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3. Die subjektive oder „unechte“ Judenfrage

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Die Judenfrage, wie sie sich uns empirisch darstellt, reicht allerdings weit über den Kern dieser objektiven Judenfrage hinaus. Bei aller ihrer schon erwähnten Einseitigkeit ist die Auffassung, der Antisemitismus erkläre sich aus den subjektiven Eigenschaften des Antisemiten, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der früher herrschenden Gewohnheit, die für den Antisemitismus geltend gemachten Begründungen mehr oder minder mit seinen wahren Ursachen zu identifizieren. Man hatte sich aufgrund dieser Gewohnheit vorher bemüht, zu beweisen, daß die vorgebrachten Gründe in den Tatsachen keine oder nur eine ungenügende Stütze fänden, und meinte damit dem Antisemitismus wirksam begegnet zu sein. Nun ist zwar die Zurückweisung und Widerlegung falscher Behauptungen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ganz gewiß nicht entbehrlich, aber diese Art der Apologetik allein genügt keineswegs. Die neue psychosoziologische Erklärung des Antisemitismus25 versuchte nun zu beweisen, daß das Wesen und Verhalten der Juden mit dem Antisemitismus überhaupt nichts zu tun hätte, und daß es darum nicht nur gleichgültig sei, was die Antisemiten darüber sagten, sondern auch, wie die Juden darauf reagierten. Der Antisemitismus entspringe einem Haß,- Aggressions- und Selbstbestätigungsbedürfnis der nichtjüdischen Umwelt, das sich nur mehr oder minder zufällig gegen die Juden wende. Er sei daher von den Juden schlechterdings nicht zu beeinflussen, es sei denn durch Beseitigung des Kontaktes, also durch völlige Absonderung.

Was uns von dieser Auffassung trennt, ist ihr Radikalismus. Wäre nicht, wie oben dargestellt, das Gegensatzgefühl zwischen Gruppen der Ausdruck eines echten gesellschaftlichen Problems, so wäre es nicht ein so aufnahmefähiges Gefäß für anderweitige, dem eigentlichen Ursprung fremde Unlustgefühle. Wären anderseits diese anderweitigen Unlustgefühle nicht so stark, so würde das objektive gesellschaftliche Problem kaum jemals zu einem erheblichen Konflikt führen.*

Freud sieht in dem gesamten Zivilisationsprozeß eine Zurückdrängung primärer menschlicher Triebe, die zwar vorübergehend oder dauernd gelingen kann, der Existenz der Triebe selbst jedoch kein Ende macht.26 Der Verdrängungsprozeß wird außerdem nur mit großer Anstrengung zustandegebracht und führt häufig zu nervösen Störungen oder charakterlichen Mißbildungen. Zur Überwindung des Aggressionstriebes mußte etwa ein so ungeheuer machtvoller Apparat wie die in einer völligen Umkehrung menschlicher Instinkte gipfelnde Moral des Christentums in Bewegung gesetzt werden.27 Diese radikale Entfernung von der ursprünglichen menschlichen Natur führt ihrerseits wieder zu einer übermäßigen Belastung des Ich und somit zu neuen Konflikten. „Wie gewaltig muß das Kulturhindernis der Aggression sein“, ruft Freud schließlich aus28, „wenn die Abwehr desselben ebenso unglücklich machen kann wie die Aggression selbst!“

Wie die Fortschritte der menschlichen Gesittung ungünstig auf die menschlichen Triebe wirken und zu ihrer schmerzhaften Zurückdrängung nötigen, so ist auch innerhalb dieses größeren Rahmens im täglichen Leben an Leid, Schmerz und fortgesetzten Enttäuschungen kein Mangel. Diese Unlustgefühle aber setzen sich wiederum in Angriffslust um29, wobei es keine Rolle spielt, ob man wie Freud den Aggressionstrieb als etwas Primäres oder ihn wie Suttie30 als durch unerfüllte Liebe entstanden ansieht. Für unsere Zwecke genügt die Erkenntnis, daß er in erheblichem Maß vorhanden ist, daß die Gesellschaft ihn jedoch mißbilligt, und daß er aus diesem Grunde nach Auswegen sucht, die nach den herkömmlichen Moralauffassungen zulässig sind. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, daß zwischen der Ursache der Unlust und dem Objekt der Angriffslust kein Zusammenhang zu bestehen braucht und in der Tat nur selten besteht; im Wege der von der Psychologie erforschten psychischen Mechanismen wie Verschiebung und Rationalisierung richtet sich vielmehr die Angriffslust mit dem gleichen Entspannungseffekt gegen an der Erregung der Unlust völlig unbeteiligte Objekte (Verschiebung), gegen die nachträglich Angriffsgründe konstruiert werden, die den Angriff vor dem eigenen Selbstgefühl moralisch vertretbar erscheinen lassen (Rationalisierung).

Geht man aber einmal von dem im Individuum gleichsam freischwebenden und nach Entladung strebenden Aggressionstrieb und von einem akuten Gruppengegensatz aus, so wird es alsbald begreiflich, daß jener in diesem ein bevorzugtes Ventil findet. Muß, wie wir oben dargestellt haben, selbst ein nach allgemeinen Maßstäben normaler Mensch die Existenz einer anderen Gruppe als eine Herausforderung seines auf Erhaltung der eigenen Lebens- und Denkform gerichteten Wesens empfinden, so stellt diese Herausforderung für das überdurchschnittlich aggressive Individuum geradezu eine Aufreizung zum Angriff dar. Zu der normalen Verneinung der „Anderen“ tritt die Versuchung, im offenen Kampf gegen die „Anderen“ nicht nur seine Aggressivität abzureagieren, sondern sich selbst als Wahrer hoher Ideale zu fühlen. Das Verlockende am Gruppenhaß ist nämlich die Leichtigkeit, mit der er „rationalisiert“ werden kann. Die Gruppenexistenz, die Gruppenhomogenität, die angebliche oder tatsächliche Bedrohung durch eine Nachbargruppe, der in der Gruppenbehauptung liegende Dienst an einer begrenzten Allgemeinheit, – alle diese Faktoren lassen sich überaus leicht idealisieren. Wenn man erlebt hat, wie aus der technischen Zweckmäßigkeit eines stenographischen Systems eine „Weltanschauung“ gemacht werden kann, ja mehr als das: ein moralisches Kriterium, an dem sich nicht nur „Dummköpfe“ von „Intelligenzen“, sondern auch „Bösewichter“ von ethischen Kapazitäten scheiden, dann ist man von der Brauchbarkeit schlechthin jedes Gruppenunterschiedes für die Abreaktion jedes Selbstbehauptungs- und Aggressionsbedürfnisses überzeugt. Gruppenliebe ist gesellschaftlich zulässige Selbstliebe, Gruppenhaß gesellschaftlich zulässige Aggressivität. Ja: beides wird nicht nur eben geduldet, sondern es kann unter Umständen geradezu verherrlicht werden als Aufopferung, Hingabebereitschaft und Todesmut.

Die Flucht in den Hass

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