Читать книгу Das Innere Kind in Dir - Eva-Maria Thal - Страница 13
Opfer
ОглавлениеMorgens um 9.30 Uhr klingelte ich zum zweiten Mal an der Haustür Dr. Jungs. Dieses Mal schon weniger aufgeregt, eigentlich mehr gespannt darauf, wie es weitergeht. Die Hausaufgaben hatte ich ja zum Glück gemacht.
Ich setzte mich erneut in den Sessel am Fenster und packte meine Notizen sowie eine unbespielte Kassette aus. Dr. Jung sah mir lächelnd dabei zu, nahm dann die Kassette, legte sie in den Rekorder und drückte auf >Aufnahme<. Es konnte losgehen.
»Na?«, fragte er, »wie geht es Ihnen nach der ersten Stunde?«
»Ganz gut. Ich habe mir die Kassette der letzten Stunde angehört und dabei gemerkt, dass ich ein gutes Gefühl habe. Es fühlt sich richtig an, hier zu sein. Es wird sicher auch gut sein, endlich etwas für mich zu tun. Ich merke, dass ich bereit bin, Zeit und Kraft zu opfern.«
Opfern? Ein blödes Wort... Warum musste ich Opfer bringen, wenn ich für mich etwas tun will. Bescheuert!
»Gut, dann fangen wir doch einfach mal an. Was haben Sie denn aufgeschrieben zu >Meine Mutter und ich< und >Mein Vater und ich<?«
Ich erzählte ihm, wie es mir am Vorabend ergangen war - wobei ich das mit der Disco lieber ausließ. Er musste ja schließlich nicht alles wissen.
»Vielleicht lesen Sie einfach mal vor, was sie aufgeschrieben haben«, ermutigte Dr. Jung mich.
Warum klopfte mein Herz so doll? Was war los? Hatte ich ein bisschen Angst davor, etwas falsch zu machen? Aber, was denn? Und, warum? Zensuren gab`s doch keine. Merkwürdig!
»Ich habe mit dem angefangen, was ich als Kind von meinem Vater wollte: Liebe, Lob, Anerkennung, Verständnis, Vertrauen, Zärtlichkeit. Später, als ich älter wurde, wollte ich Gespräche mit ihm. Ich hätte so gerne mit ihm geredet! Bekommen habe ich genau das Gegenteil: Missachtung, Unverständnis, Schläge. Kein Verstehen, weder in Worten noch in Gesten. Er war mir nur ganz, ganz selten nah. Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass er mir mal liebevolle Gesten oder nur ein liebevolles, warmes Lächeln geschenkt hätte. Selbst gute Schulnoten wurden lediglich registriert. Nein: erwartet! Und ich? Ich war immer gut, trotz fehlender Belohnung. Wenn ich es mir so recht überlege, hat mein Vater immer nur bestraft, wenn etwas nicht gut war...«
Ich dachte an meine Vorfreude, wenn ich mal wieder eine gute Note mit nach Hause brachte. Vielleicht würde er sich ja dieses Mal wenigstens ein bisschen freuen…
»Was mein Verhältnis zu meinem Vater ganz stark geprägt hat, war mein Bemühen, ihm immer und überall alles recht zu machen. Vielleicht ist das ja sogar ein Grund für meinen Perfektionismus? Egal, ob in der Schule oder später während der Berufsausbildung und im Beruf: immer habe ich ganz viel getan und war trotzdem immer der Meinung, es reicht noch lange nicht aus. Mein Vater hat mein Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,7 - übrigens das Beste der Schule - hingenommen, registriert. Wieder kein Lob, keine Freude, nicht mal Stolz - nichts! Ich habe wohl nur seine Erwartung erfüllt. Mein Leben war ein ständiges Anstrengen und Kämpfen!«
»Ah ja«, der schlichte Kommentar meines Gegenübers.
»Die Zeit meiner Pubertät wurde bestimmt von meinen Vater als >Herrscher der Familie<. Wenn meine Schwester oder ich etwas vorhatten, brauchten wir immer seine Erlaubnis. Meistens lief das über meine Mutter. Bei einigen Dingen gab`s fast so etwas wie ein Ritual. In unserem Stadtteil fand jeden zweiten Sonntag von 16 bis 22 Uhr eine Disco im Jugendheim der Kirche statt. Alle meine Freundinnen durften dorthin. Ich nicht. Damals war ich vielleicht 14 oder 15 Jahre alt. Mein Vater hatte es mir verboten, ohne Gründe hierfür zu nennen. Ich verstand nichts, musste mich dem Pauschalverbot natürlich fügen. So war es jedes Mal, bis meine Mutter mir den Rat gab, etwas für ihn zu tun, dann bekäme ich vielleicht die Erlaubnis hinzugehen. Was denn?? >Wie wäre es, wenn Du an diesen Disco-Sonntagen immer das Frühstück machst?< Ich hätte alles getan! So geschah es, dass ich jeden zweiten Sonntag früh aufstand, ein Frühstück auf den Tisch zauberte und meine Eltern weckte. Und wirklich! Ich erhielt die Erlaubnis, zur Disco gehen zu dürfen. Zwar nur bis 20 Uhr, aber immer noch besser als gar nicht. Tja, genauso war es in vielen anderen Sachen: Ich musste immer etwas tun, um von ihm etwas zu bekommen. Er gab mir nichts umsonst! NEIN ist das Wort, das mich mit meinem Vater verbindet. Ein Wort, das sich wie ein roter Faden durch meine Kindheit und Jugend zieht. Dieses NEIN sagte er ohne Nachdenken, ohne Begründungen. Und, was fast noch schlimmer war: ein Mal gesagt, wurde es niemals zurückgenommen. Das hatte zur Folge, dass ich natürlich auch noch ganz, ganz vorsichtig sein musste, um dieses NEIN nicht vorzeitig zu provozieren.«
Ich sah alles wie in einem Film vor mir.
»In den letzten Jahren dann, hat er sich mir vollständig entzogen: meinen Gefühlen, Gesprächen mit mir. Auch hier blieben Rituale: mein Küsschen auf seine Wange zur Begrüßung oder zu Weihnachten, immer ohne Reaktionen von ihm. Dabei habe ich immer gemerkt, dass er es zwar erwartete, aber es nie wirklich wollte.«
Ich dachte an diese unzähligen Situationen. Wie oft hatte er vor mir gestanden, die Arme steif neben seinem Körper, mir leicht seine Wange entgegenstreckend - Küsschen - Rückzug. Ätzend! Warum hatte ich das überhaupt mitgemacht?
