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Auf meinem Weg

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An einem Donnerstagmorgen Ende August startete ich mit meinem Auto Richtung München. Zwanzig Kilometer vor Ohlstadt hielt ich auf einem Rastplatz an.

Ich wollte nicht ankommen. Wohin würde mich dieser Weg führen? Wenn ich es so recht bedachte, ging es mir doch eigentlich ganz gut. Also? Was machte ich hier? Wäre es nicht leichter, einfach umzukehren?

Doch dann fiel mir wieder ein Gedicht aus jenem Gedichtband von Norbert Esser ein, das ich so sehr liebte:

Unterwegs

Dein Körper schreit nach Zärtlichkeit

Du weißt - nur gelebte und erlebte Zärtlichkeit

lässt Dich das Morgen ertragen

Du triffst auf nackte Körper die vorgeben

zu wärmen - und Du frierst

die 37 Grad Körpertemperatur

- die Alltagswärme -

die kennst Du schon

die reicht nicht mehr!

Unterwegs

mit dem Schmerz im Mundwinkel

um das Wissen der Austauschbarkeit

das Streicheln ohne Hände

und

das Suchen nach Worten

die Du mehr fühlst als hörst

wo Vergangenes und Zukünftiges sich auflöst

doch

unter jedem Kopf quält sich ein anderer Körper!

Mach` Dich frei von sinnlosen Umarmungen!

Sonst treibst Du im «Naja« des Lebens

und erkennst nichts und niemanden

Unterwegs

in Sachen warmer Haut

Ja, das war`s doch! Genau das war doch der Grund, weshalb ich mich auf meinen Weg gemacht hatte. Ich wollte erkennen. Ich wollte mich finden!

Nachdem ich einige Zigaretten geraucht hatte, fuhr ich weiter. Ich bezog mein Zimmer auf dem Kurgelände, in dem ich mich sofort wohlfühlte. Von meinem Balkon hatte ich einen Blick auf einen wunderschönen Garten mit altem Baumbestand, dahinter stiegen sanft die Almen an, auf denen Kühe ruhig grasten. Ihre Glocken hörte ich bis zu mir. Dahinter dann die bayrischen Berge. Alles sah so anders aus als bei mir Zuhause …. Ein Idyll.

Abends fanden sich die 120 Kurgäste, die zeitgleich angereist waren, um die nächsten vier Wochen zusammen zu kuren, zum Abendessen ein. Ich versuchte sofort, Gleichaltrige ausfindig zu machen. Wie immer hatte ich Glück! Die sich hier versammelnden Menschen waren nicht, wie in dem Kurprospekt dargestellt, mindestens 60 Jahre oder älter, sondern tatsächlich - zumindest einige - erheblich jünger. Na, das sah doch schon mal vielversprechend aus. Aufatmen! Jetzt nur noch mit netten jungen, lockeren Leuten in eine Gruppe kommen, dann sind die 4 Wochen gerettet....

Tja, dieses Mal hatte ich Pech!

Als Privatpatientin gab es für mich nur die Möglichkeit, in die Chefarzt-Gruppe zu kommen. Wir trafen uns nach dem Abendessen und sofort stellte ich fest, dass nach mir ein 40-jähriger Polizist und zwei 46-jährige Kurler die Jüngsten waren. Natürlich war auch der Kurälteste, ein 68-Jähriger mit von der Partie. Na, super! Das konnte ja lustig werde. Und, schon wieder war der Gedanke da: >Bloß weg hier!<

Aber, bereits am nächsten Tag - ein langes Wochenende stand schließlich vor der Tür - hatte ich eine Clique von fünf Personen um mich versammelt, alle zwischen 21 und 28 Jahre alt. Mit ihnen hatte ich dann auch gleich am ersten Wochenende viel Spaß, besonders mit einem 24-Jährigen. Und je mehr ich mich auf diesen jungen Mann einließ, desto weiter entfernte ich mich von Dr. Jung.

Weshalb war ich eigentlich hier? Ging es mir mal schlecht? Wie und wann war das noch?

In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte ich einen merkwürdigen Traum:

Mein Freund Rainer, von dem ich mich getrennt hatte, ritt auf einem Pferd durch einen Fluss. Das Pferd war gesattelt und hatte Zaumzeug. Ich lief auf der Straße, die parallel zu dem Fluss verlief. Ich sagte zu Rainer: >Warum reitest Du denn in dem Fluss? Komm` doch auf die Straße. Das ist nicht so gefährlich!<. In diesem Moment stolperte das Pferd und riss auch Rainer mit in den Strom. Nach einer Weile tauchte mein Freund wieder an die Wasseroberfläche, stand in dem Fluss, das Zaumzeug und den Sattel in seinen Händen. Das Pferd galoppierte davon. >Lass` das Pferd nicht weglaufen!<, schrie ich >Lauf hinterher, hol` es zurück!< Völlig verzweifelt lief ich zu meiner Mutter. Ich musste irgendetwas tun. >Das Pferd ist weg!!! Hilfe!!< Meine Mutter reagierte völlig gelassen. >Ach, das kommt schon wieder! Lass` es laufen!<

NEIN!!!! Ich war voller Panik, weil ich wusste, dass das Pferd nicht zurückkommen wird. Ich rannte zur Garage, um mein Fahrrad zu holen. Ich musste etwas tun, das Pferd einholen! Irgendwie! Auf dem Weg zur Garage musste ich an dem Auto meines Vaters vorbei. Die Kofferraumhaube stand offen, beide Vordertüren waren geöffnet. Mein Vater lag quer auf den Vordersitzen. Als ich ihn sah, rief ich meiner Mutter zu >Was ist denn mit Papa los? Warum liegt der denn so merkwürdig in seinem Auto?< Meine Mutter sagte: >Es geht ihm ganz schlecht. Er hatte wieder Herzattacken und schafft es jetzt nicht mehr, ins Bett zu kommen. Deshalb liegt er da<. >Aber, wir können ihn doch nicht hier liegen lassen. Wir müssen doch was tun? Wollen wir nicht zusammen versuchen, ihn ins Bett zu bringen?<

