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Zur Neuausgabe von Eva Gabriele Reichmann: Flucht in den Hass

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Als Eva Reichmann 1981 für die ZDF-Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“ interviewt wurde, sprach sie ausführlich über ihr zentrales Werk, das Buch „Flucht in den Hass. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe“. Schon während der Kriegszeit hatten Eva Reichmann und ihr Mann Hans, beide arbeiteten zuvor im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), in ihrem Londoner Exil begonnen, sich wissenschaftlich mit den Ursachen für die Vertreibung und Verfolgung der Juden in Deutschland zu beschäftigen.

„Ich wollte mir Rechenschaft ablegen, wie das in dem Lande, das ich als meine Heimat gekannt und geliebt hatte und geschätzt und verehrt hatte, wie das in meinem Lande zustande kommen konnte. Darüber wollte ich mir Rechenschaft ablegen und daraus ist das Buch entstanden, und so mußte ich also vollkommen objektiv zu sein versuchen und ich glaube, das ist mir gelungen.“1

Persönliche und berufliche Erfahrungen gaben den Anstoß, nach den Ursachen für den mörderischen Antisemitismus in Deutschland zu fragen.2 Eva Reichmann antwortete jedoch nicht als Betroffene, sondern als Wissenschaftlerin, als studierte Soziologin, die 1921 ihre Promotion zum Thema „Spontaneität und Ideologie als Faktoren der modernen sozialen Bewegung“ erfolgreich in Heidelberg verteidigt hatte. „Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig“, stellte sie gleich am Anfang ihres Vorwortes für die deutsche Ausgabe klar. Im Gegensatz zur englischen Originalausgabe, die 1950 unter dem Titel „Hostages of Civilisation. A Study of the Social Causes of Anti-Semitism“ im Verlag von Victor Gollancz erschienen war, meinte sie zudem, hier den deutschen Leser*innen erklären zu müssen, dass „alles verstehen“ nicht bedeute, „alles verzeihen“ zu können. Eva Reichmann hatte mit ihrem Buch eine klare Ursachenbeschreibung für den hasserfüllten Antisemitismus und seine Funktion für den Aufstieg des Nationalsozialismus vorgelegt und erwartete nun, im Jahre 1956, dass die Zeitgenoss*innen in Deutschland sich ebenfalls mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen würden. Ihr Buch stelle daher auch die Frage,

„ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.“3

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die Frage, ob die Emanzipation der Juden in Deutschland als ein gescheitertes Experiment anzusehen sei. Ihr Buch gibt darauf eine klare, nämlich ablehnende Antwort: Es handele sich gar nicht um eine Auseinandersetzung mit Inhalten und Folgen der jüdischen Emanzipation, sondern es gehe ausschließlich um die Funktion der antisemitischen Propaganda für die nationalsozialistische Bewegung. Aus einem historisch-soziologischen Blickwinkel rekonstruierte Reichmann, dass es im 19. Jahrhundert noch eine „objektive“ und eine „subjektive Judenfrage“ in den europäischen Ländern gegeben habe. Objektiv waren vor der Gleichstellung soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Juden und NichtJuden vorhanden. Nach der Emanzipation habe jedoch in einigen europäischen Ländern die „objektive Frage“ keinen Anlass mehr für gesellschaftliche Auseinandersetzungen gegeben, so unter anderem in Deutschland oder auch in Großbritannien, in anderen dagegen schon, etwa in Polen oder Russland. In Deutschland sei im 20. Jahrhundert ausschließlich die „subjektive Judenfrage“ ausschlaggebend für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen. Diese „unechte Frage“ bzw. ihre politische Funktionalisierung bilden den zentralen Punkt in Eva Reichmanns Analyse. Sie bezeichnet mit diesem Begriff gesellschaftliche Diskussionen, in denen vor allem in Krisenzeiten individuelle „Unlustgefühle“ formuliert werden. Diese Gefühle entstehen nach Freud aus der zivilisatorischen Erziehung, die den Aggressionstrieb unterdrückt. Je heftiger Unlustgefühle auftreten, desto stärker fühlt sich das Individuum in seiner eigenen Existenz und Identität bedroht. Juden als Gruppe bildeten dabei unabhängig von konkreten Personen ein besonderes Angriffsobjekt, weil ihnen sowohl Ähnlichkeit als auch Andersartigkeit zugesprochen wurde, wobei Juden von Nicht-Juden als sicher in ihrer Identität wahrgenommen werden – auch wenn diese selbst sich nicht so sehen. Eva Reichmann bezieht sich in ihrer Analyse auf Freuds Überlegungen zum Unheimlichen, bleibt jedoch nicht auf der Ebene des Individuums stehen, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Ursachen für „Unlustgefühle“ gegen Juden. Neben ökonomischen Ungleichheiten, die in der noch vorhandenen besonderen Berufsstruktur der jüdischen Minderheit liegen, der zunehmenden Erschütterung religiöser Wertsysteme (Säkularisierung) sowie einem aggressiven Nationalismus (insbesondere in Deutschland) benennt Reichmann auch die daraus entstandene „Schwächung des Gewissens“ als eine kollektive gesellschaftliche Erscheinung in Zeiten der Krise. Der Nationalsozialismus habe schließlich erfolgreich die Möglichkeiten der Demokratie nutzen können, um für eine antirationale, aggressive und antidemokratische Politik zu werben.