»Das Verhältnis war geprägt von einem Grundgefühl: Angst. Ich hatte Angst vor seinen NEINS, vor seinen Strafen, vor seinen Schlägen, vor seiner Missachtung.«
»Wie war das bei Ihrer Schwester? War das ähnlich?«
»Das Verhältnis zwischen Lea und meinem Vater war extremer. Ich war immer das brave Mädchen, das das tat, was von ihm erwartet wurde. Dadurch, dass ich vier Jahre älter war als Lea, kannte ich seine Verhaltensweisen besser als sie und konnte seine Reaktionen natürlich im Voraus einkalkulieren. Während ich immer Vieles erduldet habe, habe ich sie später bestärkt, sich nicht immer alles gefallen zu lassen. Gleichzeitig habe ich ihr als ältere Schwester geholfen, sich gegen meinen Vater durchzusetzen, manchmal sogar aufzulehnen. Meine Schwester hatte mich als Schutz und Rückendeckung. Deshalb konnte sie vielleicht leichter mit ihm kämpfen. Natürlich hat sie immer verloren. Trotzdem blieb sie in ihrem Kampf konsequent. Eine Konsequenz ihres Kampfes war, dass mein Vater einmal sechs Monate lang kein einziges Wort mit Lea gesprochen hat. Er hat sie komplett ignoriert. Ich glaube, dass Lea durch ihren Kampf noch viel, viel mehr Wunden davon zurückbehalten als ich.«
Dr. Jung atmete schweigend einmal ganz tief durch.
»Als ich knapp 19 Jahre alt war, wollte ich mit meinem Abi-Durchschnitt natürlich studieren. Ich hatte mir schon mit einer Freundin zusammen eine Wohnung gesucht. Mein Vater sagte wieder: NEIN! Alle Lehrer, sogar die Eltern meiner Freundin versuchten, meinen Vater davon zu überzeugen, dass ich in einem Bürojob eingehe wie eine Primel. Mein Vater blieb dabei - wie gehabt. Regungslos verharrte er bei dem, was er einmal gesagt hatte. Und bestimmte damit, wie schon so oft, meinen Lebensweg. Und ich? Das immer noch brave Mädchen Eva ging seinen Weg, weil sie keine andere Chance hatte... Das glaubte ich zumindest. Wieder legte ich nach drei Jahren Anstrengung eine besonders gute Prüfung hin. Wieder wollte mein Vater danach bestimmen, wie`s weitergeht. Sein Versprechen, das er mir auf dem Abi-Ball gegeben hatte, nach der Ausbildung jedes Studium zu finanzieren, war vergessen.«
»Oh«, sagte Dr. Jung, »das ist aber Wortbruch!«
»Ja, das war es! Vielleicht wurde mir deshalb zum ersten Mal bewusst, dass ich mich bei ihm auf gar nichts verlassen kann. Mit 22 Jahren habe ich mich das allererste Mal gegen meinen Vater aufgelehnt und bin meinen Weg gegangen. Ich kündigte die Arbeitsstelle und versuchte – natürlich ohne finanzielle Unterstützung meines Vaters - zu studieren. Und: Zum ersten Mal war ich richtig wütend! Es war ein gutes Gefühl! Endlich! Mit dem Studium… es klappte nicht. Ohne BAföG konnte ich nicht mal meine Miete bezahlen. Aber, das war egal. Auch, wenn ich gescheitert war: Es war meine Niederlage. Sie tat natürlich auch weh, besonders deshalb, weil mein Vater mir bei jeder passenden Gelegenheit mit einem Lächeln unter die Nase rieb, >Ich hab`s Dir ja gleich gesagt.....<. Ich sei gar nicht in der Lage, etwas richtig zu machen. Das vergrößerte zu diesem Zeitpunkt aber vor allem nur noch meine Wut auf meinen Vater! Warum konnte er mir nicht ein einziges Mal helfen, für mich da sein – so, wie andere Väter doch auch für ihre Töchter da waren?«
»Es ist die Frage«, sinnierte Dr. Jung, »ob sie wirklich mit dem Studium glücklicher geworden wären. Aber, darauf kommt es nicht an! Wichtig und wesentlich ist, dass es ein ganz, ganz biestiger Vater gewesen ist, auf dessen wenige Worte Sie sich noch nicht mal verlassen konnten.«
»Ja! Mein Vater hat in mir - wie gesagt - immer Angst erzeugt. Er hat mich ja auch geschlagen: mit seinen Händen oder mit einem dünnen Rohrstock. Nie grundlos, sicher nicht. Ich hatte zum Beispiel mal zwei Schildkröten von Nachbarn in Pflege, auf die ich einen Nachmittag lang aufpassen sollte. Ich war vielleicht acht Jahre alt. Während die Schildkröten in unserem Garten herumliefen, spielte ich mit einem anderen Kind im Sandkasten. Auf einmal waren die Schildkröten weg. Panik!!! Den ganzen Garten haben wir abgesucht, jedes Blatt umgedreht - heulend vor Angst. Sie blieben verschwunden. Oh Gott, was hatte ich eine Angst vor meinem Vater! Was würde er mit mir anstellen, wenn er nach Hause käme? Natürlich kam es, wie es kommen musste! Mein Vater verprügelte mich Stunden später mit dem Rohrstock. Ich hatte es verdient, so nannte er es. Und, wissen Sie was? Es war fast eine Erleichterung, als er nach diesem stundenlangen Zittern vor der Strafe, endlich nach Hause kam und ich die Prügel, wie erwartet, bekam. Darauf war nämlich Verlass!!«
Noch heute bekam ich eine Gänsehaut bei der Erinnerung an die vielen Situationen, in denen ich voller Panik auf die Strafe wartete.
