Читать книгу Das Innere Kind in Dir - Eva-Maria Thal - Страница 10
Will ich oder will ich nicht?
ОглавлениеDa saß ich nun, mit viel zu schnell klopfendem Herzen und feuchten Handflächen. Mein Gott! Seit wann irritiert Dich ein Siebzigjähriger? Gleichzeitig wusste ich aber, dass diese Situation neu war. So etwas hatte ich noch nie mitgemacht. Komm! Los! Sag` irgendetwas!
»Was hat eigentlich der Kassettenrekorder zu bedeuten?« Während Dr. Jung eine Kassette in den Rekorder legte und auf >Aufnahme< drückte, erklärte er: »Ich werde die Stunden, die Sie hier verbringen, aufzeichnen.« Ach, nee... »Die Kassetten bekommen Sie. Ich behalte hiervon nichts.« Hörte sich schon besser an.
»Das hat den Vorteil, dass Sie zu Hause jedes hier geführte Gespräch Wort für Wort noch einmal anhören können und damit die Stunden immer verfügbar haben. Im Laufe meiner Therapieerfahrung hat sich gezeigt, dass Patienten Worte überhören, die ich sage oder eigene Worte nicht mehr so genau wissen. Durch diese Bandaufnahme geht kein Wort, kein Lachen, kein Seufzen verloren.«
Ob das so gut ist, dachte ich. Egal, ich musste sie mir ja nicht noch mal anhören. Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte Dr. Jung:
»Ich gebe Ihnen in jeder Stunde sogenannte Hausaufgaben auf. Eine hiervon ist immer, die Kassette der letzten Stunden noch einmal zu hören. Dabei sollten Sie immer darauf achten, ob ich Sie richtig verstanden habe oder ob Sie es genauso gesagt haben, wie Sie es gemeint haben. Häufig kommt es auch vor, dass die Patienten zu der letzten Stunde noch Fragen haben. Sollte es Ihnen auch so gehen, schreiben Sie sie auf und stellen sie bitte in der nächsten Stunde.«
Er riet mir, ein Tagebuch zu führen. So würde kein auch noch so flüchtiger Gedanke verloren gehen. »Ich schreibe schon seit 20 Jahren Tagebuch.«
»Fangen Sie ein neues an. Es geht nicht darum, wen Sie hier in der Kur kennengelernt haben oder was Sie erleben. In diesem Tagebuch geht es ausschließlich darum, was Sie mit sich selbst erleben. Das ist etwas Neues und sollte auch in einem neuen Buch stehen. Sie beginnen hier etwas, das ist ganz anders als alles, was Sie vorher gemacht haben. Natürlich können Sie Ihr altes Tagebuch weiterführen...«
Worauf Sie sich verlassen können! Genau das ist mir nämlich wichtig: Wen ich hier kennenlerne und was ich hier erlebe.
»Die anderen Hausaufgaben, die ich Ihnen aufgeben werde, ergeben sich aus den jeweiligen Stunden.«
Dies seien keine Aufgaben wie in der Schule. Es gäbe nicht die perfekte Lösung. Es gäbe auch keine Zensuren.
»Jeder Patient soll versuchen, die jeweilige von mir gestellte Aufgabe zu bewältigen. Das Ergebnis der DeKiD - Therapie ist: >Ich hab` es geschafft< oder >Ich hab` es nicht geschafft<. Ich will keine Lösung der Aufgaben auf Teufel komm ´raus. Wenn die Aufgabe von Ihnen nicht bewältigt werden konnte, dann werden wir gemeinsam versuchen, herauszufinden, wo die Gründe hierfür liegen. Es können zum Beispiel Widerstände auftreten, die häufig viel wichtiger sind als die Lösung.«
Na gut. Klang ja alles ein bisschen nach Arbeit... Aber, schau`n wir mal! Neben meiner geballten Skepsis spürte ich auch gleichzeitig so etwas wie Spannung in mir aufsteigen...
Dr. Jung erläuterte, dass seine Form der Therapie kein Auseinandernehmen der Persönlichkeit des Patienten sei.
»Kein DeKiD - Patient nimmt am Ende Bruchstücke seines Selbst mit nach Hause. Das wäre ja auch schrecklich! Bei DeKiD gibt es Stufen: Stufen der Befreiung und Verselbstständigung. Bereits am Ende dieser vier Wochen werden Sie auf einer höheren Stufe der Befreiung stehen als heute. Die Erfahrung, mit sich umzugehen, kann Ihnen niemand mehr nehmen. Das haben Sie immer in sich, auch wenn Sie - nach Ohlstadt - wieder in Ihrem Alltag sind. Was Sie dann daraus machen, ist alleine Ihre Sache. Sie alleine arbeiten an Ihren Problemen.«
Es sei nicht gesagt, dass ich nach vier Wochen meine sämtlichen Probleme gelöst hätte. Es gäbe bei DeKiD kein Ende. Die absolute Befreiung zu erreichen sei eine Illusion.
»Die Stufen der Befreiung in DeKiD bedeuten, immer ein Stückchen freier und nicht mehr geplagt zu werden von irgendetwas. Wichtig ist dabei, dass Sie keine Angst haben. Es wird nichts mittendrin abgebrochen. Sie werden nicht frühzeitig nach Hause geschickt. Das wäre wirklich furchtbar und wird nicht geschehen! Sie bekommen mit DeKiD ein Instrument an die Hand. Ich helfe Ihnen, dieses Instrument zu erlernen und damit selbstständig umzugehen. Nach vier Wochen werden Sie nach Hause fahren und dieses Instrument für sich weiter nutzen können. Ich hoffe, Sie werden es auch weiterhin tun. Und, noch eins ist mir wichtig: Sie sollen wissen, dass sie jederzeit wiederkommen können.«
Er sprach dann die von mir gleichzeitig zu absolvierende Kur an. Es sei ihm wichtig, dass ich diese für Körper, Geist und Seele so wichtige Kur vollständig mitmache.
