Читать книгу Die Flucht in den Hass - Eva Reichmann - Страница 12

4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe

Оглавление

Die Juden sind zwar nur eine Untergruppe unter den vielen Untergruppen der modernen Gesellschaft, aber sie weisen bestimmte Merkmale auf, die sie zum Ziel kollektiver Aggressivität geradezu prädestinieren. Die Juden sind nicht nur „anders“, sie können leicht als „Fremde“ hingestellt werden. Sie sind nirgends autochthon, und vor der Gründung des Staates Israel waren sie selbst im Lande ihrer nationalen Geschichte dem Vorwurf ausgesetzt, Eindringlinge zu sein. In der Diaspora jedenfalls sind sie überall „Eingewanderte“. Überall wird ihnen das Recht auf das Land von einer eingesessenen Mehrheit streitig gemacht; mag deren Anspruch auf Priorität auch mancherorts noch so umstritten sein, es genügt, daß er für die Gesamtheit den Schein des Rechts für sich hat.

Die Juden sind überall eine schwache Minderheit. Die Schwäche besteht nicht nur in dem Minderheitscharakter als solchem, sondern in ihrem Mangel an einem machtvollen Zentrum, durch das sie sich geschützt fühlen könnten, und das auch tatsächlich ihre Interessen wahrzunehmen imstande wäre. Schwäche aber kommt in dem psychischen Mechanismus der „Verschiebung“ geradezu einer Einladung zur Aggression gleich. Die Juden leben nahezu überall. Sie leben nicht nur in fast allen Ländern, sondern – im Stande der Emanzipation – auch in allen Landesteilen und – wenn auch ungleich verteilt – in fast sämtlichen Wohnorten. Die Ubiquität führt zu ständiger Berührung, lädt zu Vergleichen ein und erzeugt ein gefährliches Moment der Internationalität und Unbegrenztheit des Phänomens.

Die Juden stellen einen von den Mehrheitsvölkern mehr oder minder verschiedenen physiologischen Typ dar. Wenn sie auch nach dem Stande der zeitgenössischen Forschung keine Rasse sind, so bilden doch mindestens die aschkenasischen Juden eine durch Binnenheirat konservierte ethnische Gemeinschaft mit einer gewissen Ähnlichkeit des Typs. So wenig alle Juden diesen Typ repräsentieren, so gewiß ist er doch häufig genug, um zur Prägung eines Judentypus die äußeren Züge beizutragen. Daß der Typ dunkelhaarig ist, macht ihn nach Peter Nathan31 in einer vorwiegend hellhaarigen Umgebung für unangenehme Assoziationen besonders geeignet. Daß er noch teilweise die Züge einer jahrhundertelangen ungesunden Ghettoexistenz an sich trägt, hat zweifellos gleichfalls dazu beigetragen, ihn als hinter dem vorwiegend nordisch bestimmten Schönheitsideal zurückbleibend zu empfinden.

Die Juden weichen anderseits trotz ihrer Typdifferenz nicht in entscheidenden körperlichen Zügen, wie etwa dem der Hautfarbe, von ihrer Umgebung ab. Diese Tatsache gibt ihnen gerade den Grad der Ähnlichkeit und Nähe, der den Rest an Verschiedenheit – zumal, wenn er nur das körperliche Symbol anderweitiger Unterschiede ist – als besonders irritierend empfinden läßt. „Die Intoleranz der Massen“, sagt Freud32, „äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“33 Das gleiche Moment der Ähnlichkeit und Nähe bei gleichzeitiger Differenz ist in der religiösen Sphäre vorhanden. Judentum und Christentum haben einen wesentlichen Teil ihrer heiligen Schriften und ihres Ideengehalts gemeinsam. Aber sie trennt die für das Christentum zentrale Figur, die nicht nur von den Juden nicht anerkannt, sondern die – unendlich viel schlimmer – nach dem Zeugnis der christlichen Überlieferung von ihnen verschmäht und gekreuzigt worden ist. Der zum Gruppenhaß prädestinierende Charakter dieser religiösen Beziehung ist so stark, daß er lange Zeit hindurch den Judenhaß entscheidend begründete. Aber auch in den neueren Zeiten, in denen die soziale Bedeutung der Religion erheblich geschwächt ist, bewahrt ihre besondere Rolle in der Jugenderziehung ihr und damit den aus ihr abgeleiteten Gegensatzgefühlen einen hervorragenden Einfluß auf das unbewußte Seelenleben.

