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2. Die objektive oder „echte“ Judenfrage

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Wenn wir oben davon sprachen, daß vor dem Eintritt der deutschen Judenkatastrophe die allgemeine Situation der Juden vielfach zu unproblematisch und optimistisch gesehen wurde, so meinten wir damit im wesentlichen, daß man diesen Gruppencharakter übersah. Wir kommen nun zu den Folgen des Gruppencharakters und damit zur Problematik des Antisemitismus selbst.

Die üblichen Formen der gegenseitigen Reaktion von Gruppen sind in ihrer Bedeutung für den Antisemitismus wiederholt entwickelt worden10. Gewöhnlich führte die Unterstellung des Antisemitismus unter den Oberbegriff der Gruppenfeindlichkeit zu der apologetischen Sicht, daß die Juden an der Entstehung des Antisemitismus völlig unschuldig seien.* Weniger zuversichtlich mußte demnach allerdings die Prognose für die Zukunft des Antisemitismus lauten, da schlechthin geleugnet wurde, daß er von seiten der Juden beeinflußt werden könne, es sei denn durch eine radikale Liquidation der Diaspora.

So fruchtbar es auch ist, den Antisemitismus unter der Kategorie der Gruppenfeindschaft zu betrachten – wir werden diese Betrachtungsweise noch sehr eingehend anzuwenden haben –, so enthält sie doch die Tendenz, einige wichtige Fragen zu vernachlässigen. Indem man in der Gruppeneigenschaft gewissermaßen ein Instrument zur Äußerung von Feindschaftsgefühlen sieht, die anderweitig nicht abzureagieren sind, und in der jeweiligen antisemitischen Ideologie einen reinen Vorwand, der in objektiven Tatsachen keine Stütze findet11, übersieht man den Umstand, daß in dem Zusammenstößen heterogener Gruppen sehr wohl ein objektives gesellschaftliches Problem liegen kann. Schon daß man hier ein Phänomen wie den Antisemitismus ohne Berücksichtigung seiner historischen Erscheinungsformen auf einen einzigen allgemeinen Nenner bringt, kennzeichnet die Schwäche der Theorie. Wer zu leugnen versucht, daß die Existenz der kulturell noch weitgehend fremdartigen jüdischen Gruppe zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder die Existenz fortwährend frisch ergänzter fremdnationaler Einwanderungsgruppen in den Vereinigten Staaten von Amerika echte gesellschaftliche Probleme darstellen, verstellt sich selbst den Einblick in die Zusammenhänge, die er zu durchleuchten versucht. Gruppenberührungen und Gruppenspannungen mögen ideale Entladungsmöglichkeiten für Haßgefühle bieten, die aus völlig anderen Quellen sich speisen, – ihre Bedeutung erschöpft sich jedoch nicht in dieser Eigenschaft.

Das Verhältnis einer Menschengruppe zu einer anderen dient nicht nur zur Entladung von Haßinstinkten fremden Ursprungs, es ist selbst die Ursache der Entstehung von Feindseligkeit. Sigmund Freud12spricht davon als von einer Elementar-Tatsache: „Von zwei benachbarten Städten wird jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeutschen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portugiesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat aufgehört uns zu verwundern … In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Abstoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, erkennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und sich so benimmt, als ob das Vorkommen einer Abweichung von seinen individuellen Ausbildungen eine Kritik derselben und eine Aufforderung, sie umzugestalten, mit sich brächte. Warum sich eine so große Empfindlichkeit gerade auf diese Einzelheiten der Differenzierung geworfen haben sollte, wissen wir nicht; es ist aber unverkennbar, daß sich in diesem ganzen Verhalten der Menschen eine Haßbereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, deren Herkunft unbekannt ist, und der man einen elementaren Charakter zusprechen möchte.“ In ähnlicher Weise sieht Trotter13 in der Ablehnung jeder Andersartigkeit die natürliche Auswirkung des von ihm angenommenen menschlichen Herdeninstinktes.* Das Glück der Identität des Individuums mit seiner Gruppe sei eine so wichtige gesellschaftliche Tatsache, daß in seiner Vollkommenheit und Unanfechtbarkeit geradezu die Kennzeichen des sagenhaften Goldenen Zeitalters gesehen werden müßten14. Selbstverständlich führe sie zu einem Ausschluß Fremder15.