»Sie ist etwas Einmaliges. Deshalb werden die Termine für diese Therapiestunden immer außerhalb des Kurprogramms liegen. Was für Sie natürlich eine Doppelbelastung bedeutet. Es ist sehr zeitaufwendig: die Stunden hier bei mir, die Kassetten noch einmal hören, die Hausaufgaben machen, das Tagebuch schreiben... All` das bedeutet freiwilliger Verzicht auf autogenes Training und vieles mehr. Der Chefarzt weiß und versteht das. Sie werden merken, wie viel wichtiger die Arbeit mit sich selbst ist im Vergleich zu irgendeinem Vortrag über Ernährung oder Herzrhythmusstörungen.«
Okay! Der Punkt ging an ihn…
»Was Sie auch brauchen werden, ist Kraft. Ich selbst weiß, wie viel Spaß es macht, in der Gruppe zu wandern und abends bei diversen Schoppen Wein zu feiern. Sie werden schnell Menschen kennenlernen, mit denen Sie zusammen fröhlich sein können und wollen.«
Schon passiert...
»Ich hatte mal eine Patientin, die hat die Therapie abgebrochen, weil ihr die geselligen Zusammenkünfte wichtiger waren. Das sollte Ihnen nicht passieren. Sie sollten diese Treffen auf ein Minimum reduzieren, wobei Sie damit rechnen müssen, dass andere Ihren Rückzug nicht immer verstehen werden. Aber ich rate Ihnen, auch hier ganz ehrlich zu sein und den anderen den wahren Grund hierfür zu nennen.«
Tausend Gedanken liefen durch meinen Kopf... Wollte ich das? Michael ist so süß! Ich will viel mit ihm zusammen sein und das geht eben nur abends, weil er nicht in meiner Wandergruppe ist. Wie viel Schlaf brauchte ich eigentlich? Sollte ich nicht doch lieber gehen, bevor ich richtig angefangen hatte? Noch ist es nicht zu spät... Alles halbherzig zu machen, das bringt`s ja wohl auch nicht! Also? Was tun?? Gehen? Oder bleiben und versuchen, alles unter einen Hut zu bringen? Ach Shit, wäre doch gelacht, wenn ich das nicht irgendwie hinkriege! Zumindest könnte ich ja auf jeden Fall erstmal diese Stunde zu Ende mitmachen. Wenn ich schon mal hier bin....
Was hatte er gesagt? Vielleicht sollte ich lieber zuhören! Zum Glück hatte ich ja die Kassette...
»...eine Patientin erzählte, dass sie früher in so einer Kur immer ein paar Männer angemacht hätte. >Aber, seitdem ich meine Kleine bei mir habe, brauch` ich das gar nicht mehr. Da würden uns Männer nur stören<.«
Tja, gut, dass die Menschen verschieden sind....
»Wenn Sie sich hier in einen Mann verlieben, sollten Sie mit der Therapie aufhören. Dann können Sie gar nicht offen sein für Ihr Kind und für die erforderliche Arbeit mit ihm.«
Mit einem abwartenden Blick sah dieser Mann mich an. Konnte er hellsehen? Und, wenn ja, was sah er noch? Das alles machte mir eine leichte Gänsehaut.
Okay, jetzt war ich wohl dran. Womit sollte ich nur anfangen?
»Ja, ähm... also… tja…«, stotterte ich, »mir ist schon klar, was Sie meinen... Ich bin mit ganz, ganz viel Angst vor dem, was auf mich zukommt, nach Ohlstadt gefahren. Mein normalerweise zu niedriger Blutdruck wird hier täglich gemessen, weil er viel zu hoch ist. Ich weiß, dass es daran liegt, dass ich Angst habe. Ich glaube, einen höheren Blutdruck als heute Abend auf dem Weg zu Ihnen hatte ich noch nie!«
»Das ist sehr interessant. Der Blutunterdruckler läuft auf Sparflamme, als wäre er gedrosselt. Viele Depressive haben einen viel zu niedrigen Blutdruck. Sie dagegen sind engagiert. Angst zu haben bedeutet Engagement. Beides, Bluthoch- und Blutunterdruck ist nicht gut, aber Beides hat seine Gründe. Sie werden vermutlich nach einigen Stunden hier einen noch höheren Blutdruck bekommen. Machen Sie sich aber deswegen keine Sorgen. Die Wander-Kur steuert dagegen: Sie gleicht durch das Bergwandern Blutdrucke aus. Wissen Sie was? Eigentlich freue ich mich sogar ein bisschen, dass es bei Ihnen so ist.«
Wenn der wüsste, welche Gründe ich hierfür noch anführen könnte... Aber egal! Weiter geht`s! Da musste ich jetzt irgendwie durch.
»Meine Angst basiert wohl zum einen darauf, dass ich überhaupt nicht einschätzen kann, wie es mir während und nach der Therapie gehen wird. Dann die Kur... Als ich die Bilder in dem Kurprospekt sah, bin ich davon ausgegangen, dass ich hier nur mit Menschen ab 55 Jahren zusammen bin, alle ein bisschen verknöchert, alle ein bisschen wehleidig. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich da ´reinpassen sollte. Ich dachte aber auch, wenn`s wirklich so ist, habe ich wenigstens Zeit für mich und die Therapie. Vielleicht ja auch nicht schlecht. Aber, jetzt komme ich hier an und stelle fest, dass hier Leute in meinem Alter oder noch jünger sind, alle locker und gut drauf. Mit ihnen möchte ich auf jeden Fall weiterhin etwas unternehmen... Auch abends.«
So! Das war geschafft! Besser isses, wenn er von vornherein nicht zu hohe Erwartungen hat!
»Ja, ja«, lachte Dr. Jung. »Ich glaube, Sie wissen selber auch, dass es ein Weglaufen ist?«
»Mir ist klar, dass der Vortrag über Herzrhythmusstörungen für mich ein Vorwand war, um den Termin hier bei Ihnen heute zu verschieben. Nach unserem Telefongespräch war ich dann nur noch wütend und wollte gar nicht mehr kommen.«
Warum sollte ich nicht ehrlich sein? Vielleicht war es ja eh` die erste und letzte Stunde bei ihm!
»Ihre Wut habe ich schon gemerkt«, lächelte er. »Um so besser, dass Sie jetzt doch hier sind.«
»Im Laufe des Nachmittages habe ich mir irgendwann gesagt >Du hast die einmalige Chance, für Dich etwas zu tun. Wirf´ sie nicht weg<.«
»Genau!! Sie sollten Prioritäten setzen. Dass Sie heute Abend zu mir gekommen sind, zeigt, dass Sie anfangen, dies zu tun. Und das, obwohl Sie ja gar nicht wissen können, was mit Ihnen passiert. Ihnen ist nur klar, dass es Sie persönlich angeht. Kontakte mit Dritten zwar auch, aber die Selbstbestätigung, die Sie durch diese Kontakte erfahren, reicht nicht wirklich aus. Sie laufen vor sich selber weg. Freunde zu gewinnen ist etwas sehr Schönes, ist aber etwas anderes, als sich einen Liebhaber für vier Wochen zu suchen.«
Wieso kann ein Liebhaber nicht auch ein Freund sein? Ach, egal! Er kann ja nicht alles wissen. Vielleicht war das ja auch vor 50 Jahren anders?