»Mein Vater war der Tyrann der Familie: Er hat alle tyrannisiert, mich, meine Schwester und eigentlich auch meine Mutter. Es war wichtig, was er sagte und das wurde auch getan. >Keine Widerworte!< Nach NEIN sein zweitliebstes Wort!«
Ich sah auf meine Notizen. »Da steht noch mehr...«
»Schön!«, ermunterte Dr. Jung mich. »Machen Sie weiter. Es ist alles wichtig!«
Ich erzählte ihm, dass ich schon seit meinem zehnten Lebensjahr Tagebuch schreibe. »Ich konnte mit niemandem reden. Meine Schwester war zu klein. Meine Mutter verstand mich auch eher selten. Sie saß ja auch zwischen allen Stühlen. Tja, und mein Vater? Da war nix möglich. So vertraute ich diesen Büchern meine Gefühle an. Ganz oft schrieb ich damals schon: >Ich hasse ihn< - tausendmal unterstrichen. Zwei Sätze später: >So meine ich es ja eigentlich gar nicht<. Ich konnte meine Wut nicht wirklich raus- oder zulassen. Eine Stimme in mir sagte immer: >Du darfst Deinen Vater nicht hassen! Einen Vater muss man liebhaben…<
Ein anderes Problem war der Alkohol. Jedes Wochenende, pünktlich Freitagabend 18 Uhr bis Sonntagnacht, waren Stammtische, Frühschoppen, Treffen des Musikvereins. Immer kam er angetrunken, meistens betrunken, nach Hause. Als ich noch klein war, durfte ich Sonntagvormittags mit ihm gehen. Ich saß dann in der verqualmten Kneipe am Stammtisch - ein Eis in der Hand, eine Cola vor mir - und wartete die ganze Zeit nur darauf, dass er wieder mit mir nach Hause geht. Ich wartete lange und meistens war es irgendwann nur noch langweilig. Das Mittagessen zu Hause war fast immer kalt, wenn wir dann endlich ankamen.«
»Aber welche Funktion hatten Sie denn da?«
»Das frage ich mich auch!«
»Wie alt waren Sie damals?«
»Noch klein. Vielleicht im Kindergarten oder gerade in der Schule.«
»Aha.«
»Ich glaube nicht, dass ich eine Funktion hatte. Es hat ja auch niemand mit mir geredet oder sich um mich gekümmert. Ich bekam mein Eis, etwas zu trinken, das war`s. Mein Vater hat getrunken und mit seinen Freunden geredet. Nie mit mir. Auch die anderen an diesem Tisch nicht. Was soll man denn auch mit einem Kind reden? Vielleicht war es eher meine Mutter, die mich ihm in der Hoffnung mitgab, dass er dann pünktlich zum Mittagessen kommt!?«
»Ja«, stimmte Dr. Jung mir zu. »Irgend so etwas muss es gewesen sein.«
»Später dann, als ich älter war - vielleicht 14 oder 15 Jahre alt - habe ich mich nur noch vor ihm geekelt, wenn er betrunken war. Es gab viele solcher Situationen. Meine Schwester spielte Querflöte in dem Musikverein meines Vaters. Und das wirklich spitzenmäßig, denn sie ist sehr musikalisch. Sie war mit ihren zehn Jahren schon weitaus besser als die Männer, die seit 20 Jahren oder länger dieses Instrument spielten. Das war etwas, auf das sogar mein Vater stolz war. Hier konnte er natürlich auch vor seinen Freunden glänzen. Er führte Lea regelrecht vor. Als wir älter waren, war das einzig Positive, was von meinem Vater `rüber kam >Guckt Euch die Beiden an! Das sind meine Töchter!< Damit meinte er: attraktiv, schlank, früh entwickelt - wie >Mann< so schön sagt, er meinte nicht: liebenswert! Er erfreute sich daran, wie seine Freunde und Saufkumpanen uns betatschten und begrabschten. Und, immer war Alkohol im Spiel.«
Noch heute schüttelte ich mich vor Ekel, wenn ich an die rotgesichtigen Männer dachte, die mit ihrer Alkoholfahne versuchten, mich zu küssen.
»Mein Vater war so oft volltrunken - auch in der Öffentlichkeit. Er stand betrunken vor einem Mikrophon, um eine Rede zu halten, er saß betrunken auf einem Pferd bei einem Fest des Musikvereins und... und... und... Ich habe mich so geschämt. Ich fand es so furchtbar, so Ekel erregend. Trotzdem hatte ich gleichzeitig auch Angst, dass ihm etwas passiert. An eine schlimme Situation kann ich mich erinnern als wäre es gestern gewesen. Ich kam nach Hause und fand meinen Vater volltrunken im Hausflur liegend. Er war gestürzt und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Er lag in einer Blutlache und bewegte sich nicht mehr. Ich war vielleicht 17 oder 18 Jahre alt. Dieser Ekel hat sich in mir so festgesetzt, dass ich selbst dann, wenn ich auf der Straße von weitem einen Penner sehe, die Straßenseite wechsele, um diesem Menschen nicht begegnen oder in die Augen sehen zu müssen. Ich glaube, dass ich dieses Problem heute auch auf meinen Freund projiziere. Ich kann es nicht ertragen, wenn Rainer mehr als zwei oder drei Bier trinkt.«
Ungerecht... eigentlich...
»Der sechzigste Geburtstag meines Vaters war dann ein Schlüsselerlebnis für mich. Verwandte, Nachbarn, Freunde meiner Eltern hielten Reden. Ich hörte ihnen zu und verstand nichts. Von wem sprachen die da eigentlich? Das sollte mein Vater sein? Ein liebevoller Vater? Ein liebender Ehemann? Voller Toleranz und Wärme? Wieso sagten die so etwas? War er zu diesen Menschen anders? Spielte er ihnen Rollen vor? Aber, welche? Und, wieso? Ich habe es nicht verstanden und hätte am liebsten laut losgeschrien: >Verdammt, soll ich Euch mal sagen, wie er wirklich ist?< Aber, wieder mal war ich - mit 22 Jahren - das brave Mädchen, das lächelnd zu allem Ja und Amen sagte. Ich glaube, auf diesem Fest wurde mir zum ersten Mal klar, wie gespalten dieser Mann in sich gewesen sein muss.«
»Ja«, stimmte Dr. Jung mir zu. »Krank!«
Er sah mich lange an. »Wirklich schlimm! Da Sie Tagebuch geschrieben haben, können Sie es heute wohl auch so klar formulieren und darstellen. Ihnen ist sicher auch klar, dass dieses Erleben mit Ihrem Vater nicht ohne Störungen in Ihrer Person geblieben sein kann. Sicher ist es oft die Mutter, die die wesentlichere Rolle spielt. Aber, bei Töchtern ist es immer auch der Vater, weil er die erste gegengeschlechtliche Person in ihrem Leben ist. Der Vater spielt eine wichtige Rolle, weil er der kleinen Tochter vorlebt: So sind Männer! Das hat natürlich auch die kleine Eva gelernt und erfahren! Weil es normalerweise keine anderen Vergleichsmöglichkeiten für die Töchter gibt. Oder hatten Sie noch einen anderen Mann in Ihrer Nähe? Einen Großvater oder einen Onkel?«