Das Moment der religiösen Geringschätzung auf der Seite der Christen wird wesentlich verschärft dadurch, daß die jüdische Selbsteinschätzung ihre vornehmste Rechtfertigung gleichfalls auf religiöser Ebene findet, nämlich in der jüdischen Überzeugung, das von Gott auserwählte Volk zu sein. Diese Überzeugung ist zwar keineswegs auf die Juden beschränkt. Sie kehrt in säkularisierter Form in jedem modernen Nationalismus wieder. Aber während man die nationale Selbsterhöhung eines Staates innerhalb seiner ihn unzweideutig bestimmenden Grnezen als die unvermeidliche Folge seiner normalen Existenz hinnimmt, wird der gleiche Vorgang als peinlich, ja unerträglich empfunden, wenn wir ihn in einer schwachen, kleinen, verachteten, sich um Anerkennung bemühenden Minderheitengruppe antreffen. Wenn alle Umstände demütige Unterwürfigkeit als die adäquate Haltung erwarten lassen, muß der Auserwähltheitsglaube als eine unziemliche Arroganz erscheinen. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die Idee des „auserwählten Volkes“ in Spott und Zorn von Antisemiten aller Zeiten und Länder immer wieder den Juden entgegengeschleudert worden ist.34 Es ist eine der in unserm Zusammenhang so häufigen Paradoxien, daß die ursprünglich rein religiös determinierte jüdische Gruppe, deren Jahrtausende hindurch eigenwillig festgehaltene religiöse Eigenart auch heute noch das sichtbarste Unterscheidungsmerkmal bildet, sich nach der Emanzipation vielfach durch einen Mangel an Religion als Angriffsobjekt auszeichnet. In dem Phänomen der jüdischen Irreligiosität, wo immer es auftritt, liegt freilich nur eine scheinbare Paradoxie. In Wirklichkeit ist es durchaus verständlich, daß für einige Mitglieder einer Gruppe, die viele Jahrhunderte lang vorwiegend unter religiösen Vorwänden unterdrückt worden waren, auch nach der Emanzipation ihre religiöse Gruppenbesonderheit einen negativen Akzent behält, den sie in ihrem Streben, von der Mehrheit aufgenommen zu werden, loszuwerden versuchen. Wichtiger ist jedoch, daß die jüdischen Individuen in ihrer langsamen Lösung von den Bindungen ihrer Gruppe ganz allgemein mit den jüdischen Bindungen auch die allgemeinen Bindungen zu zersetzen tendieren. So wird mit der Befreiung aus den Fesseln der jüdischen Tradition leicht Tradition als solche abgelehnt; mit der Verleugnung jüdischer Werte fällt oft die Anerkennung jedes eindeutigen Wertsystems; mit dem Abfall von der jüdischen Religion kann die Ablehnung jeglicher Religiosität Hand in Hand gehen. Es ist dies ein Prozeß, der für den kulturellen Kontakt jedes „Fremden“ mit der Kultur des Landes seiner Niederlassung charakteristisch ist. Simmel35 wertet ihn durchaus positiv als Voraussetzung größerer Freiheit, Objektivität, Vorurteilslosigkeit, wenn er auch die darin liegenden Gefahren nicht übersieht.*

Der jüdischen Irreligiosität eng benachbart ist ein weiterer Faktor, der die jüdische Gruppe in den Vordergrund möglicher Gruppenantagonismen stellt, der jüdische Radikalismus. Ebensowenig wie die jüdische Irreligiosität ist er eine Eigenschaft der gesamten Judenheit oder auch nur eines erheblichen Teiles der Juden. Aber der Vorwurf der Radikalität ist eines der antisemitischen Standardthemen geworden; dieser Vorwurf blieb deshalb nicht ohne Resonanz, weil einige sehr sichtbare Repräsentanten auf verschiedenen Gebieten des politischen und kulturellen Radikalismus Juden waren. So sicher der Grund dafür in den oben angedeuteten Schwierigkeiten der kulturellen Angleichung liegt, also in einer Anpassungsetappe, die in sich selbst das Mittel zu ihrer Überwindung trägt, so gewiß muß eine so komplizierte Erklärung vor den Augen der Vielen verborgen bleiben. Sie sehen nur die Tatsachen selbst, sehen sie in der von der Propaganda herbeigeführten Verfälschung und Einseitigkeit; und es ist daher nicht verwunderlich, daß in Menschen, die jeder Störung der ruhigen Entwicklung abgeneigt sind, eine scharfe Abwehr gegen die radikalen Ruhestörer einsetzt.36

Wir sind in der vorstehenden Aufzählung der Faktoren, die die jüdische Gruppe zu einem besonders geeigneten Angriffsobjekt machen, absichtlich von außerwirtschaftlichen Faktoren ausgegangen, obgleich oder weil die wirtschaftlichen Faktoren Erklärungen von besonderer Durchschlagskraft liefern. Es ist die Absicht der gewählten Reihenfolge, zu zeigen, wie stark die Entstehung des Antisemitismus durch die besondere Stellung der jüdischen Gruppe begründet ist, schon bevor wir wirtschaftliche Momente zu seiner Erklärung heranziehen. Berücksichtigen wir schließlich diese und machen wir uns gleichzeitig klar, welche beherrschende Rolle sie in der modernen, auf Erwerb und Macht gerichteten Gesellschaft spielen, so wird an dem Phänomen des latenten Antisemitismus kaum noch ein unerklärlicher Rest zurückbleiben. Er wird vielmehr in der Tat, wie J. F. Brown37 ausführt, als im psychologischen Sinn „überbestimmt“ gelten müssen.