»Aber«, fuhr er fort, »mich interessieren viel mehr die Gründe, weshalb Sie zu mir gekommen sind.«
»Konkreter Anlass ist ein Chaos, in dem ich seit Beginn des Jahres lebe. Ich bin aus der Wohnung, in der ich mit meinem Freund wohnte, halsüberkopf ausgezogen. Es war mir zu eng nach acht Jahren. Die Beziehung ist zwar noch nicht endgültig beendet, aber ich habe mich zwischendurch in einen anderen Mann verliebt. Es dauerte nur drei Wochen, dann habe ich die Sache beendet, weil ich genau das nicht wollte: eine neue Beziehung. Und, genau damit begann mein richtiges Chaos. Ich ließ mich auf einen zweiten, einen dritten Mann ein. Nichts Wichtiges. Und, dann war da ja immer noch mein Freund, den ich noch sehr gerne habe. Ich habe ihm natürlich wahnsinnig weh getan mit meinem Auszug und den Affären. Ich habe ihm ganz ehrlich erzählt, wie es in mir aussieht. Mir war klar, dass ich ihn brauche - noch immer - trotz allem. Aber, bevor ich mit ihm noch einmal von vorne anfange, will ich für mich klar haben, was da eigentlich passiert ist - mit mir. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich eine Therapie machen will: Ich schaffe es nicht alleine, dieses Chaos aufzulösen.«
Ich dachte an die ganzen vergangenen Monate und wusste ganz tief in mir, dass es Gründe für mein Verhalten gab. Nur welche?
»Ich habe viele Bücher über Selbsterfahrung und Therapien gelesen. Eigentlich habe ich immer viel über mich und mein Leben nachgedacht, viele und intensive Gespräche mit meinem Freund und mit meiner Schwester geführt. Inzwischen glaube ich, dass mein Vater ein Grund für dieses Chaos in mir ist. Er ist zu Beginn des Jahres plötzlich gestorben. Er ist tot, aber betrauert habe ich seinen Tod nie. Ich fühlte mich auf seiner Beerdigung wie auf der Beerdigung eines entfernten Bekannten. Das erste Mal geweint habe ich vor zwei Tagen hier in Ohlstadt. Ein Mann aus meiner Wandergruppe erzählte mir von seiner Tochter. Ich spürte, wie sehr es mich berührt, wenn ein Vater sich um seine Tochter sorgt, weil er sie liebt. Als ich nach der Wanderung wieder in meinem Zimmer saß und Musik hörte, kam zum ersten Mal eine Traurigkeit über den Tod meines Vaters in mir hoch. Aber, gleichzeitig war ich auch wütend über alles, was mein Vater mir angetan hat. Ich konnte zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters weinen. Vielleicht nicht, weil mein Vater nicht mehr lebt, sondern vielmehr darüber, dass er mir soviel nicht gegeben hat, was ich so sehr gebraucht hätte. Wenn ich ehrlich bin, war es wohl eher Selbstmitleid als Trauer um seinen Tod.«
Jetzt hatte ich schon wieder diesen blöden Kloß im Hals. Fang´ jetzt bloß nicht an zu heulen!
»Nach diesem Gespräch habe ich mit dem Mann nie wieder über seine Tochter geredet… Ich konnte es nicht. Privat war abends wieder Halligalli angesagt und meine Traurigkeit weg. So bin ich wohl die ganze Zeit mit dem Tod meines Vaters umgegangen. Ich habe ihn verdrängt. Selbst mit meiner Schwester konnte ich nicht darüber reden. Irgendwie war unser Vater nach seinem Tod ein Tabuthema. Das Verdrängen ging wohl auch deshalb so gut, weil er mir ja in meinem Alltag nicht wirklich fehlte. Schon Jahre vor seinem Tod bin ich vielleicht viermal jährlich zu meinen Eltern gefahren. Mein Vater selbst war entweder gar nicht da oder er schlief. Was sollte ich denn vermissen? Auch mit meiner Mutter spreche ich fast nie über meinen Vater.«
»Ach«, war alles, was Dr. Jung, der die ganze Zeit vornübergebeugt aufmerksam zugehört hatte, dazu sagte.
»Wie war denn das Verhältnis Ihres Vaters zu Ihrer Mutter?«
»Gute Frage!« Ich dachte darüber lange nach. Ja?! Wie war das denn eigentlich? »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es gar nicht so genau. Ich selber habe es als schlecht empfunden. Meine Mutter sagt nach seinem Tod, er wäre ein guter Mensch gewesen, der sie geliebt hätte. Dabei führt sie aber häufig materielle Dinge wie eine Lebensversicherung an, die er für sie abgeschlossen hat. Er hat für sie gesorgt. Sie muss keine Not leiden. Das scheint ihr vielleicht heute das Wichtigste zu sein. Trotzdem bleibe ich dabei. Ich glaube nicht, dass mein Vater meine Mutter wirklich geliebt hat. Ich habe bei diesem Menschen nie so etwas wie Liebe gespürt.«
»Waren Ihre Eltern zärtlich miteinander?«
»Nein, nie! Zumindest nicht vor meinen Augen.«
»Was war denn los mit Ihrem Vater? Wie erklären Sie sich denn sein Verhalten?«
»Seine eigene Lebensgeschichte ist hart. Weil sie so war, habe ich wohl auch schon als Kind mir und anderen immer und immer wieder sein Verhalten damit erklärt oder entschuldigt. Ich glaube, durch seine eigene Geschichte ist er so hart geworden. Vielleicht hätte er lieben können, aber er wollte nicht lieben. Vielleicht Selbstschutz? Er zeigte seine Gefühle nie. Mein Vater hatte eine große Liebe, die er auch heiratete. Sie waren glücklich miteinander. Nach vier Jahren wurde seine Frau schwanger. Als das Kind, ein Junge, geboren wurde, starb sie bei der Geburt. Kurze Zeit später starb auch das Kind. Meine Mutter wohnte in der Nachbarschaft meines Vaters. Da sie sich schon von Kind auf kannten, sind sie sich wohl in der Trauerzeit näher gekommen… Zumindest haben sie irgendwann geheiratet….«
Keine Frage! Das war schon ein harter Schicksalsschlag, seine große Liebe und sein Kind gleichzeitig zu verlieren… Das kann Mann nicht einfach so wegpacken... Trotzdem!