Es bedarf nicht des Hilfsbegriffes „Herdeninstinkt“, um zu der in unserem Zusammenhang allein wesentlichen Feststellung zu kommen, daß der Kontakt zwischen einer in bestimmten Grundzügen einheitlichen Gruppe mit einer von ihr abweichenden zu psychischen Reaktionen führt, die der Störung einer vorher bestehenden absoluten oder relativen Ruhelage entsprechen. Es wird ein Prozeß ausgelöst, der durch Wiederanpassung an die neu geschaffene Situation zu einer Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts hinstrebt. Der neue Gleichgewichtszustand wird eine je nach dem Ausmaß der Störung größere oder geringere Verschiedenheit von dem vorher bestehenden aufweisen.

Der so bezeichnete Tatbestand ist der objektive gesellschaftliche Kern dessen, was wir die Judenfrage zu nennen gewohnt sind. Er ist nicht auf sie beschränkt, sondern tritt überall in Erscheinung, wo verschiedenartige Gruppen miteinander in dauernde lebensmäßige Berührung treten. Daß er auch der Judenfrage zugrundeliegt, ist ein Umstand, den die jüdische Apologetik manchmal zu übersehen geneigt war. Selbst Professor Hugo Valentin in seiner umfassenden Studie des Antisemitismus glaubt dem Problem Genüge zu tun, wenn er es wie folgt darstellt16: „Es ist nicht so, daß eine Gruppe nach objektiver Prüfung zu dem Ergebnis kommt, daß eine andere Gruppe schädlich oder minderwertig sei. Das Primäre ist der Haß. Die vom Verstand gefundenen Argumente sind sekundär.“ Das ist weitgehend, aber nicht vollkommen richtig. Ein gesellschaftlicher Konflikt hört nicht deshalb auf zu bestehen, weil er nicht durch „objektive Prüfung“ ins Bewußtsein tritt, sondern weil durch spontanen Haß auf ihn reagiert wird. Die Haßreaktion, die übrigens in ruhigen Zeiten sehr häufig durch gemäßigtere Unlustgefühle ersetzt wird, schließt nicht nur nicht aus, daß ein echter gesellschaftlicher Konflikt vorhanden ist, sondern sie kann sehr wohl ein Zeichen für ihn sein, gleichgültig, wie stark sekundäre Rationalisierungen den Konflikt nachträglich entstellen.

Es gibt ein Streben nach Homogenität der eigenen Gruppe, das als eine Elementar-Tatsache menschlicher Vergesellschaftung anerkannt werden muß; ihm gegenüber wird jede sichtbar in Erscheinung tretende Existenz einer andersartigen Gruppe als eine Herausforderung empfunden17. Dabei ist das Prinzip, das die Homogenität bestimmt, keineswegs immer mit dem ursprünglichen Organisationsprinzip der Gruppe identisch. So wurde etwa für größere politische Herrschaftsgebilde, die ihre Entstehung vielleicht dynastischen oder militärischen Ursprüngen verdanken, in Zeiten, die vorwiegend religiös bestimmt waren, die religiöse Homogenität als unerläßlich betrachtet; nach der Französischen Revolution verschob sich die Forderung der Homogenität auf das nationale Gebiet.18 In der Sowjetunion wurde zum ersten Male das Prinzip der Klassen-Homogenität proklamiert, und es ist sicher nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß auf den Anspruch nationaler Homogenität verzichtet werden konnte. Soweit es sich in neuerer Zeit um Staaten handelt, bei denen Staat und Nation auch nicht annähernd identisch sind, wie in der Schweiz, in den Vereinigten Staaten, aber auch in den deutschen Bundesstaaten vor der Reichsgründung, tritt eine staatliche Homogenität an die Stelle der nationalen. Es handelt sich dabei um von den Staatsangehörigen sozusagen freiwillig zu erfüllende Bedingungen, die über die Beobachtung der objektiven Rechtssetzungen hinausgehen und gerade auf diese Weise ein homogenes Staatsbewußtsein schaffen. Richard Thoma19 versteht es als eine „unbedingte, nicht nur durch rationale Berechnungen vermittelte Staatsbejahung“, ohne die auf die Dauer kein Staat zu existieren vermöge.