»Nein, da war niemand.«
»Alice Miller spricht in einem ihrer Bücher von dem >wissenden Zeugen<. Wenn in der näheren Umgebung ein Mann lebt, der dem Kind zeigen kann, dass es auch noch Männer gibt, die anders sind, dann hat das Kind eine Chance, vielleicht nicht ganz so extrem geschädigt zu werden. Ich sage Ihnen das, weil diese ganzen Situationen ja hier....«, er presste seine Hände ganz fest auf seinen Bauch, »... passieren. Das Schlimme ist vor allem, dass die kleine Eva ihren Vater ja geliebt hat. Das geht ja gar nicht anders! Ohne Liebe ist keine Wut, kein Hass, keine Traurigkeit. Denken Sie an die Frau mit der Schiefertafel! So war das auch bei Ihnen! Sie hatten als Tochter eine riesengroße Liebesbereitschaft für Ihren Vater und das macht alles noch viel, viel schlimmer.«
»Ich habe mich vollkommen auf sein Spiel eingelassen. Ich bin zu den Musikfesten gegangen, denn, wenn er betrunken war, nahm er mich in den Arm und ich war glücklich.«
»Die kleine Eva hat mitgespielt, weil es ihre einzige Chance war, Nähe von dem Vater zu bekommen. Da hat sie ihn so erlebt, wie sie ihn immer haben wollte. Was das alles bewirkt hat! Ich hatte viele Herzinfarktpatienten in der Klinik und später in Seminaren. Das sind alles Hochleistungstypen. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie ich diese Patienten dazu bringen kann, nach ihrer Genesung nicht mehr so tierisch loszulegen. Und: ALLE haben eine klassische Anamnese! Wenn Sie ein Mann wären, hätten Sie mit Sicherheit in Kürze auch einen Infarkt.«
»Manchmal denke ich das auch. Ich power in allem, was ich mache, so sehr. Du musst gut sein! Stark sein!«
»Die klassische Anamnese bei diesen Patienten ist immer - trotz Anstrengung - keine Anerkennung vom Vater erhalten zu haben! Und die Folge? Der Mensch beginnt, zu übertreiben: mehr, mehr, mehr! Weiter, weiter, weiter! Diese Übertreibungen sind Anlass zu untersuchen, welcher Wiederholungszwang einer unabgeschlossenen Gestalt vorliegt. Immer, wenn ein Mensch übertreibt, ist es in ganz kurzer Zeit möglich, die Ursache hierfür in seiner Vergangenheit zu finden. Bei Ihnen ist es klassisch: Ihnen steht es zu, vom Vater anerkannt, geliebt und auch gelobt zu werden. Und, das nicht nur für Ihre Leistungen, sondern vor allem für Ihre ganze Person. Bleibt das unabgeschlossen, werden Sie immer weiter versuchen, das zu bekommen. >Einmal wird er doch... Wenigstens einmal...< Sie sind gezwungen, auch heute noch. Obwohl Ihr Vater schon tot ist, müssen Sie Ihre Gestalt abschließen. Ihr Leistungsdruck ist wohl auch deshalb so immens.«
Er erzählte von einem Mann, dessen Mutter ihn ständig gelobt habe: Du bist toll! Du bist der Beste! Damit sei bei diesem Kind ein riesengroßer Leistungsdruck aufgebaut worden. Er bekam nur Liebe, wenn er diesem Anspruch der Mutter gerecht wurde.
»Mit zu viel oder falschem Lob geht es auch«, sagte Dr. Jung.
»Mein Vater ist an seinem zweiten Herzinfarkt gestorben.«
Ein schlichtes «Ja, ja« war die Antwort.
»Meine Mutter erzählte mir, dass mein Vater sich nach seinem ersten Infarkt verändert habe. Allen, auch ihm, war klar, dass er einen zweiten Infarkt nicht überleben würde. Angeblich soll er >weicher< geworden sein, sagt sie. Ich habe es nicht gemerkt, aber ich war auch selten bei meinen Eltern zu Hause. Ich habe seine Krankheit verdrängt, wollte sie nicht wahrhaben. Manchmal habe ich mit meiner Schwester zusammen überlegt, ob wir nicht mal versuchen sollten, mit ihm zu reden – ganz offen und ehrlich - über alles, was war. Lea und ich wollten die Ursachen für unsere fast identische Probleme und Macken klären. Für uns, aber auch mit ihm. Wir haben es dann nicht getan, weil wir beide befürchteten, unsere Schonungslosigkeit und Offenheit könnte ihn umbringen. Wir hatten wieder mal Angst – dieses Mal allerdings wohl mehr um ihn als vor ihm. Wir haben etwas nicht getan, was wichtig für uns gewesen wäre. Tja, und dann ist er gestorben. In mir war nur ein Gefühl: Jetzt lässt er mich für immer alleine! Er verdrückt sich wieder mal, ohne sich mit mir auszusprechen! Mit seinem Tod wurde mir wohl endgültig klar, dass ich es jetzt ganz alleine für mich klären muss.«
»Leider ist es fast immer so, dass mit den Verletzern nicht geredet werden kann«, sagte Dr. Jung »Das geht nicht! So eine Vergangenheit mit der betroffenen Person zu klären, ist fast ausgeschlossen. In Ausnahmefällen kann das vielleicht mal auf dem Sterbebett funktionieren.«
»Mit meinem Vater wäre es nicht gegangen. Trotzdem, schade!«
»Eins ist ganz wichtig: die lebenden oder verstorbenen Personen sind für unsere Arbeit hier völlig uninteressant. Es interessiert ausschließlich der Vater, unter dem die kleine Eva gelitten hat. Psycho-dramatisch werden in DeKiD die Aktionen im Wald noch einmal gelebt. Das Gute an diesen Aktionen ist, dass die kleine Eva ihre Wut herauslassen kann: >Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich bring` ihn um!!!< Wenn Sie das im Psychodrama tun, werden Sie danach erleben, dass Sie Ihrem Vater frei begegnen können. Das ist immer so und auch ganz natürlich! Wenn ich auf einen Menschen eine ganz tiefe Wut habe, dann kann ich doch mit ihm gar keinen natürlichen Kontakt haben. Ich kann ihm doch gar nicht normal begegnen und mit ihm reden. Diese Wut auf ihn ist stets und immer da. Ich beginne, mich zu verkrampfen, spiele eine Rolle, bin nicht mehr ich. Ist diese Wut aber ´rausgelassen, dann entwickelt sich ein normaler, natürlicher Kontakt wieder wie von selbst!«
Wie jetzt? Das ist doch verrückt! Hatte er gesagt, ich soll in den Wald gehen und meinen Vater totschlagen?? Never!! Das kann ich nicht!! Wieder war in mir so viel Angst vor ihm. Dabei lebte er doch gar nicht mehr...