»Ach...«, war alles, was hierzu von meinem Gegenüber kam.
»Ich würde gerne noch wissen, was Sie von Ihrem Freund weggetrieben hat?«
Weggetrieben… War das so?
»Mein Freund ist der tollste Mensch, den ich kenne.«
»Aber«, sagte Dr. Jung, »das ist dann doch alles sonderbar!?«
»Ich weiß! Deshalb bin ich ja hier. Ich verstehe es ja selber nicht. Manchmal denke ich, ich bin verrückt. Ich glaube, meine Liebe reicht nicht aus.«
»Jetzt sind wir an einem sehr wichtigen Punkt! Wenn ich glaube, etwas passiert mit mir, ohne dass ich weiß, warum und weshalb es passiert, dann bin ich innerlich gezwungen! Zwänge verstehen wir als etwas ganz Besonderes. Fritz Perls sagt, >Wenn Dir so etwas passiert, dann ist das eine Übertreibung und zwar aus dem Wiederholungszwang einer nichtabgeschlossenen Gestalt<. In diesen Worten stecken die Worte Zwang und unabgeschlossene Gestalt. Eine unabgeschlossene Gestalt ist etwas, das sich immer ergänzen will. Der Begriff kommt aus dem Bereich der Gestalttherapie. Gestalten wollen sich ergänzen...«
Ich verstand nur Bahnhof. Dr. Jung stand auf, um ein Papier von seinem Schreibtisch zu nehmen. Er hielt es hoch und ich erkannte… nichts.
»Sie sehen auf diesen Bildern Striche?«
Ich nickte. Zumindest die konnte ich sehen.
»Wenn Sie die einzelnen Linien etwas länger ansehen, dann werden Sie die Striche zu Bildern ergänzen können. Erkennen Sie etwas?«
Ich betrachtete die Skizzen in Strichform.
»Ja, das erste ist ein Mann. Das zweite ist ein Hund. Tja und das Dritte...« Das war gar nicht mal so einfach. Null Ahnung!
»Wenn ich es Ihnen gleich verrate, werden Sie sagen >Klar!< Und danach werden sie es immer sofort erkennen. Genau das ist mit Gestalt gemeint.«
Wieso sah er mich so erwartungsvoll an? Ich konnte nix erkennen. Man gut, dass es keine Zensuren gab.
»Es ist ein Pferd mit einem Reiter«, half er mir auf die Sprünge.
Ich sah die dritte Strichformation an. Und dann… auf einmal… sah ich es vor mir: ein Bild, klar, deutlich und abgeschlossen. Ein Pferd mit einem Reiter! Wieso hatte ich das eigentlich vorher nicht erkannt? Witzig war das schon! Nur, was hatte dieses Ratespielchen jetzt mit der Therapie zu tun?
»Eine unabgeschlossene Gestalt ist etwas, das bleibt. Sie können sich noch so anstrengen! Hätte ich Ihnen nicht geholfen, dann hätten Sie das Pferd mit Reiter nicht erkannt. Genauso ist das auch mit Gestalten, die Menschen in ihrer Kindheit erleben sollten. Jedem Menschen, der geboren wird, steht es zu - und das ist seine biologische Gestalt -, von einer Mutter geboren und geliebt zu werden. Das ist das Recht dieses kleinen Wesens! Liebe und Zärtlichkeit stehen ihm zu! Wenn es das nicht kriegt, dann will es sich genau das holen. Es fängt an, Rollen zu spielen. Es lacht, prustet, weint oder schreit. Viele Mütter sind erst in diesem Augenblick bereit, dieses kleine Wesen zu lieben, es anzusehen und zu versorgen mit Zärtlichkeit, so wie es es verdient hat. Es gibt aber auch Mütter, die das nicht können. Aber selbst dann gibt dieser kleine Mensch mit all seinen Bedürfnissen nach Sicherheit und Liebe nicht auf. Es versucht immer weiter und weiter, sein Recht zu bekommen, seine Gestalt abzuschließen. Oft selbst dann noch, wenn die Mutter schon tot ist. Dieser Mensch will Zärtlichkeit.«
Dr. Jung erzählte von einem 40-jährigen Patienten, der Frauen nur lieben konnte, wenn ihr Busenumfang überdimensional war. Das führte dazu, dass dieser Mann Frauen liebte, mit denen er entweder intellektuell nichts anfangen konnte oder die ihm ansonsten überhaupt nicht gefielen. Irgendwann wusste er warum: Im Rahmen einer Psychoanalyse sei ihm bewusst geworden, dass seine Mutter ihn nie an ihre Brust gelassen hatte. Er wurde immer weggestoßen. Es wurde ihm verboten. Seine unabgeschlossene Gestalt war: Es steht mir zu, an ihrer Brust zu liegen, zu trinken und sie anzufassen. Also hole ich es mir, immer und immer wieder. Gründe für die Mutter gibt es sicher tausendfach, ihr Kind nicht zu stillen: die Brust wird schlaff, wenn ich stille. Es ist unmoralisch, weil es lustvoll ist. Oder... oder... oder... Egal!! Dieses und jedes Kind hat ein Recht auf die körperliche Nähe der Mutter und damit auch auf ihre Brust.
»Früher«, fuhr er fort, »sind Kinder, die keine körperliche Zuwendung erfahren haben, dem Tod ausgesetzt gewesen. Sie sind gestorben! Aus diesem Grunde gehört es zu der Gestalt eines jeden Kindes, Sicherheit, Zärtlichkeit und körperliche Nähe zu bekommen. Wenn diese Gestalt nicht abgeschlossen werden konnte, dann kommt der Wiederholungszwang der unabgeschlossenen Gestalt. Ein Leben lang wird dieser Mensch versuchen, genau das zu bekommen, egal von wem. So suchen sich Männer Frauen, die genau wie die Mutter sind, genauso kalt, genauso herzlos und genauso vollbusig. Und wieder wird dieser Mensch die erwünschte und ersehnte Zärtlichkeit nicht bekommen. Er wird weitersuchen, weiter und weiter und weiter. Selbst bei den Frauen, die bereit sind, diesem Suchenden all das zu geben, was er braucht, funktioniert es ebenfalls nicht. Denn diese Frauen wollen nicht Mutter sein. Sie wollen ihrem Mann Frau und Geliebte sein. Also beenden diese Männer die Beziehungen und gehen wieder auf ihre erfolglose Suche.«
Klang ja irgendwie einleuchtend...
