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VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

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Am Beginn eines Buches, das eigenes Erleben auf die Ebene akademischer Objektivität zu heben bestimmt ist, mag ein persönliches Wort erlaubt, ja sogar gefordert sein.

Möge keiner meiner Leser glauben, daß mir diese Objektivität leicht geworden wäre. Nicht weil ich den behandelten Fragen mit kühlem Abstand gegenüberstehe, habe ich das Buch schreiben und so schreiben können, sondern weil sie den Mittelpunkt meines Lebens bilden, weil ich mich der Gewalt, mit der sie eine Antwort forderten, nicht entziehen konnte. Sollte aber die Antwort durch die Art, in der sie gesucht und gegeben wurde, ihre Gültigkeit nicht selbst verneinen, so mußte sie notwendig eine wissenschaftliche Antwort sein. Die deutende Schau des schaffenden Künstlers ist mir versagt. Einer prüfenden Forschung und bedachtsam abwägenden Erklärung fühlte ich mich gewachsen. In ihnen bleibt kein Raum für den Ausdruck der Qual, der Leidenschaft und der Anklage. Aus dem nüchternen Gebrauch des wissenschaftlichen Geräts auf einen Mangel an persönlicher Erschütterung zu schließen, wäre irrig.

Noch einem anderen Mißverständnis möchte ich vorzubeugen versuchen. Wenn irgendwo „alles verstehen“ nicht bedeuten kann „alles verzeihen“, so im Zusammenhang dieses Buches. Ich habe mich bis in vielfältige Einzelheiten hinein bemüht, Ursachenketten am Werk zu zeigen, die scheinbar diese und nur diese Wirkungen hervorbringen konnten. Geschichtsschreibung, so ist gesagt worden – und man darf das Wort wohl auch auf die soziologische Betrachtung anwenden –, ist rückwärtsgerichtete Prophetie. Aber so sehr dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt, so wenig haben Politiker, Historiker und wer wohl sonst noch die Pflicht hatte, Warner zu sein, etwa im Jahre 1930 einen Ausgang vorauszusehen vermocht, wie er schließlich im Jahre 1945 eingetreten ist. War das nur menschlicher Beschränktheit zuzuschreiben? Auch diese Warner sahen manche drohende Zeichen, die auf eine kommende Katastrophe hindeuteten. Aber indem sie sich sträubten, als unabwendbares Schicksal hinzunehmen, was wenige Jahre später zur schreckenvollen Wirklichkeit wurde, offenbarten sie ein besseres Gefühl für die Freiheit der Menschen, andrängende Gefahren abzuwehren, als die Systeme eines philosophischen oder ökonomischen Determinismus ihnen einzuräumen bereit sind.

Daß auf dem deutschen Volk Schwierigkeiten lasteten, daß örtliche und zeitliche, politische und wirtschaftliche Faktoren zusammenwirkten, um die Katastrophe heraufzuführen, die – wohlgemerkt – nicht im verlorenen Krieg, sondern im Rückfall in die als Nationalsozialismus getarnte Barbarei bestand, wird in diesem Buche ausführlich dargelegt. Aber an etlichen Wendepunkten stand trotz aller Ungunst der äußeren Verhältnisse die Möglichkeit zu anderer Entscheidung offen. Der soziale Determinismus, selbst in dem Umfange, in dem man ihn für die Vielen anerkennen mag, findet seine natürliche Grenze an der inneren Freiheit der Wenigen. Die sichtbare, Symbole schaffende Entschlossenheit der Träger geistiger und sittlicher Verantwortung hätte genügt, um dem Geschehen eine andere Richtung zu geben. Aber die Wenigen versagten. Nur Einzelne, Vereinzelte wagten es, Widerstand zu leisten; sie konnten aus der Öffentlichkeit entfernt und zum Schweigen gebracht werden, ohne daß ihr Fehlen das Leben der Gemeinschaft so aus den Fugen geraten ließ, wie es bei dem Ausfall einer ganzen Gruppe unvermeidlich hätte geschehen müssen. Die Vielen schließlich verfielen im Widerstreit der Gefühle fast ohne Ausnahme dem Hang zum Bequemen, das das Böse nach sich zog, statt sich zum Schwierigen und Guten aufzuraffen. Wurden sie übertölpelt? Oder haben sie sich schuldig gemacht? Wie immer die Antwort ausfällt: sie wird einen erheblichen Teil des deutschen Volkes von der Verantwortung nicht freisprechen können.