Während mir tausend Gedanken durch den Kopf liefen, erzählte Dr. Jung von einem Mann, der seine Wut im Wald im Psychodrama ausgelebt habe. Tage später sei dieser Mann zu Dr. Jung gekommen und habe erzählt, dass sein Vater nach Hause gekommen sei und wieder mal seinen Bruder geschlagen hätte. Da habe er es ihm aber gezeigt. Richtig verprügelt habe er seinen Vater! Endlich! >Was???? Sie haben WAS getan?< habe Dr. Jung diesen Mann entsetzt gefragt. >Ja<, habe der Mann geantwortet, >Endlich habe ich mich gewehrt und meinen Vater so richtig vermöbelt.<
»Ich war fassungslos«, sagte Dr. Jung. »Das ist der falsche Weg! Dieser Mann hätte seine Wut im Wald herauslassen müssen und nicht an der realen Person. Dieser Mann hat in der Therapie schlecht gearbeitet! «
Oh ha! Ein vernichtendes Urteil!
»Warum erzähle ich Ihnen das?«
Tja, warum? Mein Vater war ja eh` tot.
»Sie haben und hatten keine Möglichkeit, im Kontakt mit Ihrem realen Vater etwas zu klären. Würde Ihr Vater noch leben und Sie hätten hier in Ohlstadt gut gearbeitet, dann wäre der Kontakt mit ihm frei, ohne Anstrengung. Diese Erfahrung machen alle Patienten. Lassen Sie Ihre Wut heraus! Wenn sie weg ist, werden Sie an das Grab Ihres Vaters gehen können und verzeihen...«
Er sah vor sich hin.
»Nein! Verzeihen wäre das falsche Wort. Sie können mit ihm auf einer liebevollen Basis kontakten. Sie haben dann hier...«, und wieder drückte er beide Hände flach auf seinen Bauch, »...ein Verständnis dafür, dass auch er Eltern hatte, von denen er mehr haben wollte, als er bekam. Dass auch sein Verhalten Gründe hatte. Alle Menschen, die sich so sehr abschirmen müssen wie Ihr Vater, die müssen sich gelegentlich erleichtern. Dies geschieht meistens mit Alkohol. Nach Ihrer Arbeit im Wald fließt Ihre Liebe wieder - und sie wird dann aus Ihrem Herzen kommen. Aber, zuerst müssen Sie arbeiten!!! Das ist ganz wichtig! Und, noch eins: Sie dürfen kein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie im Wald Ihren Vater verprügeln oder totschlagen. Es geht hier um die kleine Eva, die sich befreien muss. Und das geht nur so!«
Ich nickte, obwohl ich mir noch immer sicher war, das niemals zu können.
»Als nächstes ist es jetzt notwendig, dass Sie sich das, was die große Eva mir heute erzählt hat, noch einmal von der kleinen Eva erzählen lassen. Die Kleine weiß nämlich noch viel, viel besser, was damals geschehen ist und, wie sie sich gefühlt hat. Sie hat die ganzen Emotionen in sich. Die Kleine muss jetzt alles im Gespräch und später in den Aktionen im Wald herauslassen dürfen. >Munition<, so nenne ich das, ist die Kurzfassung einer schlimmen Situation für die Kleine. Das Verdreschen wegen der Schildkröten, das Sitzenlassen in Kneipen... und... und... und.... Der Vater hat nicht Recht!!! Die Art, Kindern durch Prügel beizubringen, was richtig und was falsch ist, ist falsch.«
Wieder schlug seine geballte Faust auf das Tischchen.
Dann fuhr er ganz ruhig fort: »Es kommt aber noch etwas hinzu: Wenn Sie sich als Große das Verhalten Ihres Vaters erklären oder vielleicht sogar noch entschuldigen, dann ist das Verrat an der kleinen Eva. Hier müssen Sie ganz wach sein! Wenn die Kleine anfängt, mit Ihnen zu sprechen, müssen Sie ganz doll aufpassen! Sie dürfen nicht die Rolle des Vaters übernehmen, indem Sie sagen >Ja, aber Du hättest ja auch ein bisschen besser auf die Schildkröten aufpassen können.< NEIN!!!! Verraten Sie Ihr Kind nicht! Die kleine Eva hat gespielt und das steht ihr zu. Sie ist nicht der Aufpasser von Schildkröten...«
Wie er dieses Wort >Schildkröten< ´rauswürgte... Schon toll…
»Selbst, wenn der Vater das tausendmal von Ihnen erwartet hat! Die kleine Eva war guten Willens. Sie wollte ja aufpassen. Aber, dann hat sie gespielt, war vertieft in ihrem Spiel. Sie war Kind! Das ist natürlich!! Das ist nicht schuldhaft! Und, das darf schon mal gar nicht bestraft werden! Ein Kind kann behutsam an Pflichten herangeführt werden - auf eine liebevolle Weise, ja. Aber, doch nicht soooo!«
Gedankenverloren schüttelte er seinen Kopf.
»Die kleine Eva weiß doch gar nicht, was da passiert ist. Sie hat doch nur gespielt! Was war daran denn so schlimm? Alle Begründungen für die Prügel kamen dann später von Ihrem Vater, von Ihrer Mutter. Das Kind übernimmt diese Begründungen als richtig und wahr. >Ja ja, mein Vater ist nicht böse! Er hat ja einen Grund gehabt! Ich war böse, ich war schuldig!<«
Aber, so war`s doch auch ein bisschen? Hätte ich... Als könnte Dr. Jung meine Gedanken lesen, rief er:
»NEIN! ER HATTE KEINEN GRUND!!!«
Der Kassettenrekorder vibrierte, als seine Faust heftig auf dem kleinen Tischchen landete.
»Ihr Vater hat sie nicht lieb gehabt. Deshalb hat er sie mit Prügel bestraft!«
»Mir fällt noch eine Situation ein, die für mich als Kind ebenso furchtbar war. Die ganze Familie sitzt am Küchentisch beim Mittagessen. Es gab einen Eintopf, den ich bis heute hasse. Meine Mutter hatte, obwohl sie es wusste, einen Riesenberg auf meinen Teller gepackt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den jemals essen sollte. Mir war schlecht! Mein Vater sah mir eine Zeitlang zu, wie ich Bissen für Bissen von diesem Zeug ´runterwürgte. Irgendwann, alle waren schon fertig, sprang er auf, holte den mir bekannten Rohrstock, legte ihn vor meinen Teller und sagte >Iss!!< Ich fing an zu weinen. Aus Angst und, weil mir immer noch kotzübel war. Ich wusste einfach nicht, wie ich das restliche Essen durch meinen Hals bekommen sollte...«
Bei dem Gedanken an diese Szenerie wurde mir jetzt noch ganz schlecht. Ich sah noch immer diese eiskalten Augen meines Vaters ungeduldig auf mich gerichtet, jede Bewegung meiner Gabel - in das Essen - zum Mund - wieder in das Essen - verfolgend. Ich konnte einfach nicht mehr!!! PAPA!! BITTE!! Ich kann nicht mehr!!