»Ihre unabgeschlossene Gestalt ist bereits jetzt offensichtlich: Sie hatten ein Recht, von Ihrem Vater die Liebe und Zärtlichkeit zu bekommen, die Sie brauchten. Hinzu kommt, dass Ihr Vater der erste gegengeschlechtliche Partner in Ihrem Leben war, den Sie kennenlernten. Ihr Vater war der erste Mann, den sie erlebten. Und, es steht der Tochter zu... «
Er schlug so heftig mit der Faust auf das Tischchen, dass ich zusammenzuckte. »... die ersehnte Liebe auch zu bekommen. Da ist etwas bei Ihnen nicht abgeschlossen!«
»Stimmt«, konnte ich nur sagen.
»Und? Was ist die Folge? >Ich brauch` das! Ich will das! Deshalb hol` ich mir genau das jetzt von anderen Männern<. Und? Was passiert gleichzeitig bei Ihnen?«
Ein ahnungsloses Schulterzucken war meine Antwort.
»>Wer bin ich denn<?« fragte Dr. Jung mit weinerlicher Stimme. »>Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden. Ich muss noch viel mehr tun, damit Vater mich lieb hat<.«
»Ich glaube, dass das zum Teil stimmen könnte. Sicher ist da viel Wahres dran. Aber... «
Ich suchte nach Worten. Da war etwas schief...
»Wissen Sie, mein Freund ist ein Mann, den sich eine Frau nur wünschen kann. Er ist zärtlich. Er ist liebevoll. Und: Er liebt mich mehr als alles andere auf dieser Welt. Was er mir nicht nur sagt, sondern vor allem noch viel mehr zeigt. Er ist ein Mann, der Nähe lebt. Ich spüre es durch seine Gesten und Handlungen, aber auch durch sein Verständnis und seine Toleranz für mich und meine chaotischen Aktionen. Ich weiß, dass er immer für mich da sein wird, wenn ich ihn brauche. Und, trotzdem frage ich ihn oft >Liebst Du mich eigentlich?< Genau das ist es, was ich immer und immer wieder hören will. Rainer sagt es mir mit einer Engelsgeduld zehnmal, zwanzigmal, hundertmal am Tag. Trotzdem scheint es für mich noch immer nicht genug zu sein.«
»Merken Sie die Übertreibung? Sie haben früher etwas nicht bekommen, also fordern Sie es heute immer und immer wieder von Ihrem Freund. Sie zwingen ihn! Sie fordern etwas von ihm, was eigentlich fließen und da sein sollte, ohne, dass es eingefordert wird. Ihre Gestalt ist nicht abgeschlossen! Deshalb fordern Sie von ihm, Ihre Gestalt abzuschließen. Aber, das wird nicht gehen. Er ist nicht Ihr Vater! Die Liebesbeweise und -erklärungen Ihres Freundes machen Sie nicht satt. Ihr Freund ist lediglich eine Projektionsfigur. Sie schauen Ihren Freund an und sehen Ihren Vater.«
Blödsinn!!
»Hinter Ihrem Leid, das Sie mir ja auch sofort schilderten, steht Ihr Vater. Sie projizieren etwas von Ihrem Vater auf Ihren Freund. Die Zärtlichkeit, die Sie einfordern…« Wieder landete die Faust auf dem Tischchen. »... wollen Sie nicht von ihm. Die wollen Sie vom Vater! Sie sind das kleine Mädchen, das alles nur von Ihrem Vater haben will.«
Es gäbe Beziehungen, in denen diese Rollenverteilung sogar funktioniere. Er spielt den Übervater, sie das ewig kleine Mädchen. Nur, das seien in den wenigsten Fällen dauerhaft glückliche Beziehungen. Neben dem sich nach Zärtlichkeit sehnenden Kind steht selten ein Mann, der nur Vater sein will und diese Rolle auf Dauer ausfüllen und leben kann.
Während ich ihm zuhörte, fühlte ich noch immer eine Schieflage. Aber, was stimmte nicht? Verdammt!
»Ich glaube, ich muss Ihnen dazu noch etwas mehr erzählen. Ich bin seit ungefähr acht Jahren mit meinem Freund Rainer zusammen. Nach etwa vier Jahren habe ich mich das erste Mal in einen anderen Mann verliebt. Es geschah dann bis heute das ein oder andere Mal. Diese anderen Männertypen, auf die ich mich gar nicht wirklich einlassen konnte, waren solche Vaterfiguren, wie Sie sie gerade beschrieben haben. Harte Nüsse, die ich knacken wollte, obwohl ich sie nicht knacken konnte. Es konnte nicht klappen. Jeder wusste, dass ich in einer Beziehung lebe, die glücklich ist. Rainer und ich waren für viele das Traumpaar schlechthin. Also hatte kein anderer Mann wirklich eine Chance bei mir. Dennoch brauchte ich anscheinend den Kampf mit ihnen, um die nicht abgeschlossene Gestalt endlich abzuschließen. Irgendwie war es wichtig für mich.«
»Es waren alles Väter. Es war immer der Kampf mit ihm«, bestätigte Dr. Jung. »>Verdammt Vater!< «
Als die Faust dieses Mal auf dem Tischchen landete, hatte ich schon fast damit gerechnet.
»>Schau` mich an!! Ich will, dass Du mich lieb hast!!< Glauben Sie mir! Es ist wichtig, dass Sie das loswerden. Denn, nur dann sind Sie frei. Das, was Sie da mit den anderen Männern erlebt haben, das ist doch keine Liebe. Ich suche mir doch nicht Menschen aus, mit denen ich kämpfen muss. Ich will doch Harmonie! Eins kann ich Ihnen versprechen: Wenn Sie hier erfolgreich arbeiten, werden Sie das los.«
»Das wäre schön....« Ich wollte nicht mehr kämpfen. Ich war so müde von all` diesen Anstrengungen für nichts und wieder nichts. Ich wollte sie loswerden!
