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EINLEITUNG

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Es ist das traurige Vorrecht des Zeitgenossen, den wirkenden Ursachen des Geschehenen noch so nahe zu sein, daß er sich dem quälenden „Warum?“ gewachsen glaubt; es ist sein Nachteil, daß er ihnen zu nahe ist. Noch können sich für den durchschnittlichen Betrachter Tatsachen und Gefühle nicht nach objektiv haltbaren Maßstäben so geordnet haben, daß gültige Einsichten von ihnen herzuleiten sind.

Es ist eine Folge dieser unvermeidlichen Verzerrung, daß die nationalsozialistische Judenverfolgung häufig zu einer Schlußfolgerung Anlaß gibt, die wir Emanzipations-Defaitismus nennen. Er besteht in folgendem Gedankengang: Die deutschen Juden waren die jüdische Gemeinschaft, die am tiefsten in ihre Umwelt eingedrungen war, ohne dadurch den Charakter als Gemeinschaft zu verlieren; sie waren jüdischer und vor allem zahlenmäßig bedeutender als etwa die Judenheiten Italiens und Frankreichs; sie waren stärker mit ihrer Umwelt verbunden als die jüdischen Gemeinschaften des Ostens und lebten länger mit ihr als die der Vereinigten Staaten und die Mehrzahl der Juden in Großbritannien; die deutschen Juden waren vor dem Heraufkommen des Nationalsozialismus geradezu das klassische Beispiel dafür, daß Juden als integraler Bestandteil der nichtjüdischen Welt leben können; sie lebten nicht nur in, sondern weitgehend mit ihrer nichtjüdischen Umwelt: Ihr Untergang beweist, so folgert man, den Fehlschlag der Emanzipation als einer jüdischen Lebensform.

Es ist das Ziel der folgenden Darstellung, dieser Art der Beweisführung zu begegnen. Sie ist eine allzu rohe Anwendung des Schlusses: „Post hoc, ergo propter hoc“. Ereignisse folgen aufeinander, Ereignisse verursachen einander, aber nicht immer sind die Ereignisse, die am sichtbarsten aufeinander folgen, zugleich die, die einander verursachen. In Wirklichkeit ist das „hoc“, das die Austreibung und Vernichtung der deutschen Juden verursachte, ein anderes als ihre Emanzipation und Einordnung in die Umwelt. Dieses andere „hoc“ gilt es festzustellen. Gelingt es, es als einen örtlich und zeitlich mehr oder minder auf das Deutschland der Zwischenkriegszeit beschränkten Komplex zu erweisen, so ist den primitiv verallgemeinernden Schlüssen der Boden entzogen, und der Emanzipations-Defaitismus ist widerlegt. Der Irrtum der falschen Kausalverknüpfung, der zum Emanzipations- Defaitismus führt, kann in der gegenwärtigen Situation der Judenheit besonders verhängnisvoll werden. Die Juden befanden sich nach dem zweiten Weltkrieg in der furchtbarsten Situation der mehr als zweitausendjährigen Geschichte ihrer Diaspora. Nicht allein hatte sie der Sturz, dem die europäische Judenheit zum Opfer gefallen war, von einer Stufe höchster Entfaltung in die tiefste Tiefe physischer Vernichtung geschleudert, sondern rein zahlenmäßig hatte in der katastrophenreichen jüdischen Geschichte der Verlust an Menschen noch niemals ein so grauenhaftes Ausmaß erreicht.

Seither hat die Gründung des Staates Israel den Juden in aller Welt neue Hoffnungen gegeben. Sie hat jene Lösung der Judenfrage zu einer politischen Tatsache gemacht, die viele Jahrzehnte hindurch nur ein zionistischer Traum zu sein schien. Schon in den ersten Jahren seines Bestehens hat der junge Staat einem großen Teil der Überlebenden der europäischen Katastrophe eine neue Heimat gegeben.

Doch wie erfolgreich auch immer der Staat Israel sein möge, er wird die Tatsache nicht verändern können, daß weiterhin Juden unter den Völkern der Welt leben werden. Weit über zehn Millionen Juden leben in der Diaspora und von ihnen etwa sechseinhalb Millionen als gesetzlich gleichberechtigte Bürger ihrer Wohnländer.1 Selbst wenn man die jüdischen Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihrer Einflußsphäre nicht einbezieht, weil sie unter Bedingungen emanzipiert sind, die mit denen des Westens nicht ohne weiteres vergleichbar sind, hängt erheblich mehr als die Hälfte aller lebenden Juden auch heute noch einer Lebensform an, deren gedankliche Grundlage nach der defaitistischen Auffassung durch Hitlers Zerstörungswahn angeblich für immer vernichtet worden ist. Wenn das Leben der Juden in der Diaspora sich noch einmal befreien soll von dem Gefühl dumpfer Resignation vor einem unerbittlichen Schicksal, wenn es sich noch einmal erfüllen soll mit jenem Glauben an Gerechtigkeit und Menschlichkeit, ohne den der Gedanke der Emanzipation seinen Sinn verliert, dann darf der Emanzipations-Defaitismus nicht ohne Antwort bleiben. Das jüdische Leben in der westlichen Welt bedarf erneut der Rechtfertigung.

Als nach dem Auftreten von Faschismus und Nationalsozialismus die westlichen Demokratien die Größe der Herausforderung erkannten, die von dem neuen Regierungssystem und seiner partiellen technischen Überlegenheit ausging, fanden sich zahlreiche Autoren, die sich der drohenden Gefahr stellten. Sie untersuchten die Vor- und Nachteile der beiderseitigen Systeme und scheuten sich nicht, die Schwächen der Demokratie festzustellen und zu prüfen. Aber sie ließen es nicht bei der Kritik bewenden, sondern stießen von ihr zu einer Neubegründung der Demokratie vor, um trotz ihrem offenbaren Mangel an Vollkommenheit ihre Überlegenheit über jedes andere bisher erreichte politische System aufs neue zu beweisen.2 Sie zeigten in ihrer Kritik neue Wege zur Überwindung der zutage getretenen Fehler. Die zeitgenössische Literatur über die Judenfrage hat bisher den umgekehrten Weg beschritten. Sie hat die Herausforderung der emanzipatorischen Lebensform durch den Nationalsozialismus mit Entmutigung und – zumindest theoretischer – Abkehr von ihr beantwortet.3 So verständlich diese Haltung ist als die seelische Reaktion auf das unerhörte Ausmaß der Desillusionierung, so wenig ist sie wissenschaftlich oder politisch zu rechtfertigen.

Es ist zu begrüßen, wenn angesichts der Gefährdung der jüdischen Existenz das Suchen und Fragen nach ihrer Sicherung kein Ende nimmt; es wäre jedoch ein Unglück, wenn Unklarheiten und Mißverständnisse die Blicke der Wegbereiter in die Irre lenkten.

Die Flucht in den Hass

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