»Aber, alles Flehen half nichts! Und, so aß ich Bissen für Bissen! Inzwischen saßen nur noch er und ich an dem Tisch. Meine kleine Schwester spielte schon im Garten. Ich wollte auch! Also aß ich diesen ganzen verdammten Scheißteller leer. Den letzten Bissen behielt ich im Mund. Als mein Vater endlich vom Tisch aufgestanden war, kotzte ich den ganzen Riesenberg zurück auf den Tisch. Tja, und dann gabˋs Sänge!!«
»Poah«, sagte Dr. Jung. »Eine ganz, ganz dicke Munition! In DeKiD erstellen die Patienten sogenannte Munitionslisten. Sie müssen auch eine solche Liste erstellen, auf der sie alle diese Szenen als Munitionen aufschreiben. Nehmen Sie ein DIN-A4-Blatt und schreiben Sie alles auf...«
»DIN-A4 wird nicht reichen...«, warf ich ein.
»Diese Liste können Sie immer bei sich tragen und ergänzen. Es reicht aus, wenn Sie die einzelnen Szenen nur stichpunktartig notieren, mit einem Wort, einem Satz – zum Beispiel >Essen, Stock vorm Teller<. Wichtig ist, dass wir nicht nur mit der Großen arbeiten! Die Kleine muss das Ganze erzählen. «
Ich würde mir einen DIN-A3-Block zulegen.
»Jetzt«, sagte Dr. Jung, »möchte ich Sie in die Arbeitsweise von DeKiD einführen. Sie ist lächerlich einfach. Zu Hause in Ihrem Zimmer stellen Sie zwei Stühle einander gegenüber...«
Dr. Jung stand auf und platzierte zwei Stühle in die Mitte des Raumes. Sie standen sich gegenüber, ungefähr einen Meter auseinander.
»In dem einen Stuhl sitzt die kleine Eva. Sie sollten sich alte Kinderfotos ansehen, auf denen Sie im Alter von etwa vier oder fünf Jahren abgebildet sind. So haben Sie ein Bild der Kleinen vor Augen. Es ist für unsere Arbeit in DeKid ganz wichtig, dass Sie die kleine Eva tatsächlich vor sich sehen, so, wie sie da vor Ihnen in dem Stuhl sitzt und Ihnen, der großen Eva, zuhört. Um es sich am Anfang zu erleichtern, können Sie zunächst auch ein Kissen in diesen Stuhl legen. Irgendwann sehen die meisten DeKiD-Patienten ihr Kind auf dem Stuhl sitzen. Sie können beschreiben, wie es mit den Beinen schaukelt, dass es Zöpfchen hat, aus dem Fenster sieht, lacht oder weint. Weil es anfänglich schwierig ist, kann das Kissen dabei eine Hilfe sein. Sie, die große Eva, setzen sich auf den zweiten Stuhl, der Kleinen gegenüber.«
Tja, da war ich ja mal gespannt! Bis jetzt konnte ich mir nicht mal vorstellen, mich in mein Zimmer zu setzen und Selbstgespräche zu führen. Zum Glück konnte mich ja keiner sehen. Damit mich auch keiner hörte, würde ich flüstern.
»Dann kommt das Einleitungsgespräch«, erklärte Dr. Jung weiter. »Sie können alles sagen, was Ihnen gerade einfällt. Wichtig ist, dass Ihnen stets bewusst ist, dass Sie mit einer Person reden. Sie werden im Laufe der vier Wochen noch staunen, was und wie viel Ihnen von dem anderen Stuhl erzählt wird. Sie werden lernen müssen, die Kleine zu achten! Das ist ganz wichtig! Das Kind ist klug und meistens viel stärker als die Große! So, wie Freud es gesagt hat: >Das ICH reitet auf dem ES. Bei einem Herzinfarkt passiert es zum Beispiel, dass das ICH dem ES die Sporen gibt. Das ES wirft das ICH ab und das ICH landet im Graben. Das ES - das Kind - ist immer stärker!«
Wieso fiel mir jetzt mein Traum ein?
»Es ist wichtig, dass Sie lernen, mit diesem Kind umzugehen. Es ist anfangs nicht einfach, mit einem Kind zu reden. Wie spreche ich es an? Was sage ich ihm? Wird es mich verstehen? Ich würde zum Beispiel nie mit einem Kind reden, ohne in die Hocke zu gehen. Ein Gespräch auf einer Ebene - nicht von oben nach unten! Kontakten auch Sie mit Ihrem Kind, mit der kleinen Eva.«
Wenn das man gut geht...
»Es kommen viele unangenehme Aufgaben auf Sie zu, die Sie bis heute so nie ausführen mussten. Nehmen Sie Kontakt auf. Dafür müssen Sie die kleine Eva ansprechen, weil sonst kein Kontakt zustande kommen kann. Ich gebe Ihnen noch einen Tipp: Wenn ich mit meinem kleinen Klaus rede, dann beginne ich meistens damit, dass ich ihm erzähle, was mir passiert ist. Sie könnten sich also hinsetzen und der Kleinen erzählen: >Du, mir passieren da so merkwürdige Dinge! Ich laufe einem Mann weg, den ich lieb habe. Und, ich weiß gar nicht, warum?! Eigentlich will ich das überhaupt nicht. Ich weiß nicht, warum ich das alles mache. Aber eins weiß ich: Das bist DU! Du machst das in mir! Ich möchte das loswerden und dafür brauche ich Dich. Du musst mir alles noch mal erzählen. Und, ich verspreche Dir, dass ich Dir helfen werde! Wichtig ist nur, dass Du mir alles erzählst!< Auch Ihr Kind schreit: HILF` MIR!! Wenn Sie Ihr inneres Kind befreien, werden Sie frei sein. Wichtig ist das Entstehen eines Dialoges zwischen Groß und Klein. Deshalb muss die Große mit einer Frage aufhören. Nur so kann die kleine Eva antworten.«
Na gut...