Eva Reichmann benennt also zwei Verantwortliche für den Aufstieg des Nationalsozialismus: die politischen Führer der NS-Bewegung und die „Massen“, die lieber einer gefühlsorientierten Ideologie folgten, als sich vernunftgeleitet mit Krisenprozessen auseinanderzusetzen. Es ist offensichtlich, dass sich Eva Reichmann mit dem letzten Argument im Nachkriegsdeutschland nur wenige Freunde machte, denn sie ließ die einseitige These von der Verführung der Massen durch diabolische Verführer nicht gelten, sondern betonte im Gegenteil die Verantwortlichkeit der Menschen, die zur Masse wurden. Es war Zweck ihrer Tätigkeiten, auch ihres Buches, einen gesellschaftlichen Prozess des Nachdenkens anzuregen, um aus dieser Reflexion zur Verantwortung gegenüber der Vergangenheit zu gelangen. Den Erfolg des Nationalsozialismus führte sie auf die eigenartige politische, soziale und ökonomische Umbruchsituation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zurück, deren destruktive Potentiale aber erst durch die „Befreiung der Triebe“, also eine Flucht der sich sozial und politisch deklassiert Fühlenden in den Hass auf „den Juden“, virulent wurden. Ihr Buch ist daher viel mehr als nur ein Beitrag zur Antisemitismusforschung – es behandelt eigentlich die deutsche Gesellschaftsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts aus soziologischer und gruppenpsychologischer Perspektive.

Ihre Analyse deckt sich in manchen Teilen mit den Untersuchungen der exilierten Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, vor allem mit deren Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit. Auch die Arbeiten von Leo Löwenthal zur Funktion von Propaganda standen im Hintergrund.4 Die Auswertungen dieser Experimente erschienen nach der englischen Version von Reichmanns Buch, sie verwies aber explizit auf diese in der deutschen Ausgabe. Wie die Vertreter der kritischen Theorie befasste sich auch Reichmann letztlich mit den Schwierigkeiten von Individuen, in modernen und sich schnell verändernden, demokratischen Gesellschaften Orientierung zu finden. Gerade deshalb sei die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit auch so wichtig, denn erst die aktive Anerkennung, einen Irrweg eingeschlagen zu haben, ermögliche Umkehr und einen Bewusstseinswandel.5