Der englische Historiker und Geschichtsphilosoph Professor Arnold J. Toynbee38 untersucht in seinem Kapitel „Herausforderung und Antwort“ die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Herausforderungen physischer oder menschlicher Art in positive Antriebe umsetzen. Nachdem er das von ihm formulierte Gesetz „je stärker die Herausforderung, desto stärker der Antrieb“ durch ein „Gesetz des Ausgleichs“ abgewandelt hat, derart, daß auf dem gleichen Gebiet, auf dem die Herausforderung erfolge, auch ein Ausgleich Platz greife, sagt er39: „ … wir fanden unser ‚Gesetz des Ausgleichs‘ wieder am Werk bei dem ausgeprägtesten Beispiel von ‚Herausforderung und Antwort‘ auf menschlichem Gebiete, das man sich vorstellen kann: dem Beispiel der jüdischen Diaspora“. Er sieht den Ausgleich in folgendem40: „Die Notwendigkeit, sich in einer feindlichen Umwelt zu behaupten, hat die Juden der Diaspora nicht nur zur Rührigkeit angetrieben. Sie hat sie auch in verschiedenartigen nichtjüdischen Ländern und in vielen aufeinanderfolgenden Zeitaltern fähig gemacht, ihren Platz im Waren- und Geldhandel zu finden und sich ihren Anteil am goldenen Strom des Wirtschafts- und Finanzverkehrs zu sichern …“ Toynbee sieht demzufolge in der Placierung der Juden in Handel und Geldwirtschaft das direkte und folgerichtige Ergebnis der Zurücksetzung (discrimination), der die Juden in so besonderem Maße ausgesetzt waren. In ähnlicher Weise nennt der deutsche Soziologe Georg Simmel41 die Geschichte der europäischen Juden das klassische Beispiel dafür, daß der Handel „das indizierte Gebiet für den Fremden“ ist, weil er immer noch mehr Menschen aufnehmen könne als die primäre Produktion. Wir haben die Tatsache der disproportionalen jüdischen Berufsschichtung bereits erwähnt und auch kurz angedeutet, wie sie aus ihrer wirtschaftlichen Ausgangssituation im Geldgeschäft und Kleinhandel folgerichtig hervorging. Es kommt uns hier darauf an, zu zeigen, daß in dieser Schichtung ein weiteres Moment enthalten ist, das die jüdische Gruppe in eine besondere Gefahrenzone rückte.

Ob eine ursprüngliche Neigung, ob die Lage Palästinas an einem Schnittpunkt wichtiger Karawanenstraßen, ob die Zerstreuung unter Beibehaltung einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Rechtes den frühesten Hinweis der Juden auf eine Betätigung im Handel enthielt, braucht hier nicht untersucht zu werden. Es ist anzunehmen, daß verschiedenartige Bedingungen nach der gleichen Richtung wirkten, so daß schließlich der Zwang der mittelalterlichen Machthaber, die die Juden aus religiösen und wirtschaftlichen Gründen auf Geldgeschäft und Kleinhandel beschränkten, nur eine schon bestehende Tendenz verstärkte. Es kommt hier auch nicht darauf an, daß Juden vorübergehend in einzelnen Ländern, so in Spanien und Südfrankreich42 eine prominente Stellung in vielen Zweigen des Handwerks behaupteten, und daß hier und dort Juden auch in der Landwirtschaft zu finden waren; derartige Berufszweige waren im Verhältnis zu der allgemeinen jüdischen Erwerbstätigkeit vom Beginn der Diaspora bis zur neuesten Zeit immer nur zusätzlich, immer nur die Ausnahmen43. Grundsätzlich etwas anders lagen die Verhältnisse nur in Osteuropa und vor allem in Polen, wo es eine beträchtlichere Zahl von jüdischen Handwerkern gab. Aber obgleich dort sogar jüdische Zünfte existierten, die mit den christlichen Zünften in Konkurrenz traten oder sich mit ihnen über ihren Kundenkreis einigten44, waren die Juden doch auch da überwiegend Händler; sie stellten außerdem einen übergroßen Anteil zu Berufen wie denen der Schankwirte und Zwischenpächter45. Teilweise war hier die Not so groß, daß die Juden keinen festen Beruf ausübten, sondern bald Lehrer, bald Händler, bald Arbeiter waren, – nach einem Wort von Max Nordau: Luftmenschen. Auf diese Gebiete also treffen die Folgerungen, die aus der Massierung der Juden im Handel und vor allem die, die aus der sichtlichen Rentabilität ihrer Gewerbe weiter unten gezogen werden, nur mit Einschränkung zu. Trotzdem fallen auch sie unter das allgemeine Charakteristikum, daß die Juden von der Urproduktion des Ackerbaues so gut wie ausgeschlossen waren, und daß solche Individuen, denen es gelang, sozial aufzusteigen, wiederum in Handel, Geldwirtschaft und gewissen noch zu erörternden Industrien eine disproportionale Prominenz erlangten.

