Читать книгу Das Innere Kind in Dir - Eva-Maria Thal - Страница 15

Das erste Gespräch

Оглавление

Der nächste Tag war mit Wanderungen ausgefüllt, so dass ich lediglich dazu kam, mir die Kassette der zweiten Stunde noch einmal anzuhören. Diese Einleitung von Bruce Davis... Ich spulte die Kassette immer wieder zurück. Mit Tränen in den Augen hörte ich es mir mehrmals hintereinander an. Wie treffend hatte er es ausgedrückt. Das alles hätte ich genau so meinem Vater sagen können. Sagen müssen? Tja, nun war`s zu spät! Wie hatte Dr. Jung noch gesagt? Vermutlich hätte ich es nie mit meinem Vater klären können. Sicher ist zumindest, dass er es niemals verstanden hätte! Warum sollte er auf einmal etwas verstehen, was er vorher auch nicht gesehen hat? Also! Ich musste es mit mir alleine klären. Das war jetzt MEIN Weg!

Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem dicken Kloß im Hals. Oh nein, bitte nicht schon wieder so ein depressiver Tag! Mir ging`s doch eigentlich ganz gut hier! Was war denn jetzt schon wieder los?

Ich hatte auf einmal das Gefühl, mit jemandem reden zu müssen. Mit niemandem hier in Ohlstadt. Nein, mit einem Freund in Berlin. Nicht mit Rainer. Aber, mit wem?

Da fiel mir Eddy ein, ein Freund, der mir zum Abschied eine Musikkassette in die Hand gedrückt hatte. Das erste Stück hierauf hieß >That`s what friends are for<. Genau! Den würde ich jetzt anrufen. Der würde mich verstehen.

Nach dem Telefongespräch ging es mir besser. Oh, es tat gut, Freunde zu haben, die einfach nur zuhörten. Ja, das hatte ich gebraucht!

Nach den Wanderungen dieses Tages und dem Abendessen in fröhlicher Runde verabschiedete ich mich von den anderen - nicht ohne mich vorher zu vergewissern, wo ich sie später am Abend noch finden könnte. Man kann ja nie wissen.

Ich ging in mein Zimmer zurück, hörte mir noch einmal Bruce Davis an. Irgendwie musste ich mich jetzt auf dieses Kind einstimmen. Schließlich wollte ich ja den ersten Kontakt herstellen. Witzig! Es war noch immer ein fremdes Kind. Das war noch nicht wirklich ich.

Ich versuchte, mich in dieses Kind hineinzuversetzen. Ich wollte dieses Kind sein, dass seinem Erwachsenen-Ich all` das sagt. Gleichzeitig merkte ich aber, dass ich diese Worte meinem Vater sagte, nicht mir.

Ach egal, einmal musste ich es ja doch wagen.

Ich stellte zwei Stühle einander gegenüber. Ich setzte mich auf den einen Stuhl, auf den anderen legte ich ein Kissen. Da saß ich nun, die Beine übereinandergeschlagen, die Ellenbogen auf meinem Bein, das Kinn auf die zu Fäusten geballten Hände gestützt und sah, leicht vornüber gebeugt, dieses Kissen an. Ich musste jetzt also mit diesem Kissen, quatsch, mit diesem Kind sprechen... Ich sah auf das Kissen... Mein Blick schweifte unruhig durch den Raum... War die Tür zu? Hatte ich das Fenster geschlossen? Hoffentlich hörte mich niemand! Sehen würde mich ja wohl keiner. Oh Mensch, warum war das so schwierig, einfach anzufangen. Was wollte ich denn diesem Kind überhaupt sagen? Was würde ein Kind interessieren? Was interessierte mich am meisten?

Nach einer Ewigkeit fing ich ganz leise an zu sprechen:

»Hey, Kleine. Ganz schön schwierig, mit Dir zu reden... Ich weiß aber, dass ich anfangen möchte, Dich mehr zu beachten. Ich sehe Dich nicht. Du bist nicht immer da. Oft schläfst Du. Ganz selten bist Du wach, um mir zu sagen, wie es Dir geht.«

Gut! Der Anfang war gemacht... Was jetzt? Ach ja! Ich musste ja noch eine Frage stellen... Okay... Also...

»Kleine, warum schläfst Du immer?«

Das war doch eine gute Frage. Genau das wollte ich wissen.

Ich setzte mich auf den anderen Stuhl. Hier sollte also jetzt das Kind sitzen... Komisch... Irgendwie fühlte ich mich unwohl... Ach egal! Komm, antworte jetzt auf die Frage. Das war schließlich die Hausaufgabe... Während ich noch über die Antwort nachdachte, fiel mir auf, dass die Frage ganz schön schwierig war…

Ich saß ewig lange auf diesem Stuhl und konzentrierte mich auf die Frage. Was würde das Kind darauf antworten?

Mir wurde meine Jeans zu eng. Ich zog Schuhe und Hose aus, schlüpfte in meinen Jogginganzug und setzte mich wieder hin. Also, noch mal... Warum schlafe ich immer?

Es passierte nichts.

Ich zog meine Beine hoch auf den Stuhl, umschlang sie mit meinen Armen. Ja, schon besser! Meinen Kopf legte ich auf meine Knie, schloss die Augen und wippte leicht vor und zurück. Nach einer Ewigkeit begann ich, ganz langsam leise zu sprechen...

»...weil Du mich ja doch nicht hörst. Manchmal schlaf` ich gar nicht... Manchmal bin ich hellwach...«

Pause! Wollte ich noch mehr dazu sagen? Lieber noch etwas warten...

