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5. Widersprüche in der Erscheinung des modernen Juden

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Damit haben wir aber unsere Übersicht über jene Eigenschaften der jüdischen Gruppe, die den Antisemitismus begünstigen, noch nicht beendet. Wir müssen, wenn wir versuchen, aus dem bisher Gesagten ein Ergebnis abzuleiten, noch auf einen Umstand hinweisen, der alle zuvor erwähnten Faktoren in sich faßt und zugleich in einem besonderen Licht erscheinen läßt.

Der durchschnittliche Jude ist so sehr an das eigentümliche Bild gewöhnt, das seine Gruppe ihm bietet, daß er geneigt ist, ihre verschiedenartigen Züge so zu betrachten, als ob sie alle miteinander zusammenhingen oder sich folgerichtig auseinander ergäben. Er besitzt ein mehr oder minder begrenztes Wissen von der jüdischen Geschichte und von der jüdischen Religion, als deren Folge er die Diaspora ansieht; und sofern er überhaupt eine gewisse Fragwürdigkeit empfindet, werden Gewohnheit und eben dieses Wissen eine ausreichende Antwort alsbald bereithalten. Beim Nichtjuden, der das Phänomen des Judentums von außen sieht, ist das anders. Ihm begegnet dieses Phänomen zu irgendeiner Zeit seines bewußten Lebens, vornehmlich während der Schulzeit, wenn das jüdische Kind der engen Lebensgemeinschaft seiner Klasse äußerlich angehört und doch als „jüdisches“ Kind durch eine Reihe unterschiedlicher Züge von ihr getrennt bleibt. Diese Züge können sehr verschiedenartig sein: Sie können in anderem Religionsunterricht, anderen Feiertagen, unter Umständen auch im Schreibverbot am Sabbath und dergleichen mehr bestehen. Sie können je nach ihrem Umfang und der Sensibilität des Mitschülers, der darüber nachzudenken anfängt, eine undurchdringliche Mauer aufrichten oder nur noch wie ein durchsichtiger Schleier erscheinen. Ganz fehlen werden sie niemals, wo immer das jüdische Kind noch in diesem oder jenem Sinne Mitglied seiner Gruppe ist und während seiner Freizeit in deren Bereich zurückkehrt. Der Widerspruch zwischen Nähe und Entferntheit, der in diesem Verhältnis obwaltet, wiederholt sich noch auf vielen anderen Gebieten. Auf jedem einzelnen und auf allen zusammen bleibt ein Rest von Unerklärlichem, von Geheimnisvollem, von Unheimlichem. In einer Antwort an Erich Kahler63 weist Carl Mayer64 mit Recht darauf hin, daß dem modernen Bewußtsein die Erscheinung des Juden völlig unverständlich geworden sei und daß in diesem Nichtverstehen eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache der neuzeitlichen Abneigung gegen die Juden zu sehen sei. Es ist für die jüdische Situation und alle ihre Begleiterscheinungen in der Tat charakteristisch, daß der Außenstehende sie zunehmend schwerer verstehen kann, je mehr Einzelheiten davon ihm bekannt werden.

Wie für das nichtjüdische Schulkind sein jüdischer Klassengenosse ihm gleich und doch ungleich ist, so geht es dem nichtjüdischen Erwachsenen mit seinem jüdischen Mitbürger. Allerdings ist der Widerspruch zwischen gleicher Staatsbürgerschaft und ungleicher nationaler, Volks- oder „Rassen“-Zugehörigkeit in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich, daß wir der Einfachheit halber die frühere Situation in Deutschland zugrundelegen möchten, die unserer Betrachtung am nächsten liegt. Sie ist auch in ihrer Problematik charakteristisch für weitgehend assimilierte jüdische Gemeinschaften in anderen Ländern und schließlich doch nur graduell verschieden von der Situation, die selbst in Osteuropa bestand: dort wurde zwar die Zugehörigkeit von Juden zu einer anderen Kultur- und Sprachgemeinschaft als alltäglich und darum vielleicht „natürlich“ empfunden, aber die Existenz anderer assimilierter Juden und eine immer bestehende, wenn auch noch so stark modifizierte Forderung nach nationaler Homogenität ließen die Fremdartigkeit trotzdem zum Problem werden.65

Um zu Deutschland zurückzukehren: hier war der Jude durch einen mehr als hundertjährigen Assimilationsprozeß dem Nichtjuden sehr ähnlich geworden.* Entgegen dem auch hier vorhandenen Typenunterschied hatte das jüdische Individuum im Durchschnitt viele Züge mit dem nichtjüdischen Individuum seiner Berufs- und Bildungsschicht gemein. Die überwältigende Majorität der deutschen Juden kannte keine andere nationale Zugehörigkeit als die deutsche. Das Gefühl der Solidarität mit den Juden anderer Länder und eine in ihrer Intensität stark abgestufte Anhänglichkeit an Palästina änderten daran nicht das geringste. Trotzdem wurde von Antisemiten ein künstlicher Gegensatz zwischen diesen Gefühlen konstruiert. Man warf den Juden vor, daß ihre bloße Zugehörigkeit zur internationalen jüdischen Gemeinschaft mit wahrhaft „nationalen“ Gefühlen gegenüber Deutschland nicht vereinbar wäre. Um das zu beweisen, begann man den Begriff „national“ so auszulegen, daß er schließlich auf die Juden wirklich nicht zutraf. Man verengte künstlich den Begriff „Volkstum“, machte das Wort „völkisch“ identisch mit „antisemitisch“, zog die Rasse zur Definition der Nation heran und nahm schließlich seine Zuflucht zu dem mißglückten Begriff „arisch“, – nur um in jedem Falle zu solchen Merkmalen der nationalen Zusammengehörigkeit zu gelangen, die auf die Juden nicht zutrafen. Kein Wunder, daß diese Merkmale sich immer mehr ins Unbestimmte und Mystische verloren, denn die Wirklichkeit widersprach einem Ausschluß der deutschen Juden aus dem deutschen Volk durchaus. Trotzdem hat dieser Streit viel dazu beigetragen, die nationale, ja sogar die staatliche Loyalität des Juden selbst in Deutschland als fragwürdig erscheinen zu lassen.