Diesem umfassend grundsätzlichen Sachverhalt sei ein engerer untergeordnet. Es wird in diesem Buche festgestellt werden, daß unter den im Nationalsozialismus wirkenden Massenreizen der Antisemitismus nicht die entscheidende Rolle spielte. Im besonderen habe nur ein verschwindend kleiner Kreis derer, die dem Nationalsozialismus zum Erfolge verhalfen, ihm damit ein Mandat zur Vollstreckung der Judenvernichtung zu geben beabsichtigt. Auch für diese Auffassung, die das Ergebnis eingehender Prüfung ist, gilt die Warnung, sie nicht als Entschuldigung aufzufassen. Es ist gewiß kein Anlaß, sich entlastet zu fühlen oder gar stolz darauf zu sein, daß die 17 277 200 Deutschen, die am 5. März 1933 ihre Stimmen der Nationalsozialistischen Partei gegegeben haben, damit keineswegs ausgezogen sind, die Juden zu ermorden. Viel eher haben diese 17 Millionen und ihre Gesinnungsfreunde ausreichend Grund, sich der Blindheit und schlimmeren Versagens anzuklagen; denn durch ihre Wahl hatten sie sich mit Demagogen eingelassen, die aus ihrer Neigung zu Gewalttaten nie ein Hehl gemacht hatten, und deren Hemmungslosigkeit auf der abschüssigen Bahn des Verbrechens längst hätte erkannt sein müssen. Es sollte für niemanden ein Anlaß zur Selbstzufriedenheit sein, daß ihm zwar nicht Mordlust, wohl aber moralische Trägheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen nachgewiesen wird. Als ob man „nationale Ideale“, wo immer diese unter der Wählerschaft ernstgenommen wurden, Händen hätte anvertrauen dürfen, die von wilder Angriffslust getrieben wurden und nicht von liebender Zucht gelenkt!

Man wollte nicht morden – damals. Man war nur träge, gleichgültig, fahrlässig. Aber dann wurde gemordet. Trägheit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit hatten das Beil in die Hand des Henkers gleiten lassen. Schmachvolle Unterdrückung war das Los derer geworden, die in der Wahl ihrer „Befreier“ so schuldhaft geirrt hatten.

1945 erfuhr die Welt mit Entsetzen, was in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geschehen war. Jetzt standen vor allen Deutschen die Zeugnisse eines Grauens, das viele vorher nur dumpf geahnt hatten. 1945 herrschten Hunger, Obdachlosigkeit und Massenelend; aber eines gab es wieder, das den Deutschen zwölf Jahre versagt gewesen war: das freie Wort.

Da ich mir eingangs die Freiheit ausdrücklich erbeten habe, in diesem Vorwort meine persönliche Meinung aussprechen zu dürfen, will ich ohne Rückhalt sagen: mir scheint, die Deutschen hätten die Freiheit des Wortes nicht genügend genutzt, um von dem Verbrechen an den Juden zu sprechen. Bruchstückhafte Kunde, die während des Krieges aus Deutschland zu dem angsterfüllten Beobachter im Ausland gedrungen war, hatte Besseres erhoffen lassen. Nun horchten wir erwartungsvoll. Aber der Aufschrei des Entsetzens über das grauenhafteste Verbrechen, das je das Antlitz des Menschen entstellt hat, – der Aufschrei blieb aus. Stimmen ertönten, ergreifende Stimmen der Klage und der Anklage. Keine von ihnen ist ungehört verhallt, keine wird vergessen werden.* Das Volk aber blieb stumm. Zu viele Menschen, deren Ruf auch die Lauen hätte mitreißen können, verharrten in Schweigen. Worte wären damals Taten gewesen. Trotz Wirrnis und Verlorenheit im Äußeren galt es damals, Grundsteine für ein neues Deutschland zu legen, auf denen verläßliche Mauern hätten errichtet werden können, sobald das Chaos gebannt war.

Später wurde manches Versäumte nachgeholt. Es blieb nicht nur bei Worten, von denen einige besonders starke und aufrichtende vom Staatsoberhaupt, Professor Theodor Heuss, gesprochen wurden; es wurde ein Wiedergutmachungswerk ins Leben gerufen, das den Überlebenden der Katastrophe einen Teil des materiellen Schadens ersetzen soll, der ihnen zugefügt worden ist. Die deutsche Bundesrepublik besaß jetzt eine gewählte Vertretung, die für das Volk sprechen konnte. Wirklich für das Volk? Der Zweifel daran will nicht zur Ruhe kommen.