»Nachdem Sie eine Frage formuliert haben, stehen Sie als Große auf und setzen sich auf den anderen Stuhl. Das Kissen können Sie in den leeren Stuhl legen. Jetzt sind Sie die kleine Eva. Überstürzen Sie nichts! Machen Sie die Augen zu, versuchen Sie, ganz ruhig zu sein! Auch, wenn es minutenlang dauert - egal. Versuchen Sie, die Kleine zu sein. Vielleicht fällt Ihnen zunächst irgendetwas ein, das gar nichts mit der Frage zu tun hat. Das ist auch okay. Lassen Sie zunächst alles zu. Dann aber ist es wichtig, auf die Frage, die Sie der Kleinen gestellt haben, zurückzukommen. Versuchen Sie mal, ob Sie eine Antwort haben. Vielleicht entsteht zunächst ein Bild vor Ihrem geistigen Auge. Ihre Aufgabe als Kleine ist es jetzt, jedes Bild, das in Ihnen hochkommt, in Sprache umzusetzen. Die kleine Eva mit ihren vier oder fünf Jahren kann sprechen. Deshalb sollen Sie laut - nicht nur in Gedanken - reden! Übersetzen Sie die Bilder der kleinen Eva, egal, was es für Bilder sind. Wenn Sie die Kleine im Garten sitzen sehen, dann sagen sie laut >Ich sitze im Garten<. Wenn das alles ist, was Sie sehen und wirklich nicht mehr Bilder hochkommen, dann stehen Sie auf, setzen sich wieder auf den anderen Stuhl und fragen die kleine Eva, was sie in dem Garten macht. Danach wechseln Sie wieder die Stühle und setzen sich erneut auf den Stuhl der Kleinen. Die kleine Eva wird Ihnen antworten, da bin ich ganz sicher. Vielleicht noch nicht heute, vielleicht noch nicht morgen. Es kommt darauf an, wie offen die kleine Eva für die große Eva ist. Sie hat so lange darauf gewartet, dass Sie sie ansprechen! Es kann sein, dass die Kleine ein bisschen beleidigt oder ein bisschen trotzig ist. >Pö! Jetzt, auf einmal, wo`s Dir schlecht geht, willst Du mit mir reden? Nee Du, so nicht. Damit komm` jetzt auch mal alleine klar<. Seien Sie geduldig, geben Sie der Kleinen Raum und Zeit. Sie ist da und sie wird irgendwann auch mit Ihnen sprechen!«
Das klang ja wirklich toll. In mir soll also ein kleines Kind sitzen, ich in klein, das mit mir kommunizieren kann!? Ist doch irgendwie schön, sich das vorzustellen! Ein Kind! Ich! Klasse!
»Der liebevolle Kontakt ist bei DeKiD das Wichtigste! Das Dreschen später im Wald auch. Aber, der innige Kontakt steht über allem. Wenn der nicht da ist, geht gar nichts!«
»Also!«, freute sich Dr. Jung. »Das ist die nächste Hausaufgabe: Stellen Sie den Kontakt zu der kleinen Eva her. Wenn das Gespräch zu Ende ist, dann versuchen Sie bitte, das ganze Gespräch aufzuschreiben, so, wie Sie es geführt haben. Am besten wörtlich! Wenn der Dialog nicht gut gelaufen ist, ist es noch wichtiger, alles möglichst ausführlich aufzuschreiben. Alles, was Sie als Große oder Kleine gesagt, was Sie gefühlt oder gedacht haben auf beiden Stühlen. Nur dann kann ich Ihnen in der nächsten Stunde helfen. Vielleicht geht`s dann beim zweiten Mal schon viel besser! Aber, ich glaube, es wird auch jetzt schon ganz gut gehen!«
Und, wenn nicht?? Shit, schon wieder so etwas wie Leistungsdruck, der in mir hochkam. So`n Blödsinn! Hör` auf damit!! Du bist nicht in der Schule! Du bekommst keine Zensuren! Außerdem sieht und hört Dich doch niemand! Also!? Ganz ruhig! Wird schon schiefgehen.
»Ich kann mir sogar vorstellen, dass Ihre kleine Eva anfängt zu reden und gar nicht wieder aufhört.«
»Vorstellen kann ich mir das auch. Da ist so viel in mir, was ´raus muss.«
»Wenn die Kleine losplappert und es Ihnen, der Großen, zu viel wird, dann unterbrechen Sie sie. Setzen Sie sich zurück auf den Stuhl der Großen und sagen liebevoll >Oh, das ist ja toll, was Du mir alles erzählen willst. Aber, weißt Du, es geht nicht alles auf einmal. Lass` uns doch erst mal zusammen versuchen, diese oder jene Geschichte zu Ende zu bringen. Und danach erzählst Du mir dann weiter, ja?<«
Ich sah ein Kind und einen Erwachsenen vor mir... Würde ein Erwachsener so mit einem Kind reden? Würde ich das können? Und dann noch zu mir selber?
»Eine ganz wichtige Sache ist das Zuhören. Viele meiner Patienten mussten erst mal wieder lernen, zuzuhören. Das hatten sie verlernt. Das, was die Kleinen sagen, ist so wichtig, so stark und so voller Kraft und Echtheit. So könnte es Ihnen sonst niemand sagen. Da...« sagte Dr. Jung und zeigte auf den >kleinen< Stuhl. »…auf dem Stuhl sitzt Ihr Therapeut und, der weiß so viel mehr als ich.«
Wir sahen beide auf die leeren Stühle, die wie verloren mitten im Raum standen.
»Meine Aufgabe ist es«, fuhr Dr. Jung fort, »in der auf das Gespräch zu Hause folgenden Therapiestunde genau aufzupassen, ob Sie alles verstanden haben, was der kleine Mensch gesagt hat. Es kommt oft vor, dass ich einem Patienten sagen muss >Ey, hör` mal, Sie haben doch gar nicht richtig zugehört! Was sagt denn der/die Kleine?< Und, auf einmal versteht der Patient die Worte wirklich. Obwohl er sie selbst aufgeschrieben hatte, hatte er sie nicht gehört und verstanden. Das kommt immer dann besonders oft vor, wenn der kleine Mensch den großen kritisiert. Kritik wird gerne überhört. Erst recht, wenn sie von einem Kind kommt. Und - dazu kommen wir dann später noch - dann ist die Aufgabe der Großen, diese Kritik an die Kleine zurückzugeben >Ey, warum machst Du das in mir? Du bist es doch, die das oder das macht. Warum? Was ist los? Komm, Kleine, erzähle es mir! Wo kommt das her?< In DeKiD werden wir stets versuchen, an die jeweilige Wurzel zu kommen. Denn, genau da muss gearbeitet werden.«
Dr. Jung stand auf und nahm ein Buch von seinem Schreibtisch.