Nun gehört aber der Handel und in noch viel stärkerem Maße das Geldgeschäft im Bereich der wirtschaftlichen Funktionen einer relativ späten Stufe an. Zuerst waren Landwirtschaft und Handwerk da, und erst mit zunehmender Ausweitung, Arbeitsteilung und Unübersichtlichkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit wurde die Vermittlungstätigkeit zu einem selbständigen Erwerbszweig. Sie hat den Makel dieses sekundären und im Verhältnis zur Güterproduktion abstrakten Charakters niemals überwinden können, lief eingewurzelt im menschlichen Bewußtsein ist die Idee, daß man einmal in früheren Zeiten auch ohne den Handel ausgekommen sei, und daß – anderseits – der Handel unproduktiv sei, die Waren unnötig verteuere, ihren Wert aber nicht erhöhe46. Uns geht der volkswirtschaftliche Fehler in dieser Auffassung nichts an, und wir haben hier nicht mit ihr zu rechten. Wichtig für uns ist ihre weite Verbreitung und ihre Volkstümlichkeit. Zwar schwankt die Bewertung des Handels in den verschiedenen Ländern; sie ist in England zweifellos erheblich höher als in Deutschland. Hier jedenfalls, wo selbst in Zeiten der Kommerzialisierung das Heer und die Bürokratie den Handelsberuf in seiner sozialen Schätzung niederhielten, ist seine Minderbewertung bis in unsere Tage hinein allgemein. Deshalb konnte die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen „raffendem“, nämlich Handels- und Finanz-, und „schaffendem“, nämlich industriellem Kapital und Grundbesitz eine politische Parole von sicherer Wirkung werden.

In noch größerem Maße aber besteht eine Geringschätzigkeit, ja eine Abneigung gegen alles, was mit dem reinen Geldgeschäft zusammenhängt, handle es sich um Geldverleihen gegen Pfänder und Zinsen oder um komplizierte bank- und börsenmäßige Transaktionen. Hier ist der Zusammenhang mit der Produktion von Konsumgütern noch weniger sichtbar, da es sich nicht einmal mehr um ihre Verteilung, sondern um die Vermittlung des abstrakten Ausdrucks der Kaufkraft, des Geldes, handelt. Der auf diese Weise erzielte Verdienst erscheint noch ungerechtfertigter, ja geradezu unmoralisch. Buchführung und Geldzählen werden noch nicht einmal in dem Sinne als Arbeit gewertet, in dem man Lagerhaltung, Einkauf und Verkauf von konkreten Waren allenfalls noch dafür gelten läßt. Es ist kein Zufall, daß nicht nur die jüdische Lehre und die katholische Kirche das Zinsennehmen einschränkten oder verboten, sondern daß kaum eine andere wirtschaftliche Funktion sich im Laufe ihrer Entwicklung eine so fortwährende Reglementierung gefallen lassen mußte wie diese. Dazu kommt, daß gerade in diesem moralisch stigmatisierten, ebenso verhaßten wie unentbehrlichen Erwerbszweig wie nirgends sonst die Entscheidung über Rettung oder Vernichtung des wirtschaftlichen Kontrahenten in der Willkür dessen zu liegen scheint, der ihn ausübt. Gerade in diesem Erwerbszweig war es den Juden bestimmt, eine so wichtige Rolle zu spielen, daß sie ihrer Identifizierung mit dem Geldgeschäft gleichkam. Aber die verhängnisvolle Rolle des Geldgeschäfts beschränkt sich nicht auf seine Unbeliebtheit. Es gibt auch andere Berufe, die verschmäht und verdächtig sind, und deren Ausübung trotzdem eher Mitleid als moralische Entrüstung auslöst. Was im Gegensatz zu diesen das Geldgeschäft vollends verhaßt macht, ist seine relativ hohe Rentabilität. Diese Rentabilität allerdings entspricht zu einem entscheidenden Teile einer Art optischer Täuschung: man sah in den Zeiten, als etwa die Juden durch Geldausleihen Reichtümer ansammelten, nur diese verhältnismäßig schnell Reichgewordenen und war geneigt, die vielen anderen, die zu allen Zeiten auf Grund ihrer angehäuften Reichtümer ausgeraubt und des Landes verwiesen wurden, zu übersehen. Tatsächlich nämlich stellten die relativ hohen Gewinne der erfolgreichen Geldausleiher im wesentlichen Risikoprämien dar, nicht nur für das wirtschaftliche, in jenen Zeiten sehr hohe Risiko der Nichteintreibbarkeit einer Schuld, sondern auch für eben jenes politische Risiko gewaltsamer Eingriffe in Lebens- und Geschäftsführung, wie sie soeben erwähnt wurden. Die Unsicherheit nicht nur des Erwerbs, sondern des gesamten Lebens drückt sich in den Gewinnen aus, die sich bei der Berechnung ausgedehnter zeitlicher und räumlicher Durchschnitte erheblich senken würden. Um derartige Zusammenhänge zu berücksichtigen, hätte es jedoch eines Maßes an wirtschaftlicher Einsicht und Objektivität bedurft, das bei der Masse der Zeitgenossen nicht erwartet werden konnte. Bestehen blieb deshalb nur der Augenschein, daß ein angeblich unredliches Gewerbe nahezu ohne eigene Arbeitsleistung Gewinne erzielte, auf die der Bauer oder Handwerker auch bei schwerster Arbeit niemals rechnen konnte.

