Ihr Mineralwasser, Herr von Falkenberg“, lächelte Mrs. Milton scheu, bevor sie ihren Chef bemerkte, der sich mit verkniffenem Gesicht die schmerzende Stelle rieb. „Wie ich sehe, ist das Timing deiner Angestellten beispielhafter“, sagte Nathaniel und nahm sein Glas entgegen.

Sie lächelte verlegen, blickte wieder kurz zu ihrem Chef, stammelte eine Entschuldigung und ließ die beiden Männer allein.

„Was ist denn so dringend, dass es nicht noch zehn Minuten hätte warten können?“, fragte Ernest sichtlich genervt.

„Die Cailbrook Corporation ist auf den Spiegel von Rub al Chali gestoßen. Es heißt, sie hätten ihn bei Ausgrabungen in Ubar gefunden.“

Ernest winkte ab. „Es gibt keinerlei Beweise, dass der Spiegel jemals existiert hat. Die Bruderschaft ist schon öfters auf machtlose Artefakte hereingefallen, weil irgendjemand meinte, eine mysteriöse Geschichte darüber zu schreiben.“

„Du hast Recht, doch er ist es. Obwohl sie noch nicht wissen, was sie da eigentlich gefunden haben“, erwiderte Nathaniel.

Ernest ließ sich nachdenklich in seinen Bürosessel sinken und fing an, seine Pfeife zu stopfen.

„Hältst du weiter ein Auge drauf?“

Anstatt zu antworten, wechselte von Falkenberg das Thema. „Der Dormitor, auf den du gewartet hast, ist also eingetroffen“, bemerkte er mit einem Kopfnicken zur Tür.

Ernest nickte. „Seit wann interessierst du dich dafür?“

„Sag Vivien, dass noch einer dazu kommt.“

Ernest blickte ihn überrascht an.

„Er wird in ein paar Tagen hier sein“, erklärte Nathaniel.

Ernest sog nachdenklich den Rauch ein. „Wir sollten ein Treffen einberufen.“

„Das denke ich auch.“

„Darf ich noch erfahren, wer es ist?“

„Ich werde ihn dir vorstellen, sobald es mir möglich ist“, erwiderte von Falkenberg und wandte sich zum Gehen.

Ernest drehte seinen Sessel in Richtung Fenster und starrte nachdenklich in eine Ferne, die auch von den Mauern gegenüber nicht verdeckt werden konnte. Sanft kaute er auf dem Mundstück seiner Pfeife herum. Der Spiegel von Rub al-Chali, dachte er beunruhigt, bevor er endlich zum Telefon griff und die Nummer von Vivien Thorn wählte.


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