»Aber, wenn ich dann mal wach bin«, hörte ich mich selber flüstern, »dann willst Du mich ja gar nicht. Du ignorierst mich. Deshalb habe ich mir irgendwann gesagt, dass ich auch schlafen kann.«

Ich wechselte die Stühle und sah jetzt wieder auf dieses Kissen in dem kleinen Stuhl. Das Kind hatte also tatsächlich etwas gesagt. Schon erstaunlich. Aber, was nun? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ein >normales< Gespräch jetzt weiter verlaufen würde. Unter normalen Umständen würde ich meinem Gesprächspartner jetzt vermutlich sagen, dass ich das ändern will.

»Ja.... also...«

Mein Gott, war das blöd, so mit einem Kissen zu sprechen...

»... also... ich möchte anfangen, Dir zuzuhören, mit Dir zu reden und Dich zu beachten. Du bist mir nämlich ganz wichtig.«

Na, so ganz war das wohl noch nicht so. Ich wollte es wirklich, keine Frage! Aber, im Moment spürte ich noch nicht die Wichtigkeit dieses Kindes für mich. Aber, was nicht ist, kann ja noch werden…

Nun musste ich aber ja auch noch ein Gespräch führen. Tja, worüber wollte ich denn reden? Bloß nichts Trauriges, lieber etwas Angenehmes... Schließlich wollte ich mir den Abend ja nicht schon im Vorfeld selber vermiesen.

»Gut, Kleine«, begann ich, »dann lass` uns doch einfach mal anfangen, zu reden. Erzähl` mir doch mal, was früher schön war. Kannst Du Dich an etwas Schönes erinnern? Und, wenn ja, an was und wie hast Du Dich da gefühlt?«

Ja, das wollte ich wissen. An etwas Schönes konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Oder? Das war ja jetzt richtig spannend...

Ich setzte mich wieder auf den Stuhl der Kleinen, zog meine Beine an, umschlang sie mit meinen Armen und begann wieder, vor und zurück zu schaukeln. Ganz, ganz langsam sah ich ein Bild vor mir, zunächst ganz verschwommen, aber es wurde zunehmend klarer...

Ich lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, zugedeckt mit Kissen und Decken. Es war ganz kuschelig und warm. Es gab Kakao und Kuchen. Ich war krank, hatte Masern oder Windpocken. Alle waren ganz lieb und nett zu mir. Dieses Gefühl war einfach klasse! Meine Mutter war da, als ich sie brauchte. Ich war krank und sie pflegte mich. Schön war das!

Dann tauchte noch ein Bild auf. Ich hatte meinen Arm gebrochen, ich war vielleicht fünf Jahre alt... Und da! Noch eins: Es ist Winter. Schlittenfahren mit Papa - einen Berg hinunter. Ich hatte Angst. Aber er war da und hielt mich fest. In seiner Nähe habe ich mich sicher gefühlt. Es konnte mir nichts passieren...

Oh! Noch ein Bild! Aber, das war ich ja gar nicht. Das war doch Lea, meine Schwester! Witzig! Was war das denn? Das hatte doch gar nichts mit mir zu tun. Mein Vater trug meine Schwester Huckepack die Treppe ´rauf ins Bett. Sie war damals noch klein. Ich war ja vier Jahre älter und viel zu schwer und zu groß. Schön, wie Lea sich freute!

Ich beschrieb mir selbst alle Bilder, die ich sah. Als nichts mehr passierte, setzte ich mich wieder auf den Stuhl der großen Eva. Ich merkte, dass das aber jetzt nicht nur etwas Schönes war, was die Kleine gesehen hatte. Ich fühlte mich auf einmal gar nicht mehr so richtig gut. Das musste ich jetzt klären.

»Warum fühlst Du Dich denn jetzt nicht so richtig gut? Hat es damit zu tun, dass Papa Lea und nicht Dich ins Bett brachte? Warst Du deshalb traurig?«

Ich wechselte wieder die Stühle und die Sitzhaltung, bevor ich sagte:

»Nee, eigentlich war ich nicht traurig. Ich habe das ja verstanden! Ich war doch schon groß und viel zu schwer. Dafür hat Papa ja andere Sachen mit mir gemacht, die auch schön waren.«

Erst jetzt fühlte ich, wie erschöpft ich war. Ich hätte niemals gedacht, dass die Kontaktaufnahme so schwierig sein würde. Wie sollte ich denn das Gespräch jetzt beenden? Vielleicht, indem ich der Kleinen zum Abschluss etwas Nettes sage. Ich setzte mich auf den anderen Stuhl.

»Kleine, ich finde es toll, dass Du mit mir gesprochen und mir etwas Schönes erzählt hast!«

So, das reichte aber jetzt auch fürs Erste. Schließlich musste ich das alles ja auch noch aufschreiben. Alles ist wichtig, hatte Dr. Jung gesagt. Also los.

Ich schrieb alles, was ich gesagt hatte, wörtlich in mein Tagebuch und wollte schon aufstehen, als mir noch etwas auffiel. Vermutlich war das gar nicht wichtig. Aber, besser isses wohl, jeden Gedanken zu notieren. So beschrieb ich noch stichpunktartig meine Sitzhaltungen. Okay, das war nun aber auch genug.

Ich zog mich schnell wieder an und rannte in die Kneipe. Hoffentlich waren die anderen noch da...

Das Innere Kind in Dir

Подняться наверх