Nachdem die rechtlichen Beschränkungen der wirtschaftlichen Betätigung der Juden gemildert oder aufgehoben worden waren, wäre es theoretisch möglich gewesen, daß schon die erste befreite Generation sich wirtschaftlich „normalisiert“ und sich im ungefähren Prozentsatz ihres Bevölkerungsanteils auf sämtliche nun offenstehende Erwerbszweige verteilt hätte. Bei den Emanzipatoren war eine solche Erwartung zweifellos auch vorhanden. Sie war eines der Hauptargumente jenes Teiles ihrer Befürworter, die in der gesetzlichen Gleichberechtigung die notwendige Vorstufe der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Normalisierung sahen, während die Gegner der Emanzipation die gesetzliche Gleichberechtigung mit Rücksicht auf die gesellschaftlich-wirtschaftliche Anomalie den Juden ganz vorenthalten wollten, und die Vertreter einer mittleren Linie sie erst als Lohn der vorher zu vollziehenden Normalisierung zu verleihen geneigt waren. Die Erwartung einer schnellen Normalisierung hat sich nicht erfüllt. Sie konnte sich nicht erfüllen, weil in der wirtschaftlichen Ausgangsposition der Juden gewisse Entwicklungstendenzen bereits angelegt waren, die dazu führten, daß sie ihren besonderen Gruppencharakter selbst unter veränderten Verhältnissen beibehielten.

Einer der Hauptgründe dafür, daß die Normalisierung nicht erreicht wurde, war die Tatsache, daß die Juden vorwiegend in Städten wohnten. Ob dabei, wie Max Weber47 annimmt, eine subjektive Abneigung der Juden gegen die Landwirtschaft mitgesprochen hat, die dem Wunsche entsprang, den Besitz beweglich und sich selbst auf diese Weise für das Kommen des Messias bereitzuhalten, oder ob der weitgehende Ausschluß vom ländlichen Grundbesitz ursprünglich den Ausschlag gegeben hat, kann dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß die Ausübung händlerischer Berufe selbst in ländlicher Umgebung den Juden einen so hohen Grad von Beweglichkeit gab, daß sie in ganz besonderem Maße von den anwachsenden städtischen Zentren angezogen wurden, auch wenn sie sich nicht von vornherein in ihnen angesiedelt hatten. Ein Übergewicht der Stadt über das Land innerhalb der Wohnverteilung der Juden war so von vornherein gegeben und hat im Laufe der Entwicklung noch stärker zugenommen als bei den Nichtjuden. Einige weitere Faktoren wirkten in der gleichen Richtung: Die Juden bedürfen zu ihrem religiösen Leben sowohl zum Gottesdienst, als auch zum Leben nach gesetzlicher Vorschrift der Gemeinde. Sie waren aber nicht nur positiv aufeinander angewiesen. Ein enges Zusammenleben mit Bauern, in deren dörflicher Lebensgemeinschaft die Kirche und die mit ihr eng verbundenen Sitten noch eine hervorragende Rolle spielten, wäre schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen. Die Stadt dagegen ist ein Platz, an dem die verhängnisvolle „Fremdheit“ des Juden, diese Grundursache so vieler seiner Leiden, eine Art Kompensation, ja fast eine Art Vorzug bedeutet. So wenigstens sieht sie Louis Wirth48 in seiner Studie über die Stadt als Lebensform: „Die Stadt duldet nicht nur individuelle Verschiedenheiten, sondern sie belohnt sie sogar. Sie führt Menschen von allen Enden der Erde zusammen, gerade weil sie verschieden und deshalb einander nützlich sind, – und nicht weil sie gleicher Art und gleichen Sinnes sind.“ Aber selbst wenn man die Meinung, daß die Stadt geradezu eine Prämie auf die Andersartigkeit aussetze, nicht zu teilen vermag, wird es doch ohne weiteres einleuchten, daß die von der Andersartigkeit ausgehenden Nachteile, wenn überhaupt, so nur in der Stadt eine gewisse Milderung erfahren können. Ganz im Gegensatz zu der Kontrolle, die die tägliche nachbarliche Berührung einer ländlichen Gemeinschaft über jeden ihrer Einwohner ausübt, ist der gegenseitige Kontakt in der Stadt nur flüchtig und oberflächlich. Er erfaßt jeweils nur geringe Teilbetätigungen der in Kontakt tretenden Individuen. Diese Anonymität der Stadt muß auf den Fremden, den „horizontalen“ wie den „vertikalen“ Einwanderer, eine starke Anziehungskraft ausüben, weil sie die Bürde der Fremdheit erleichtert. Es ist darum nicht zu verwundern, daß Einwanderer ganz allgemein, selbst wenn sie einer ursprünglich ländlichen Bevölkerung entstammen, im Einwanderungsland vorzugsweise in Städten zusammenströmen49. Viele Zusammenhänge des städtischen Lebens kommen außerdem dem Einwanderer im allgemeinen und dem Juden im besonderen entgegen. Während das Dorf einen Fremden oder allenfalls eine engbegrenzte Zahl Fremder nur aufnimmt unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß diese Fremden sich zu vollwertigen Dorfbewohnern entwickeln und im Laufe der Zeit alle wesentlichen Eigenarten aufgeben, ist es in der Stadt durchaus möglich, Eigenarten zu bewahren, ohne daß die spärlichen Kontakte mit den übrigen Stadtbewohnern dadurch beeinträchtigt würden. Ja es ist sogar möglich, sich auf Grund seiner Eigenarten in besonderen Stadtbezirken zusammenzufinden. Die Ansprüche der Stadt an den Einordnungswillen ihrer Bewohner sind geringer; dafür ist auch der Grad, in dem eine Stadt ihre Bürger anerkennt und als zugehörig betrachtet, bedeutend niedriger als der, in dem man zu einer Dorfgemeinschaft gehört, wenn man einmal dort aufgenommen worden ist. Aber dieser lose Zusammenhang ist es gerade, der den Neuankömmlingen die Niederlassung erleichtert. Sie sind ohnehin durch ihre Einwanderung und die Emanzipation in einem Lösungsprozeß aus hergebrachten Bindungen begriffen; die verminderte Kontrolle in der Stadt kommt dieser Entwicklung durchaus entgegen. Das Fehlen einer neuen Gemeinschaftsordnung, welche die Stadt im Gegensatz zum Dorfe nicht geben kann, fällt dabei nicht ins Gewicht. Vollends aber erscheint die Möglichkeit, mit seinesgleichen zusammen wohnen zu können, die Hilfe Frühergekommener zu erfahren und zugleich auch mit der weiteren Umwelt in wirtschaftlichen Kontakt zu kommen, als eine geradezu ideale Lösung. Daß in dem gleichzeitigen Bestreben, allzu strenger Kontrolle zu entgehen und doch die Vorzüge der alten Gemeinschaft zu genießen, kein Widerspruch steckt, wird jedem Kenner derartiger Übergangsstadien klar sein50. Bedenkt man schließlich noch, daß die städtische Existenz das enge Zusammenwohnen von Individuen, die durch gefühlsmäßige Bande nicht zusammengehalten werden, einen Geist des Wettbewerbs, der Vergrößerung und der auf Nutzen gerichteten Zusammenarbeit begünstigt, also gerade jene Charakteristika erfordert und entwickelt, die der Jude von Haus aus mitbringt, so muß man den Zug der Juden in die Stadt eigentlich als im psychologischen Sinne wiederum „überbestimmt“ ansehen.