Ich weiß um alle Gründe, die dem spontanen Aufschrei des Entsetzens entgegenstanden. (Er hätte nicht in ein Bekenntnis der „Kollektivschuld“ überzugehen brauchen, die in einem primitiven Sinne nicht vorlag, und der in einem tieferen Sinne nachzuspüren, nicht jedermanns Sache sein kann.) Ich weiß um die Zerrüttung der äußeren Lebensbedingungen jener Nachkriegsjahre, weiß auch um die psychologischen Mechanismen des Selbstschutzes, die sich hemmend einzustellen pflegen, wo bei strenger Selbstprüfung die Gefahr der Zerknirschung unabwendbar wäre. Aber wieder bleibt trotz allem Verstehen ein schmerzendes Gefühl der Enttäuschung. Sollten wirklich Gleichgültigkeit und Trägheit des Herzens – die Laster, durch die die Deutschen in Schuldverstrickung geraten sind, – auch das neue Deutschland wieder heimsuchen?

Stimmen, meist lautstark und unentwegt vorgetragen, die heute schon wieder die „Endlösung der Judenfrage“ aus „nationalen“ Gründen zu verteidigen suchen oder versichern, daß „nur“ eineinhalb Millionen Juden ermordet worden seien, sprechen keine menschliche Sprache, die sie uns verständlich machen könnte. Deutlicher schon dringen jene verhaltener vorgebrachten Worte zu uns, die das Schreckliche „aufzurechnen“ sich unterfangen gegen die Leiden des eigenen Volkes. Am mißtönendsten aber gellen uns die Untertöne der Verlegenheit ins Ohr, die dort hörbar werden, wo man sich erst über das geschehene Unrecht entrüstet, um dann etwa fortzufahren: „Aber Sie müssen doch zugeben …“ Was in einem Gespräch, das diesen Verlauf nimmt, „zugegeben werden muß“, ist in der Regel der unbewältigte und unbereinigte Bodensatz der Unlustgefühle gegenüber den jüdischen Mitbürgern von einst, die damals der Nationalsozialismus so meisterhaft zusammenzuballen verstand, bis sie die Bausteine lieferten für seine Todesfabriken. Wer mit einem säuberlich auseinandergesetzten „Zwar – Aber“ mit sich selbst ins reine zu kommen versucht, billigt gewiß nicht den Mord; aber er billigt – in individueller Abstufung – die Voraussetzungen, die zum Morde geführt haben: Entrechtung, Berufsentziehung, Austreibung. Manchmal will es scheinen, als dröhne durch Deutschland heute noch – oder wieder – ein Chor gebrochener Stimmen, die sich zu rechtfertigen suchen, wo ein erschüttertes Schweigen oft lauter spräche als alle Argumente erklügelter Scheinlogik. Und doch gibt es auch das, das erschütterte Schweigen. Und es gibt die leisen Worte der Klage, die der Mensch zu sich selbst spricht und die nicht dazu bestimmt sind, Eindruck zu machen auf eine weite Öffentlichkeit. In ihnen bedarf es nicht der Verdammung der Gewalttaten; das schaudervolle Entsetzen, das sie erregten, zeigte sie doch niemals als eine mögliche Verirrung der eigenen Seele. Viel schwerer als die selbstherrliche Abwehr kapitaler Verbrechen ist die Prüfung der eigenen Schwäche, die etwa zu solchem Ergebnis führt: „Wir waren bequem und gleichgültig. Der Wille zur Freiheit lebte nicht in uns, und wir wußten nicht mehr, was Recht ist. Wir fühlten, daß unser Leben verarmt ist, weil wir unsere jüdischen Mitbürger entbehren: wir vermissen sie als Anreger im Geistigen und Wirtschaftlichen, als Menschen, die schon dadurch, daß sie wie wir und doch andersartig waren, uns eine ständige Mahnung hätten bedeuten sollen zum Fortschritt in der Gestaltung menschlicher Beziehungen, zu Rechtlichkeit und Menschlichkeit. Wir haben die Mahnung damals nicht gehört zu unserer Schande und zu unserem Schaden. Daß wir sie nicht mehr in unserer Mitte hören dürfen, beklagen wir als schmerzlichen Verlust.“

Der Tag, an dem in solchen Aussagen die Gedanken der Mehrheit aller Deutschen zutreffend wiedergegeben werden, würde die Zuversicht begründen, daß sie von der Krankheit des Hasses genesen sind. Dieses Buch, das die Frage zu beantworten sucht, wie es zu der „Flucht in den Haß“ gekommen ist, stellt gleichzeitig die Frage, ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.

Eva Gabriele Reichmann

*Sie sind in der dafür zuständigen Abteilung der Wiener Library, 19, Manchester Square, London, W. 1, aufbewahrt.

Die Flucht in den Hass

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