Gegenüber dem politisch und rechtlich fest umrissenen Gebilde Staat, das im Laufe der Geschichte bald dieses, bald jenes Homogenitätsprinzip in den Vordergrund stellte, ist die moderne Gesellschaft ein diffuses Gebilde, das nur als Staatsgesellschaft einen Abglanz der Staatshomogenität empfängt. Ihre Entwicklung geht nach Herbert Spencer als ein Prozeß ständiger Differenzierung und Integrierung vor sich. Doch hat mit der tatsächlichen Integrierung der differenzierten Einheiten das Bewußtsein der Integration nicht durchweg Schritt gehalten. Obgleich Arbeitnehmer mit Arbeitgebern im Arbeitsprozeß, am Arbeitsmarkt, beim Abschluß von Tarifverträgen und so weiter in ständigen Beziehungen miteinander stehen, erscheinen sie doch dem Bewußtsein als so streng voneinander getrennte Gruppen, daß sogar ihre politische Integration in Staat und Nation in Zeiten wirtschaftlichen Druckes und politischer Labilität fragwürdig werden kann. Ebenso wie sie stehen sich in der modernen Gesellschaft ungezählte Gruppen und Grüppchen gegenüber, die einander bekämpfen, obwohl sie aufeinander angewiesen sind. Dieser Mangel an Einheitlichkeit in der hochdifferenzierten modernen Gesellschaft kommt grundsätzlich der Eingliederung der jüdischen Gruppe zugute. Denn wo von einer kulturellen Einheit in einem alle Lebenssphären umfassenden Sinn nicht mehr gesprochen werden kann, vermindern sich die Forderungen, die an die kulturelle Angleichung einer neu hinzutretenden Gruppe legitimerweise gestellt werden können20. Aber in zweierlei Beziehung kann die Afuteilung der Gesellschaft die Einfügung der jüdischen Gruppe auch erschweren: sie kann einerseits ein Unbehagen erzeugen, das einen auf weitere Differenzierungsgefahren besonders empfindlich reagieren läßt; man wird dann geneigt sein, der Gefahr durch übertriebene Betonung der noch vorhandenen Homogenität vorzubeugen. Man wird sich also bei dem Andrängen einer wirtschaftlich ungleichartigen, nämlich auf mehrere Gruppen verteilten, ihrem ethnischkulturell-religiösen Ursprung nach aber gleichartigen Gruppe gern auf seine eigene ethnischkulturell-religiöse Gleichartigkeit mit anderen, sonst antagonistischen wirtschaftlichen Gruppen besinnen. Die Zerklüftung bedeutet anderseits, daß der jüdisch-nichtjüdische Gruppengegensatz auf den verschiedensten Schauplätzen ausgetragen werden muß: nicht nur in der nationalen, in der staatlichen, in der religiösen Ebene, sondern zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schneidern, jüdischen und nichtjüdischen Studenten, jüdischen und nichtjüdischen Ärzten, Turnern, Freimaurern und so weiter. Wenn also auch eine Homogenität der modernen Gesellschaft nur noch in sehr eingeschränktem Sinne vorhanden ist, so sorgen doch das Streben nach der verlorenen Homogenität einerseits und die Homogenität der einzelnen Differenzierungsprodukte anderseits dafür, daß der nach Einfügung verlangende Jude wiederum in allen Sphären als der Andersartige, der Eindringling, der Feind empfunden wird.

Es kommt hinzu, daß von der jüdischen Gruppe her Einzelmitglieder ständig sich auf die Umweltgruppe zu und in sie hinein bewegen. Während es Gruppenverhältnisse gibt, in denen eine gewisse Stabilität herrscht, die den aus dem Zusammenleben herrührenden Reiz vermindert – man denke etwa an das Verhältnis einer Staatskirche zu bereits längere Zeit existierenden Sekten oder mehrerer gleichrangiger Sportvereine zueinander –, während es ferner Gruppen gibt, die von anderen begehrt werden, aber aus eigenem Willen exklusiv sind – hierbei ist an sozial privilegierte Gruppen, wie etwa den Adel zu denken –, so befindet sich das Verhältnis der emanzipierten jüdischen Gruppe zu der Umwelt in dauerndem Fluß. Dadurch, daß ihre Mitglieder einige Gruppenmerkmale aufgeben – das rechtliche, das sprachliche –, andere entschieden beibehalten – das religiöse – und noch andere in bestimmten von ihren Absichten weitgehend unabhängigen Linien fortentwickeln – das wirtschaftliche –, ergeben sich ständig neue Anpassungsprobleme. Sie sind die Begleiterscheinungen des Integrationsprozesses, der schon oben als das Zentrum der eigentlichen Judenfrage bezeichnet wurde.