»Zur Motivation werde ich Ihnen jetzt aus einem wunderschönen Buch von Bruce Davis >Das magische Kind in mir< vorlesen. Dieses Buch habe ich erst nach vielen Jahren meiner Arbeit in die Finger bekommen, habe die Einleitung gelesen und war fasziniert, wie treffend Bruce Davis sich ausdrückt. Um Sie zu motivieren, den Kontakt mit Ihrem inneren Kind herzustellen jetzt also die Einleitung aus diesem Buch...«
Er begann vorzulesen: »In jedem von uns sitzt ein Kind, das schreit: >Hör` mir zu! Ich habe es satt, Tag für Tag ignoriert zu werden. Du gehst zur Arbeit, Du gehst mit Deinen Freunden aus, Du schläfst, Du isst, Du lebst, als wenn ich gar nicht da wäre. Gelegentlich nimmst Du Notiz von mir, wenn Du deprimiert bist oder krank im Bett liegst. Aber, was machst Du Dir WIRKLICH aus mir? Fragst Du mich je, was ich eigentlich will? Ich sitze hier und warte und warte....« leierte Dr. Jung ungeduldig, »... dass Du mich endlich einmal wahrnimmst. Zuerst haben Deine Eltern Teile von mir ignoriert und dann hast Du da weiter gemacht, wo Deine Eltern aufhörten! Kannst Du Dich an mich erinnern?«
Die Stimme Dr. Jungs wurde jetzt ganz warm und weich.
»Ich bin Deine Gefühle, Deine Träume und Phantasien. Ich bin derjenige, der immer gern in den Park ging, Ich bin derjenige, der gern Pizza isst, der Bonbons, Berge und den Sonnenschein liebt und der spielen will!«
Was für eine Freude lag in seiner Stimme!
»Ich bin der, der in den Arm genommen werden und hören will, dass er geliebt wird. Ich bin das Kind in Dir! ICH BIN DU!!!! « rief er.
»Es ist mir egal, dass Du jetzt erwachsen bist. Wieso musst Du mich deshalb vergessen? Wieso können Erwachsene nicht Spaß am Leben haben wie die Kinder? Wieso muss Erwachsensein heißen, dass das Kind in Dir versuchen muss, nicht da zu sein? Glaub` mir, es ist nicht leicht, in Deiner Erwachsenenwelt zu leben, in dieser Welt, in der ständig gekämpft wird. Was glaubst Du, wie ich mich fühle, wenn Du mich beim Essen vollstopfst, während Du mit Deinen wichtigen... «
Wie er dieses Wort herauswürgte!
»... Freunden redest, mit Leuten, die Du in Wirklichkeit gar nicht leiden kannst? Wohin soll ich gehen, wenn ich wütend bin und Du mich nicht hörst? Dann wunderst Du Dich, wenn Du dick wirst und Verstopfung hast. Woher glaubst Du, kommen Deine Probleme? Ich weiß (...leier...leier....), Du brauchst Deine wichtigen Freunde. Du musst Deinen Lebensunterhalt verdienen. Ich weiß, dass Du für andere sorgen musst. Aber, ist Dir jeeeee in den Sinn gekommen, dass Du von anderen einige Dinge nicht so dringend brauchen würdest, wenn du MEIN Freund wärst?
Hast Du je daran gedacht, dass Du vielleicht nicht so viel Einkommen brauchst, um mich zufriedenzustellen, wenn Du auf Deine Gefühle und Deine kleinen Wünsche achten würdest? Hast Du je daran gedacht, dass es Dir vielleicht nicht so eine Last wäre, für andere zu sorgen, wenn Du zu DIR ein bisschen netter wärst?
Ich weiß, Du versuchst, eine bessere Stellung zu bekommen, damit Du mehr Zeit für mich hast. Ich habe die verschiedenen Therapien, die Du ausprobiert hast, gespürt. Sie haben Dich Teilen von mir wieder näher gebracht. Ich möchte aber, dass Du mich GANZ kennst. Ich mag nicht mehr andere um mich haben, die drängeln und schieben und nach mir herumfischen. Du sollst MICH kennenlernen! Ich erwarte nicht, dass Du Dich über Nacht änderst...«
Jetzt war seine Stimme wieder ganz sanft....
»Ich habe schon soooo lange darauf gewartet, dass Du mich erkennst. Ein Teil von mir, wird ehrlich gesagt, NIE verstehen, wie Du so mit mir umgehen kannst (...ganz traurig....). Wieso ist es so schwierig für Dich, so zu sein, wie Du sein willst? Wenn ich Dein leibliches Kind wäre, würdest Du mir doch auch zuhören und wissen wollen, wie es mir geht. Ich BIN buchstäblich DEIN KIND, weißt Du? Du hast nur gelernt, mich nicht zu sehen....«
Ich hatte wie hypnotisiert zugehört. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich merkte es erst, als Dr. Jung mich schweigend ansah. Wahnsinn! Ich hatte tausend Gefühle im Bauch: Diese Worte taten weh. Sie rührten mich an. Sie berührten meine Seele! Ich sah vor mir ein Kind liegen, so sehr verletzt, blau geschlagen, blutend, weinend, schreiend... Es lag da. Ich konnte es sehen. Aber, mehr nicht. Ich hatte Angst, mich diesem Kind zu nähern! Konnte ich mit ihm umgehen? Konnte ich diesem leidenden Kind helfen? Ja, ich wollte ihm helfen!! Aber, war ich dazu überhaupt in der Lage? Und, wenn ja, wie? Die Wunden verbinden? Womit? War ich stark genug, dieses Kind zu lieben? Im Augenblick spürte ich nur Mitleid und Schmerzen. Dieses Kind tat mir so leid! Arme kleine Eva!!
»Eigentlich habe ich jetzt die kleine Eva gedoppelt. Im Psychodrama ist das Doppeln eine Form eines Spiels: In einer Gruppe spielen einzelne Personen eine Rolle - Mutter, Vater, Onkel, Oma. Die anderen, die nicht spielen, hören zu und können eingreifen, wenn eine Szene ins Stocken gerät. Dann stellt sich ein anderer aus der Gruppe hinter diese spielende Person und spricht für sie diese Rolle. Das nennt man Doppeln. Ich habe gerade beim Vorlesen die kleine Eva gedoppelt.«
»Ja, das habe ich gespürt!«
»Gut«, sagte er. »Dann versuchen Sie doch mal, den ersten Kontakt herzustellen. Ich bin schon ganz gespannt, was dabei herauskommt.«