»Mir ist noch etwas aufgefallen«, fuhr Dr. Jung fort. »Passen Sie auf, dass Sie kein Traumpaar sind. Das ist eine Scheiß-Rolle! Sie müssen Traumpaar mimen! Was ist das für ein Mist! Sie dürfen nicht streiten! Das würde ja Ihrer Rolle nicht gerecht!«
»Ich weiß selbst, dass wir ganz sicher kein Traumpaar sind. Die Trennung hat deshalb Illusionen bei anderen zerstört, nicht bei mir und nicht bei meinem Freund.«
»Trotzdem: ein Traumpaar oder Traumpartner zu sein, ist eine Rolle, die auch Sie Ihrem Freund zuschreiben.«
»Nein, ich nicht! Andere!«
Dr. Jung lachte. Wieso eigentlich? Lachte er mich aus?
»Ich sag` das nur, weil Rollen – auch im Außen – immer Anstrengungen verlangen. Rollen, die andere Ihnen aufdrücken, zwingen Sie dazu, in einer phantasievollen Traumwelt zu leben, die in der Realität niemals erreicht werden kann. Das ist immer Scheiße. Es scheint schön, aber - noch mal -: Es ist Mist!!!«
Poah, der war ja richtig engagiert! Schon irre, wie schnell er sich in mich ´reinzuversetzen schien. Irgendwie klasse.
Um seine Worte zu unterstreichen, erzählte Dr. Jung mir von einem Ehepaar, das sich zu Beginn ihrer Ehe geschworen hatte, sich niemals zu streiten oder ein lautes Wort zu wechseln.
»Können Sie sich vorstellen, wie krampfhaft diese Beziehung gewesen sein muss?«
Ohhhhh, ja!!!
»Es ist menschlich, dass freie Menschen so...« Er streckte seine Hände parallel zueinander aus »... vor- und zueinander stehen. Was kann sonst dabei herauskommen?«
Erwartete er jetzt eine Antwort? Ich sah auf seine Hände und schwieg. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Also gut. Dann beginnt jetzt die wirkliche Arbeit. Ich bitte Sie, zwei kleine Aufsätze zu den Themen >Meine Mutter und ich< und >Mein Vater und ich< und als jeweiliges Unterthema >Wie Sie mich frustriert haben< zu schreiben. Schreiben Sie bitte das Positive und das Negative zu Beiden auf. Das ist Ihre Aufgabe bis zum nächsten Mal.«
Wenn`s mehr nicht ist. Während ich die Hausaufgaben vorsichtshalber in meinen Kalender schrieb, sagte Dr. Jung:
»Ich möchte die noch verbleibende Zeit dieser Stunde nutzen, Ihnen noch einige Informationen mit auf den Weg zu geben. Was soll das eigentlich alles, das mit der Kindheit und so?«
Fragte ich mich insgeheim auch! So ganz klar war`s mir wirklich noch nicht.
»Das Kind ist gleich nach der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr so lernfähig, wie nie, nie, nie wieder in seinem ganzen Leben. Die Psychologen sagen, dass ungefähr 98 % unseres Lernens mit dem zweiten Lebensjahr abgeschlossen ist. Der Rest – Schule, Studium, Beruf – macht dann nur noch ca. zwei Prozent aus. Wobei >lernen< gleichgesetzt wird mit >alles aufnehmen<. Was es bedeutet, wenn ein Kind laufen lernt! Es ist so voller Aktionen, es ist so voller Wachheit! Welch` eine Kraftanstrengung alleine dahinter steckt, sieht man zum Beispiel, wenn ein erwachsener Schlaganfallpatient wieder anfangen muss, laufen zu lernen. Hier wird etwas neu erlernt und geübt, das bei Kindern als selbstverständlich hingenommen wird. Dass dies eine enorme Lernaktion ist, vergessen wir dabei. Ein Kind ist stets offen, alles zu lernen. Gleichzeitig kommt es aber auch mit eigenen Erwartungen, Forderungen und Wünschen auf die Welt. Es erwartet und wünscht sich vor allem Liebe, Geborgenheit, Sicherheit und Zärtlichkeit. Alles tiefe, echte Bedürfnisse, die der kleine Mensch zu Recht hat. Und, sie werden in unserer Zivilisation so gut wie nie optimal gestillt…«
Gedankenverloren sah er vor sich hin.
»Dies ist zum Glück nicht überall auf der Welt so. Es gibt ein wunderschönes Buch, das Sie irgendwann einmal lesen sollten. Es ist von Jean Liedloff und heißt >Auf der Suche nach dem verlorenen Glück<.«
»Das Buch kenn` ich und habe es gelesen!«
»Oh, das kennen Sie?« Staunen und Verblüffung in seinem Gesicht.
Wieso eigentlich? Hält er mich für so unbelesen, oder was?
»Dann haben Sie ja gelesen, wie in diesem Stamm in Venezuela die Kinder zwei Jahre am Körper der Mutter baumeln, ständig, Tag und Nacht, bis sie von ihr abfallen wie eine reife Frucht. Es ist ein phantastisches Buch!«
Wieder hing er seinen Gedanken nach. Ich sah ihn an. Dieses Strahlen in seinen Augen war schon verrückt.
»Ja, ich habe das Buch schon vor Jahren gelesen. Ich finde es auch total beeindruckend und schön«, sagte ich, mehr, um die Stille zu unterbrechen.
»Dann brauchen wir ja nicht mehr darüber zu reden.«
War er jetzt aus seinem Konzept gebracht? Irgendwie entstand jetzt eine Pause, die da nicht hingehörte. Merkwürdig. Okay, ich kann`s nicht ändern. Auch in Berlin schlafen wir nicht mehr auf Bäumen!
»Sicher ist jedenfalls«, fuhr Dr. Jung fort, »dass diese ersten zwei Lebensjahre genauso prägend für alles Schlechte sind, das wir erfahren. Warum kriege ich nicht das, was ich will? Warum hört mich denn niemand? Warum sieht mich niemand an? Mama!! Papa!! Und: Dieses Kind hat Recht! Es steht ihm zu, Liebe zu bekommen, bedingungs- und vorbehaltlos! Genauso wie Schutz und Geborgenheit! Wenn Eltern nicht bereit sind, ihr Kind zu (be-)schützen, wird es sein ganzes Leben lang einen Mangel spüren. Schrecklich.«
Er schüttelte seinen Kopf.