Wer aber einmal in der Stadt lebt, geht nicht wieder aufs Land „zurück“. Eine Rückwanderung würde nämlich der Weg von der Stadt aufs Land in dem Sinne bedeuten, als im Zeitalter des Industrialismus, in das die Zeit der jüdischen Freizügigkeit fällt, eine spontane Massenwanderung nur vom Lande nach der Stadt vorkommt. Die städtische Bevölkerung reproduziert sich nicht und ist auf ständigen Nachzug aus den ländlichen Wohngebieten angewiesen, der ihr nur zu willig zuteil wird. Die Landflucht stellt in fast allen industrialisierten Ländern ein ernstes Problem dar; Stadtflucht aber, wo je sie auftritt, endet als typische Erscheinung im äußersten Falle bereits in den sich mehr und mehr ausweitenden Vorstädten. Es würde gewaltsamer sozialpolitischer Eingriffe bedürfen, um diese natürliche Bewegungsrichtung umzukehren.

Mangels jeglicher Gegenwirkung blieben die Juden Städter und wurden in zunehmendem Maße Großstädter, weil fast alle erwähnten Momente für die Großstädte in noch höherem Maße gelten als für die Klein- und Mittelstädte51. Zwar nahm mit jeder Generation ihre Fremdheit, ja sogar ihre Andersartigkeit ab und damit ihr Bedürfnis, unterzutauchen. Sie strebten kaum noch nach eigenen Wohnbezirken, sondern im Gegenteil nach einer unterschiedslosen Verteilung über die ganze Stadt.* Das in den ersten Stadien auftretende Bedürfnis nach Freiheit von jeglicher Kontrolle seitens der Gemeinschaft machte einem verstärkten inneren Gleichgewicht Platz. Doch wirkten die Tendenzen der Frühzeit noch lange nach und wurden zeitweise durch den Antisemitismus noch verstärkt. Auch die verbreiterte Berufsbasis umfaßte ausschließlich städtische Berufe. Der traditionelle Erwerbssinn, dem die immer wiederkehrende „Herausforderung“ den „Antrieb“ nicht vorenthielt, suchte die besseren Chancen an den größeren Wirtschafts- Zentren, und schließlich haben auch gewisse, aus Stadtleben und Bildungsniveau herrührende kulturell-ästhetische Bedürfnisse der Juden dazu beigetragen, ihnen die Großstädte immer anziehender erscheinen zu lassen.*