In West- und Mitteleuropa entsprachen die voremanzipatorischen Ghettos einem Entwicklungsstadium, das im Vergleich zur Umwelt zurückgeblieben war, und zwar sowohl wirtschaftlich und sozial als auch in dem Befreiungsprozeß aus den geistigen und kulturellen Bindungen des Mittelalters. Mit der Öffnung der Ghettotore mußte man also bestrebt sein, die künstlich zurückgehaltene Entwicklung nachzuholen und den Standard der Umwelt zu erreichen. In der gleichen Richtung wirkten der Assimilationswille der Emanzipatoren und die Korporationsfeindlichkeit der zeitgenössischen Umwelt.21 Anfängliche Widerstände gegen die Emanzipation in jüdischen Gemeinschaften, die eine Auflösung der jüdischen Gruppe vorhersahen und fürchteten22, wurden allmählich überwunden, die gewährten Rechte und die mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Möglichkeiten wurden ergriffen, und der allmähliche, aber stetige Eingliederungsprozeß der Juden in ihre nichtjüdische Umwelt setzte ein.

Diese Bewegungsrichtung wird in gewissen Grundzügen überall wiederkehren, wo Juden als Minderheiten unter nichtjüdischen Mehrheiten leben. Es ist dabei gleichgültig, ob der anfängliche Kontakt einem Einwanderungsprozeß oder der Emanzipation entspringt, die ja sozusagen eine vertikale Einwanderung ist und fast alle charakteristischen Züge mit der horizontalen Einwanderung teilt. Da es sich überall um unterprivilegierte, wenn auch nicht durchweg um rückständige Minderheiten handelt, ganz gleichgültig, ob die Minderberechtigung gesetzlich oder bei gesetzlicher Gleichberechtigung die Folge eben des Minderheitenstatus ist23, streben die Juden überall nach mehr oder minder totaler Aufnahme in die Mehrheit. Diese Bewegungsrichtung, der je nach den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen eine mehr oder minder intensiv abwehrende Bewegung der Mehrheit entspricht, enthält einen weiteren konstitutiven Faktor der Judenfrage.

Es ist notwendig, an dieser Stelle einzuschalten, daß in dem letzterwähnten Zusammenhang die Zahl eine eigenartige und tragische Rolle spielt. Es ist nämlich keineswegs gleichgültig, ob der Übergang von der jüdischen in die Umweltsgruppe oder -gruppen von einzelnen, wenigen oder vielen Juden vollzogen wird. Das Auftreten weniger Juden in ihnen bis dahin unzugänglichen Umweltsphären, wie es in zunehmendem Grade im 18. Jahrhundert, also vor der Emanzipation stattfand, hat geholfen, der Emanzipation den Weg zu bahnen. Es hat mehr Sympathien für die geknechteten Juden erregt als Abwehr gegen die Eindringlinge. So gewiß das unter anderem auf die ausgewählte Qualität dieser sozial erfolgreichen Finanziers und Gelehrten zurückzuführen ist, die sich damals unter Schwierigkeiten ihre Bildung und gesellschaftliche Anerkennung erarbeiteten, so ist dabei durchaus nicht die Tatsache ihrer Vereinzelung zu vernachlässigen. Man sah in ihnen in erster Linie die wirtschaftlichen oder geistigen Förderer, nicht aber die Konkurrenten. Das änderte sich um die Mitte und ausgesprochener in dem dritten Drittel des 19. Jahrhunderts, als mehr und mehr jüdische Kaufleute und Intellektuelle mit Nichtjuden in Wettbewerb traten. Auch sie waren noch Produkte eines ziemlich strengen intellektuellen und kulturellen Ausleseprozesses und stellten einen bemerkenswert guten Typus dar; auch zwischen ihnen und ihren nicht jüdischen Kollegen waren die Beziehungen teilweise noch nicht durch Konkurrenzfurcht und Vorurteile getrübt. Aber als gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts infolge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und der spezifisch jüdischen Neigungen eine erhebliche Zahl von Juden in die genannten Berufe einströmte, wurde die Abwehr allgemeiner; sie wurde als eine Abwehr von Gruppe zu Gruppe empfunden und begann allenthalben, sich vorgeschobener Gründe zu bedienen.