In akademischen Kreisen fand das Buch von Eva Reichmann überwiegend Anklang und Zustimmung, ebenso in Gruppen des deutschjüdischen Exils, sofern diese weiterhin dem Programm des CV folgten. Der Soziologe Kurt Sontheimer rezensierte es für die FAZ und drückte seine Hoffnung aus, es könne zur Neubelebung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beitragen.6 Das hat es wohl auch getan, allerdings eher indirekt und nicht auf die Art und Weise, die Eva Reichmann selbst intendierte. Die öffentliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik wurde in den sechziger Jahren von Gerichtsverfahren und der Berichterstattung dazu mehr beeinflusst als von wissenschaftlichen Büchern und Debatten. Die 68er-Studierendenbewegung befasst sich eher mit Adorno als mit Reichmann. Die öffentliche Debatte änderte sich dann bekanntlich erst mit der Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, die 1979 ausgestrahlt wurde, und den Historikerdebatten in den 1980er Jahren. Bis dahin waren Eva Reichmann und ihr Buch vor allem in den Kontexten von Akademien, christlich-jüdischen Vereinen und den Einrichtungen zur politischen Bildung bekannt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde ihr Buch in Seminaren zum Antisemitismus und zur jüdischen Geschichte gelesen und fand auf diese Weise Eingang in sozial und politisch distinkte Diskussionsgruppen. Es ist auf diese Weise vielen Menschen bekannt geworden und sicherlich als ein Klassiker einzuordnen, wenn auch eher als ein heimlicher Klassiker.

Wer heute nach zentralen Werken zur Analyse des Aufstiegs des Nationalsozialismus fragt, wird nicht den Namen von Eva Reichmann hören – und doch lohnt es sich nach wie vor, das Buch zu lesen, gerade auch vor dem Hintergrund aktueller Debatten über populistische Bewegungen, dem Erstarken des Rechtsextremismus in ganz Europa und der polarisierten Diskussion über den Umgang mit Minderheiten. Am Beispiel der „Judenfrage“ zeigt das Buch, was passieren kann, wenn soziale und wirtschaftliche Krisen von Populist*innen genutzt werden, um antirationale, antiliberale und antidemokratische Politik zu legitimieren – und eine große Zahl Menschen bereit ist, ihnen zu folgen. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht, doch die aktuellen gesellschaftlichen Spaltungen und individuellen Krisenerfahrungen gleichen doch in mancher Hinsicht den unruhigen zwanziger Jahren in Deutschland. Kein Zufall also, dass wieder verstärkt über Gruppenspannungen, emotionalisierte Politik und die Funktionalisierung von Ressentiments gegen Minderheiten in der politischen Debatte diskutiert und geforscht wird.7 Eva Reichmanns Buch hat damit eine neue Aktualität gewonnen – leider, so muss man sagen.

Kirsten Heinsohn

1Transkript des Gespräches zwischen Hans Lamm und Eva Reichmann 4.- 6.2.1981 in London, ZDF Produktion Nr. 6351/0827, Archivnr. 0012521501, S. 41.

2Kirsten Heinsohn: Erfahrung und Zeitdeutung. Biographie und Werk der Soziologin Eva G. Reichmann, in: Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Festgabe für Barbara Vogel, hrsg. v. Henning Albrecht, Gabriele Boukrif, Claudia Bruns, Kirsten Heinsohn, Hamburg 2006, S. 295-308.

3Eva Gabriele Reichmann: Vorwort zur deutschen Ausgabe, S. 11/12.

4Siehe dazu die Neuausgabe von Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation, unter Mitarbeit von Norbert Guterman. Aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke, Berlin 2021. Das Buch erschien 1949 zuerst in den USA.

5Eva Reichmann führte diesen Zusammenhang noch deutlicher in ihrem Beitrag: Zeitgeschichte als politische und moralische Aufgabe, hrsg. v. Kuratorium für staatsbürgerliche Bildung, Hamburg 1962, aus. Gekürzt wiederabgedruckt in: Eva G. Reichmann: Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 90-104.

6Kurt Sontheimer, FAZ 30.11.1956, S. 21.

7Vgl. etwa Marcia Pally: Kampf der Traumatisierten. Nicht der Effekt ihres Handelns, sondern die emotionale Genugtuung treibt die Anhänger Trumps an, in: taz am wochenende 23./24.1.2021, S. 11.

Die Flucht in den Hass

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