Nun hat aber auch die unersetzbare wirtschaftliche Funktion der Stadt nach dem Zerfall des Feudalismus sie nicht davor bewahren können, zum Angriffsobjekt aller Sozialmoralisten zu werden. Sosehr man gezwungen sein mag, alle ihre Vorteile und Segnungen problematisch zu sehen, und sosehr sich der verantwortliche Sozialpolitiker zu bemühen hat, ihren unleugbaren gesundheitlichen, moralischen und bevölkerungspolitischen Gefahren zu begegnen, so bedeutet es doch eine gefährliche Abkehr von der Wirklichkeit, wenn die städtische Lebensform zugunsten der ländlichen allgemeiner Verurteilung verfällt. Genau diese Fehlauffassung aber charakterisiert fast durchweg die öffentliche Meinung über die relativen Vorzüge von Stadt und Land. In einem gesunden Volk, wie es die Engländer sind, führt diese Auffassung zu gesunden Reaktionen wie dem Countryhouse der besitzenden und der Gartenkultur der mittleren und kleinbürgerlichen Schichten. Im außergewöhnlich rasch industrialisierten Deutschland aber, das sich mit den Folgen der Industrialisierung nie ganz abfinden konnte, ist die Sehnsucht nach der verlorenen Naturnähe zu einem der bestimmenden Züge eines so weitverbreiteten, urdeutschen Lebensgefühls wie der Romantik geworden. Man muß nicht gleich von den „schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte“, von dem „glühenden, unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit52“ lesen und begegnet doch der Verurteilung der Stadt und der Sehnsucht nach dem Lande in populären sozialpolitischen Schriften, in Literatur und öffentlicher Meinung immer wieder. Auch eine so charakteristisch deutsche Erscheinung wie die Jugendbewegung vor und nach dem ersten Weltkrieg war von diesen Gefühlen getragen. Aber schließlich war es eine allen industrialisierten Ländern gemeinsame Erscheinung, daß man das Landleben mit allen Attributen paradiesischer Reinheit ausstattete und in der Stadt zwar lebte, aber in ihr das Prinzip des Bösen schlechthin sah. Und wiederum finden wir die Juden ausschließlich in jenem Lebensbezirk, dem der negative Wertakzent anhaftet.

Die Verstädterung der Juden war einer der wesentlichen Gründe, die ihrer wirtschaftlichen und wohnortsmäßigen Normalisierung entgegenwirkten. Innerhalb der Städte bestand kein zwingender Anlaß, der sie in ihrer traditionellen Bevorzugung der händlerischen Berufe hätte irremachen können. Zunehmend gewann der Handel an Bedeutung und eröffnete beträchtliche Aufstiegschancen. Dank ihrer Erfahrungen und des Fehlens aller vor- und antikapitalistischen Vorurteile machten die Juden davon ausgiebigen Gebrauch. Die Aufstiegslinien vom Trödel – und Hausierhandel sowie vom kleinen Konsumkredit waren klar vorgezeichnet. Sie führten zum Ladengeschäft, zum Kauf- und Warenhaus, zum Großhandel, zur Bank, zur Börse und zu den vielen Vermittlungstätigkeiten jeder Stufe, wie sie etwa der Warenvertreter, der Grundstücksmakler, der Versicherungsagent repräsentieren. Es gibt innerhalb der Handelssphäre wohl keinen Beruf, den die Juden nicht ergriffen hätten.

Anders war es in der Industrie, die ebenfalls einen Teil der wirtschaftlich auf steigenden Juden auf nahm. Hier fand die jüdische Infiltration im wesentlichen in dreifacher Form statt, aber nur eine dieser Formen war einer Normalisierung günstig.

Zunächst entwickelten die Juden die von ihnen schon vor der Industrialisierung betriebenen Handwerke53. Dies führte zu einer starken Bevorzugung der Bekleidungsindustrie im weitesten Sinne, zu der die Juden vom Schneiderhandwerk her, das sie in großem Umfange betrieben, Zugang fanden.* Ruppin54, der in der Definition sogenannter „jüdischer Industrien“ sehr genau ist, weil es ihm nicht wie uns hier auf eine überproportionale jüdische Beteiligung, sondern darauf ankommt, daß „die ganze Industrie vom Besitzer bis zum Arbeiter ausschließlich oder vorzugsweise mit Juden besetzt ist“, – Ruppin läßt als „jüdische Industrien“ nur drei gelten, von denen zwei territoriale Unterabteilungen der Bekleidungsindustrie darstellen: die Textilindustrie in Polen und die Herstellung fertiger Kleidung und Wäsche in Paris, London und den Vereinigten Staaten55. Für unsere Zwecke ist die Feststellung statthaft, daß die Textil- und Bekleidungsindustrien mit allen ihren Abarten bis zur Lederverarbeitung, Kürschnerei, Mützenmacherei, Knopfmacherei in sämtlichen sich vorwiegend aus aschkenasischen Juden rekrutierenden Judenheiten einen außerordentlichen Prozentsatz der in der Industrie tätigen Juden aufnehmen. Als dritte „jüdische Industrie“ erwähnt Ruppin die Diamantenschleiferei in Amsterdam und Antwerpen, für welche die Juden durch ihre frühere Tätigkeit im Glaserhandwerk sowie durch ihren im Mittelalter betriebenen Handel mit Edelsteinen prädestiniert gewesen seien. Eine gewisse Neigung und Eignung für diesen Industriezweig mag daneben auch in der traditionellen Betätigung von Juden im Bearbeiten edler Metalle begründet liegen56. Der jüdische Anteil an den genannten Industrien bezieht sich auf Unternehmer, Angestellte und Arbeiter, mit der Maßgabe, daß in Mittel- und Westeuropa der prozentuale Anteil der Unternehmer und Angestellten, in Osteuropa jener der Arbeiter überwog57. In den Industrien, die sich aus solchen Handwerken entwickelt haben, in denen Juden nicht vertreten waren, wie Eisengießereien und Maschinenfabriken, sind Juden nur selten zu finden58. Deshalb bleibt auch im Aufstieg die ursprüngliche Schichtung weitgehend erhalten.