»Ich könnte Ihnen Beispiele erzählen, die so furchtbar sind! Eine 50-jährige Frau wollte als Kind Kontakt zu ihrem Vater aufnehmen. Sie hatte etwas auf ihre Schiefertafel geschrieben und ging damit zu ihm. >Vater, schau` was ich geschrieben habe!< Und, was macht der Vater? Er nimmt die Tafel und schlägt sie dem Kind auf den Kopf. Was jetzt? Was jetzt?? Können Sie sich vorstellen, was dieses kleine Mädchen drei Tage später sagt, wenn sie nach ihrem Vater gefragt wird? >Mein Vater ist lieb! Vater hat doch nur Spaß gemacht! Nein, nein, mein Vater ist lieb!< «
Verdrängung!? Doch klar, oder??
»Vielleicht werden Sie auch an Punkte kommen, an die Sie sich jetzt noch gar nicht erinnern. Die sind meistens fein weggepackt, verdrängt. Vater, Mutter sind doch lieb! Die Verletzungen, die die Eltern einem Kind zufügen, konnte dieses nicht verstehen. >Warum macht er/sie das mit mir? Was habe ich denn getan? Bin ich wirklich so böse?< Verletzungen einer Person. Ohne, dass dieses kleine Menschenkind etwas versteht, sind Dinge in ihm passiert. Sie geschehen hier.«
Er drückte beide Hände auf seinen Bauch.
»Sie sitzen hier und sind gut weggepackt! Aber: Sie tun genau hier auch weh! All` diese Gefühle, die damals in Ihnen verstaut wurden, tragen Sie mit sich herum. Bis an Ihr Lebensende! Sie werden sie nicht los. Es sei denn, Sie gehen an die Arbeit. Sie schauen sich dieses verletzte Kind an und machen es gesund, indem Sie es ansehen, annehmen und lieben, so wie es ist.«
Unser Hirn besitze zehn Milliarden Gehirnzellen mit einer Speicherkapazität, von der jeder Computer nur träumen könne. Es gäbe hierzu Experimente. Das Gehirn sei unempfindlich. In Versuchen habe man zum Beispiel eine einzelne Hirnzelle eines Menschen berührt. Die Versuchsperson sollte dann ihre Empfindungen äußern. >Aaahh! Ja, da ist ein Balkon... Gardinen flattern... Frühlingsduft... Vögel singen... die Sonne scheint ...<
»Alles Empfindungen bei der Berührung einer einzigen Gehirnzelle! Wenn man das weiß, dann kann man ungefähr ermessen, was eine Speicherkapazität von zehn Milliarden Gehirnzellen bedeutet. Das gilt für alle Gefühle und Situationen, positive wie negative. Alles aus der Kindheit ist gespeichert. Alles ist noch da. Die Frage ist nur, wie ich es schaffen kann, da heranzukommen? Viele Menschen wollen gar nicht an diese Gefühle heran, weil sie nicht an schmerzhafte Situationen erinnert werden wollen. Sie glauben und sagen, dass es doch gut sei und seinen Grund habe, dass Dinge und Gefühle verdrängt werden können bzw. worden sind. In DeKiD geht es darum, besondere Szenen aus der Kindheit mit der hieraus entstandenen Not des Kindes noch einmal zu sehen und zu erleben. Ziel ist dabei immer, diese Not des Kindes aufzulösen. Wie das geht, werde ich Ihnen dann noch erklären. Die Not der kleinen Eva in Ihnen muss aufgelöst werden, indem verdrängte Szenen noch einmal durchlebt werden. Denn es ist sicher, dass die verdrängten Gefühle auch in gegenwärtigen Situationen immer wieder hochkommen. In DeKiD werden wir diese Verdrängungen an den Tag holen und vollkommen auflösen. Das ist die Hauptarbeit!
Freud redet tiefenpsychologisch vom ES, vom Über-ICH und vom ICH. Eric Burne sagt es anders: Das ES ist bei ihm das Kind-ICH, das Über-ICH ist das Eltern-ICH und das ICH ist das Erwachsenen-ICH. Kind- und Eltern-ICH müssen eine Einheit eingehen, eine Harmonie herstellen, in der Beide gleich stark sind. Ein extremes Kind-ICH grabscht nach allem, was es bekommen kann. Solche Patienten sind fast nicht therapiefähig. Das wirkt sich dann in Beziehungen zu allen Menschen aus, vor allem zu dem Partner und in der Arbeitswelt. In DeKiD kommt es häufig vor, dass das Kind zu klein oder gar nicht da ist. Viele glauben, dass es gefährlich ist, in der gegenwärtigen Welt das innere Kind mit all` seinen Gefühlen, Sehnsüchten und Ängsten zuzulassen. Schließlich muss man hart sein, stark sein, gefühllos und egoistisch, um überleben oder weiterkommen zu können! Diese Lebensstile sind erlernt, von Generation zu Generation weitergegeben. Manchmal ist es nicht einfach, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, weil man ja zum Beispiel auch die Eltern angreifen muss. Dabei geht es in DeKiD nicht um Rache. Es handelt sich vielmehr um eine Generationenschuld - seit Jahrhunderten wurden Kinder immer und immer wieder zu Höchstleistungen angespornt, ohne dass auf das Wohl des Kindes geachtet und Rücksicht genommen wurde.«
Dr. Jung stand auf, holte ein Buch und schlug es an einer von ihm markierten Stelle auf. »Ich werde Ihnen nach jeder Stunde etwas von Menschen vorlesen, die begriffen haben, wie wichtig Kindsein und Kind-Seinlassen ist.«
Er hielt ein Buch von dem Schweizer J. Konrad Stettbacher in seinen Händen. Bei ihm habe u.a. auch Alice Miller (>Am Anfang war Erziehung<, >Abbruch der Schweigemauer<) eine umfangreiche Therapie absolviert. Dr. Jung begann laut zu lesen:
»So, wie Du geboren wurdest, so wirst Du leben. Wenn Du wirklich gewollt wurdest (>von Mutter und Vater< ergänzte Dr. Jung), dann wirst Du wollen dürfen. Wenn Du wirklich geliebt wurdest, dann wirst Du lieben können. Du wirst leben wollen und Dich daran freuen. Wenn Du wirklich von Mutter und Vater geachtet wurdest, dann wirst Du leben, lieben und achten. Für DeKiD heißt das: Wenn Du ungewollt, ungeliebt und ungeachtet warst, dann erlebe es in DeKiD neu. Erlöse Dein Kind aus seiner Not und Du wirst wollen, lieben und achten können!«
»Eine andere Patientin von Stettbacher schreibt: >In der totalen Kind-Eltern-Abhängigkeit begründet sich der Umstand, dass das Kind nicht sehen und erkennen kann und darf, was ihm zugemutet wird«, las er nach einer Pause weiter. »>Es kann auch nicht auf Misshandlungen und Missachtungen reagieren, wie es angemessen wäre. Es wird leider sogar noch meinen, seine eigene Not selbst verschuldet zu haben. Die Ablehnung und Ignorierung durch meine Eltern setzten sich in mir dermaßen fest, dass ich nichts mehr verstand und von unerträglichen Gefühlen täglich gequält wurde. Dem Gefühl nach war ich immer im Weg, überflüssig, unbrauchbar, ungenügend und vor allem schlecht und schuldig. Die Anstrengungen, um diese Gefühle zu überspielen oder ihnen auszuweichen, waren erschöpfend. Durch die dauernden Gefühle des Überflüssigseins und Schuldigseins wurde mir jede Existenzberechtigung genommen. Ich musste mich täglich anstrengen, um zu beweisen, dass ich für etwas da sei. Dabei habe ich immer wieder die gleiche Erfahrung machen müssen: nicht genug zu sein und nicht geliebt zu werden<.«
Als Dr. Jung geendet hatte, entstand eine lange Pause. Ich hatte wie gebannt zugehört. Das war ich!!!! Das hätte ich genauso sagen können. Ist ja verrückt!! Oder? Ist das vielleicht normal?