So wenig daran gezweifelt werden kann, daß zwischen der Zahl der in einer nichtjüdischen Gesellschaft vorhandenen Juden und der Stärke der Abwehrreaktion gegen sie ein Zusammenhang besteht, so wenig kann dieser Zusammenhang etwa in einem bestimmten Zahlenverhältnis ausgesagt werden. Absorptionsfähigkeit und Sättigungsgrad schwanken vielmehr je nach Art und Umständen so stark, daß ein Versuch, die Grenze etwa bei 4 % anzunehmen24, als äußerst gewaltsam angesehen werden muß. Einer der Gesichtspunkte, nach denen die Absorptionsfähigkeit einer nichtjüdischen Gruppe sich bemißt, ist der Grad ihrer eigenen inneren Bindung. Wo die Bindung am losesten ist, wie etwa in einem städtischen Wohndistrikt, wird die Absorptionsfähigkeit gegenüber jüdischen Mitbewohnern hoch sein; wo die Bindung enger ist, wie in einem Wirtschaftsverband, und noch enger, wie in einem Freundeskreis, ist die Absorptionsfähigkeit jeweils geringer. Die Aufnahmefähigkeit richtet sich ferner nach dem Grade des wirtschaftlichen Wohlstandes, also nach dem Maße der Konkurrenzbefürchtungen. Sie verringert sich bei niedergehender Konjunktur und wird in einer Krise so gering, daß die Tendenz besteht, selbst gut eingeordnete Angehörige einer Untergruppe wieder auszuschalten, sofern nur scheinbar objektive Gründe dafür gefunden werden können. Ein weiterer Faktor ist das Tempo, in dem die jüdische Eingliederung stattfindet. Eine langsame und gleichmäßige Eingliederung ist imstande, die Sättigungsgrenze hinaufzuschieben, während ein schnelles, plötzliches Eindringen zu vorzeitigen Abwehrreaktionen führen kann. Schließlich darf auch der Fremdheitsgrad zwischen Juden und Nichtjuden nicht übersehen werden.

Es war der Zweck der vorstehenden Ausführungen, der Auffassung entgegenzutreten, als ob man dem Antisemitismus den Charakter eines ernsten gesellschaftlichen Problems nehmen könne, indem man ihn unter den Oberbegriff der Gruppenfeindschaft bringt. Es ist nicht so, daß mit der Verlegung des Konfliktzentrums von der gesellschaftlichen ausschließlich auf die psychologische Ebene dem Problem Genüge geschieht. Neben dem Bedürfnis der Mehrheit nach Aggression und Selbstbestätigung, das in der Minderheit ein erwünschtes Ventil findet und sich fälschlich mit Eigenschaften der Minderheit begründet, ist es das Nebeneinanderexistieren von Gruppen selbst, das objektive Spannungen hervorruft. Die neuerdings stark im Vordergrund der Diskussion stehende Behauptung jüdischer Autoren, daß der Antisemitismus mit den Juden überhaupt nichts zu tun habe, ist fast ebenso einseitig wie die der Antisemiten, daß die Juden allein am Antisemitismus schuld seien. Es ist zum Beispiel verständlich, daß in der Frühzeit der Emanzipation die Mehrheit auf ein Überleben der aus der Voremanzipation herrührenden doppelten Moral der Minderheit gegenüber der Innen- und der Außengruppe feindlich reagiert; es handelt sich dagegen um ein anderes Phänomen, wenn in der Spätzeit der Emanzipation, in der die doppelte Moral längst verschwunden ist, ihr Fortbestand weiter behauptet wird, damit auf diese Weise ein wirksames Schlagwort für Boykottparolen geschaffen wird. Wir werden auf das jeweils verschiedene Mischungsverhältnis zwischen „echten“ und „unechten“ antisemitischen Motiven bald näher zu sprechen kommen.

Die objektiven Spannungen haben die Tendenz, sich mit einem Nachlassen der Gruppenunterschiede zu vermindern, und hören langsam auf, von sich aus das gesellschaftliche Gleichgewicht zu stören. Völlig verschwinden aber könnten sie nur bei einem Verschwinden des jüdischen Gruppencharakters, also bei einem Aufhören der jüdischen Existenz. Die Existenz von Gruppenspannungen, sei es auch in noch so geringem Maße, also die Existenz einer objektiven Judenfrage ist mit der Existenz von jüdischen Gruppen, das heißt mit der Existenz von Juden untrennbar verbunden.

Die Flucht in den Hass

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