Der zweite Weg in die Industrie leitete sich vom Handel und Geldgeschäft ab und bediente sich des dort erworbenen Kapitals zum Zwekke der Gründung oder des Erwerbs von Unternehmungen. Hier gab es keine Beschränkung auf bestimmte Industriezweige59, so daß kaum einer existiert, in dem Juden nicht vertreten sind. Entsprechend der besonderen Art der Einflußnahme bekleideten die so in die Industrie gelangten Juden vorwiegend leitende Stellungen. Es handelt sich hier um den schon weiter oben erwähnten Weg, der eine Normalisierung begünstigte.

Schließlich gibt es noch einen dritten Weg in die Industrie, den Juden in größerer Zahl beschritten haben. Er folgt weder der normalen Fortentwicklung des Handwerks, noch der Suche des Kapitals nach rentabler Anlage in schon bestehenden Werken. Es handelt sich da vielmehr darum, ganz neue Industrien zu erschließen, in denen eine nichtjüdische Konkurrenz nicht im Wege steht60. In der Suche der Spätkommenden nach Erwerbszweigen, die nicht schon von den früher Dagewesenen besetzt sind, offenbart sich ganz besonders stark die dem Gruppencharakter innewohnende Tendenz, sich ohne eine bewußte Abschließung aus sich selbst heraus zu erhalten. Sombart schildert den Prozeß folgendermaßen61: „Hier sind sie die Begründer der Tabakindustrie (in Mecklenburg, Österreich); dort der Schnapsbrennerei (in Polen, in Böhmen). Hier finden wir sie als Lederfabrikanten (in Frankreich, in Österreich); dort als Seidenfabrikanten (in Preußen, in Italien, in Österreich). Hier machen sie Strümpfe (Hamburg), dort Spiegelglas (Fürth); hier Stärke (Frankreich), dort Baumwollzeug (Mähren).“ Wohl hörte die jüdische Exklusivität in einem Industriezweig meistens auf, wenn die Erschließung erfolgreich vonstatten gegangen war, so daß die Gruppenstruktur nur vorübergehenden Charakter besaß. Aber in einigen Zweigen blieb ihre überwiegende Beteiligung doch bestehen. So illustriert etwa die Filmindustrie, besonders in Amerika, die noch äußerst rege Pioniertätigkeit der Juden in der Industrie auf prägnante Art.

Zum Schluß bleibt noch eine typisch jüdische Aufstiegstendenz zu betrachten: der Aufstieg in die freien Berufe. Die Gründe, aus denen die freien Berufe ganz besonders in Westeuropa, aber in geringerem Grade auch im europäischen Osten sich einer besonderen Bevorzugung seitens sozial aufsteigender Juden erfreuten, brauchen nicht lange gesucht zu werden. Die traditionelle geistige Kultur der Juden fand in dieser Berufswahl ihren europäisierten Ausdruck. Die Universität spielte die Rolle einer säkularisierten Jeschiwa (Talmud-Hochschule). Die Beamten- und die Hochschullaufbahn aber blieb den Juden lange Zeit verschlossen. So wurde der freie Beruf zum gegebenen Betätigungsfeld des jüdischen Akademikers. Er wählte auch innerhalb der freien Berufe wieder besondere Sparten, vorwiegend die Berufe des Arztes und des Rechtsanwalts, in denen er nur von der eigenen Leistung und dem Vertrauen eines nicht organisierten Publikums abhängig war. In den technischen akademischen Berufen dagegen, in denen eine spätere Betätigung mehr von den Möglichkeiten einer Anstellung in der Großindustrie abhängig blieb, waren Juden spärlicher vertreten. Hier mag allerdings auch die jüdische Neigung eine Rolle gespielt haben, die stärker auf Personen als auf Maschinen gerichtet ist62.

Wir haben so für die ökonomische Struktur der jüdischen Bevölkerung zweierlei festgestellt: einmal die Tendenz, auch bei grundsätzlicher wirtschaftlicher Freiheit einen wirtschaftlichen Gruppencharakter beizubehalten, und zum andern eine Tendenz, sich in Sphären zu konzentrieren, die bei der öffentlichen Meinung verhältnismäßig wenig beliebt sind. Beide Entwicklungsrichtungen machten die jüdische Gruppe zu einem besonders geeigneten Angriffsobjekt.

Es dürfte kaum notwendig sein, darauf hinzuweisen, daß diese wirtschaftlichen Ausführungen keinerlei Vollständigkeit oder Genauigkeit für sich beanspruchen wollen. Das liegt nicht in ihrer Absicht. Es handelte sich vielmehr darum, unter außerordentlichen, teilweise gewaltsamen Fortlassungen und Vereinfachungen einige typische Tatbestände der jüdischen Existenz in ihrer Bedeutung für die Entstehung des neuzeitlichen Antisemitismus darzustellen. Demgegenüber besagt es nichts, daß einige dieser Erscheinungen nicht auf alle Landesjudenheiten zutreffen, daß, um nur ein Beispiel zu nennen, von einem übermäßigen Anteil der englischen Juden an den freien Berufen nicht gesprochen werden kann. Dieses in England ausfallende Gruppenmerkmal wird dort durch eine besonders einseitige Verstädterung und ein relativ noch früheres Assimilationsstadium der aschkenasischen Juden ausgeglichen, wie es der noch kurzen Emanzipationszeit – etwa seit der Jahrhundertwende – entspricht.

Die Flucht in den Hass

Подняться наверх