Ich war völlig verzweifelt. >Papa!!! Papa!!!! Los, komm! Ich helfe Dir. Du musst versuchen, ins Bett zu kommen. Du kannst hier doch nicht liegen bleiben!!< Mein Vater antwortete: >Nein! Man muss wissen, wann es zu spät ist. Wann die Zeit gekommen ist, zu gehen. Meine Zeit ist jetzt gekommen.< >Dann bleib` da liegen<, dachte ich und holte mein Fahrrad. Auf dem Rückweg sah ich meine Schwester am Auto bei meinem Vater stehen. Als ich neben ihr stand, sah ich, dass mein Vater gestorben war. Das Merkwürdige war, wie er auf den Sitzen lag: wie ein Kleinkind in seinem Bettchen! Seine Arme hatte er hochgezogen und um seinen Kopf gelegt. Er lag friedlich und gelöst da, als würde er schlafen. Kein Bild, das mich erschreckte. Meine Schwester rannte entsetzt zu meiner Mutter. Als ich ihren Schrei hörte, wachte ich auf.

Ich lag hellwach in meinem Bett. Es war stockfinster und trotz des warmen Daunenbettes hatte ich eine Gänsehaut. Dieser Traum machte mir Angst. Es waren so klare Bilder, die ich noch immer ganz deutlich vor mir sah. Schrecklich... irgendwie...

Diesen Traum musste ich mir merken! Der hatte etwas zu bedeuten... Da ich sowieso nicht mehr schlafen konnte, machte ich das Licht an und schrieb ihn vorsichtshalber in mein Tagebuch. Man konnte ja nie wissen.

Am folgenden Montag sollte ich, so war es locker verabredet, um 18 Uhr zu Dr. Jung in sein Privathaus kommen. Deshalb rief ich ihn mittags an.

»Ja, hallo! Eva-Maria Thal hier...«

»Guten Tag, Frau Thal. Schön, dass Sie anrufen. Eigentlich habe ich Ihren Anruf schon früher erwartet. Sie sind doch schon seit letztem Donnerstag hier, oder?«

Ja, spinnt der? Was bildet der sich denn ein? Schließlich waren wir doch erst für heute Abend verabredet?

»Ja, also.... Ich rufe wegen des Termins heute Abend an... Ähm... also...«, stotterte ich vor mich hin. »Heute Abend findet im Kurhaus ein Diavortrag über Herzrhythmusstörungen statt, den ich unbedingt hören möchte. Leider kann ich dann heute nicht zu Ihnen kommen....«

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Hallo, sind Sie noch da?«, fragte ich.

»Ja, Frau Thal, ich bin noch da«, tönte mir eine ruhige, sachliche Stimme ans Ohr. »Wenn Sie heute nicht kommen, dann habe ich in den nächsten vier Wochen keine Zeit mehr für Sie.«

Jetzt war es an mir, sprachlos zu sein. »Okay, dann eben nicht«, sagte ich und legte auf.

Auf der nachmittäglichen Bergwanderung fluchte ich nur noch wütend vor mich hin. Was bildet sich dieser Typ eigentlich ein? Glaubt er, er kann, wie es ihm passt, über meine freie Zeit verfügen? Ein alter Tattergreis von fast 70 Jahren?! Was will der mir, einer Frau, und dann noch 40 Jahre jünger, überhaupt erzählen? Der ist doch gar nicht mehr im Geschäft! Was weiß der denn von meinen Problemen? Der kann doch SEX nicht mal buchstabieren, geschweige denn, darüber reden. Der ist doch jenseits von Gut und Böse! Nee! Also ehrlich! Eine Frechheit, wie der mich behandelt!! Typisch Mann!! Machogehabe hört wohl nie auf, auch mit 70 nicht! Vermutlich isser nur auf mein Geld scharf! Also, der wird an mir keinen Pfennig verdienen! Nee, nee, so nicht, mein Lieber! Nicht mit mir! Wirklich nicht!

Fluchend stapfte ich durch die Bergwelt. Ich war mir so sicher, dass ich alles brauchte, nur keinen alten Mann, der mir das Leben und die Welt erklärt.

Punkt 18 Uhr klingelte ich an der Haustür Dr. Jungs. Mit Herzklopfen erwartete ich einen Tattergreis am Stock...

Die Tür ging auf und als erstes sah ich zwei strahlende, glückliche, blaue Augen, die so viel Lebendigkeit in sich hatten, dass es mich stumm machte. Herzlich bat er mich, hereinzukommen.

So betrat ich zum ersten Mal sein Arbeitszimmer, das mir so wichtig werden sollte. Mit einem Blick erfasste ich den Raum: die vielen Bücher in den Regalen, die tausend scheinbar unsortierten Papiere auf dem Schreibtisch, zwei bequeme Sessel, die sich, getrennt von einem kleinen Tischchen, gegenüberstanden. Auf dem Tischchen stand ein Kassettenrekorder mit aufgeklapptem Deckel, bereit, eine Kassette aufzunehmen.

Während mir das Herz bis zum Hals klopfte, setzte ich mich in den Sessel, der das große Fenster hinter seiner hohen Rückenlehne hatte. Mein Mund war wie ausgetrocknet.

Und jetzt? Was sollte ich ihm bloß sagen?

Das Innere Kind in Dir

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