»Genau das ist die Basis. Daran misst sich der Auftrag, den Sie zu bewältigen haben«, sagte mein Gegenüber.
Ich bekam auf einmal so etwas wie Ehrfurcht vor dem, was da vor mir lag. In mir war etwas so Großes, das bei jedem Wort, das Dr. Jung vorgelesen hatte, aufzuschreien schien. Ich erahnte auf einmal wahnsinnige Schmerzen, ein Meer von ungeweinten Tränen, von aufgestauter Wut und immenser Traurigkeit. Wie sollte ich schaffen, das alles aufzudecken? Vor mir lag auf einmal ein Riesengebirge ohne Pfade, das ich durchwandern sollte...
»Glauben Sie, ich krieg` das hin?«, konnte ich nur ganz leise und zweifelnd fragen.
»Natürlich kriegen Sie das hin! Wenn Sie dabei bleiben.«
»Oje, ich habe Angst... Aber gleichzeitig auch Hoffnung…«
»Können Sie sagen, wovor Sie Angst haben?«
»Jaaaaa... Es ist vor allem eine Wahnsinnsangst vor dem Schmerz, der sich hinter diesem Vergangenen verbirgt.«
»Darüber werden wir noch sprechen. Aber, vielleicht fangen Sie erst mal mit den Hausaufgaben an.«
Er stand auf und wollte die Stunde beenden. Aber irgendwie konnte ich jetzt noch nicht gehen. Da war ein Riesenkloß in meinem Hals. Los! Sag`s!!!
»Wenn ich das alles höre und erahne, was in mir und anderen verborgen sein könnte, dann steht doch wohl fest, dass Kindererziehung eine der schwierigsten Aufgaben dieser Welt ist. Welche Verantwortung übernehmen Menschen, die Kinder in die Welt setzen. Eltern können so viel falsch und damit so viele Kinder für immer kaputt machen. Ich weiß, dass auch bei mir so viel falsch gelaufen ist.«
»Oft steht im Anschluss an die erfolgreich abgeschlossene DeKiD-Therapie der Wunsch, ein Kind zu haben.«
»Ich will niemals Kinder haben.«
»Tja, das ist ja auch kein Wunder. Wenn Sie aber hier Ihre Angst, die Sie ja jetzt schon innerlich spüren, auflösen können, wird sie weg sein! Für immer!«
Zweifelnd sah ich ihn an. Es klang zwar alles so verdammt einfach, aber ich traute dem Braten nicht. Wie sollte ich meine Vergangenheit auflösen können? Sie war und ist doch ein Teil von mir. Wer bin ich denn, wenn dieser Teil in mir auf einmal fehlt, weil er sich aufgelöst hat? Will ich denn wirklich ein anderer Mensch werden? Es geht mir doch nur ab und zu mal schlecht. Ab und an mal depressive Phasen. Manchmal waren es ja wirklich nur wenige Tage, an denen niemand für mich da zu sein schien, der mich liebt oder sich zumindest für mich interessiert. Diese Tage, an denen ich mich in meinem Zimmer verkroch und die Welt außen und mich selbst neben mir betrachtete, während ich mich fragte: Wo ist Dein Platz in diesem Leben? Hast Du überhaupt einen? Dann schaffte ich es nicht mal mehr, eine Freundin anzurufen. Immer hatte ich das Gefühl, ihr mit meinen immer gleichbleibenden Zweifeln und Fragen über mich inzwischen eine Last zu sein... Aber, das war doch im Vergleich zu den Highlights in meinem Leben, den vielen Partys, eigentlich gar nicht sooo oft. Würde ich noch >everybody`s sunshine< sein, wenn meine schlechten Tage verschwunden sind? Gehörten nicht auch schlechte Phasen mit Depressionen und Unglücklichsein zu mir und meinem Leben, wie alles andere auch? Genauso wie Licht und Schatten?
Okay, manchmal geht`s mir so schlecht, dass ich keine Lust mehr auf das bescheidene Leben hatte. Wenn ich das wegkriegen könnte, das wäre schon nicht schlecht! Ach was, ich probier’s! Ich bin ja selber bei allem dabei, hatte Dr. Jung gesagt. Was sollte mir denn passieren, was ich nicht auch selber will??
»Der Gestalttherapeut Fritz Perls sagt«, fuhr Dr. Jung fort, »>Nur im Hier und Jetzt lebst Du, in dieser Sekunde. Wenn Du mit Deinem Kopf irgendwo anders bist, in Deinen Phantasien, dann lebst Du nicht. Deine Phantasien sind kein Leben, keine Lebendigkeit. Und, wenn Deine Phantasien Deine Misserfolge aus der Vergangenheit sind, dann projizierst Du sie in die Gegenwart und lebst in Angst. Wenn Du nur im Hier und Jetzt lebst, bist Du immer angstfrei.«
Klingt super! Keine Frage! Na, schau`n wir mal, dachte ich, noch immer sehr skeptisch.