Wo der Jude weniger assimiliert ist als in Deutschland, liegt die Fragwürdigkeit mehr an der Oberfläche. Der Jude ist Neuankömmling oder der Nachkomme von Neuankömmlingen, er spricht oft die Landessprache gar nicht, schlecht oder mit Akzent, er hat ein anderes Aussehen, andere Sitten und Gewohnheiten als die Mehrzahl der Landesbewohner und zählt sich doch zu ihnen. Er ist Staatsbürger, Stadtbürger, erhebt die ihm daraus zustehenden Ansprüche, entwickelt auch nach und nach seine eigene Abart des landesüblichen Patriotismus. Aber das sind nicht die einzigen Rätsel, die die jüdische Existenz dem nichtjüdischen Betrachter aufgibt. Fast alle der früher erwähnten Tatsachen, die die jüdische Gruppe als besonders exponiert erscheinen lassen, enthalten auch scheinbare Paradoxien: Der Jude war in der mittelalterlichen Ständeordnung, deren Klassifizierung noch im Unterbewußtsein fortwirkt, der Niedrigste; aber er ist aufgestiegen und hat manche sichtbare Machtposition inne. Der Jude ist überall; aber er ist nirgends zu Haus, – so jedenfalls will es die ihm feindliche Propaganda, die ja ganz allgemein die Voraussetzung für das Bewußtwerden der erwähnten Widersprüche bildet. Der Jude glaubt an den gleichen Gott wie der Christ, aber er ist doch gerade auf diesem religiösen Gebiet durch Abgründe vom Christen geschieden. Christus war ein Jude, lebte und lehrte unter Juden; aber Juden haben ihn gekreuzigt. Jude sein heißt vornehmlich einer anderen religiösen Überzeugung anhängen; aber es gibt viele Juden, die gerade dadurch auffallen, daß sie keine wie immer geartete religiöse Überzeugung hegen, sondern die Reihen der Aufklärer, der Atheisten füllen. Die Juden werden als zweitrangig angesehen, man läßt sie zu intimen Freundeskreisen nicht zu; aber sie selbst halten sich für das von Gott erwählte Volk. Sie streben gegen Widerstände nach gesellschaftlicher Anerkennung durch die Nichtjuden; aber sie halten sich gleichzeitig zurück und beharren in selbstgewählter Abgeschlossenheit. Die Juden sind reich und hängen am Gelde; aber sie stellen sozialistische Führer, deren Programm es ist, den Kapitalismus zu stürzen. Die Juden sind radikal, sie sind prominent in allen fortschrittlichen Bewegungen; aber sie selbst halten im jüdischen Bereich an vielen offensichtlich längst überholten Tabus fest und bewahren merkwürdige jahrtausendealte Sitten.

Alle diese Widersprüche bestehen. Aber sie bestehen nur für die Juden als Gemeinschaft, kaum je für das jüdische Individuum. Die Widersprüche erklären sich dadurch, daß die emanzipierten Juden nur noch in einem sehr beschränkten Sinne eine Gemeinschaft bilden, daß sich an ihnen ein Auflösungsprozeß vollzieht, der zu höchst verschiedenartigen Ergebnissen führt. In Wirklichkeit gehen alle Widersprüche auf den einen zurück, daß die jüdische Gruppe sich lockert und wandelt, daß sie aber von außen immer noch als eine einheitliche Gemeinschaft angesehen wird. Diese irrtümliche Annahme kommt vom Verlangen der Menschen her, in der verwirrenden Fülle der sie umgebenden Tatsachen durch das Einführen verallgemeinernder Kategorien auch dort Ordnung zu schaffen, wo eine Ordnung in Wirklichkeit nicht besteht. Derartigen unzulässigen Verallgemeinerungen sind die Juden nicht nur insofern ausgesetzt, als Fehler Einzelner der Allgemeinheit zur Last gelegt werden, sondern auch noch auf die Art, daß offenbare Gegensätze als solche zwar zur Kenntnis genommen werden, aber aus ihnen nicht der natürliche Schluß gezogen wird, daß der Gruppencharakter nur noch in einzelnen, sich vermindernden Sphären vorhanden ist. Im Gegenteil, aus den offen zutage tretenden Gegensätzen wird geradezu geschlossen, daß unter der Oberfläche noch eine geheime Gruppeneinheit fortbestehe, und daß von einer einheitlichen Leitung her ein Spiel mit verteilten Rollen zu umstürzlerischen Zwecken veranstaltet werde.

Aus einer solchen irrigen Denkgewohnheit des Verallgemeinerns, die von der Propaganda noch zweckvoll unterstützt wird, wächst ein dauerndes Nichtverstehen der jüdischen Handlungsweise; aus diesem Nichtverstehen erwächst ein Unbehagen, und aus dem Unbehagen gegenüber einem Geheimnisvoll-Unverständlichen folgt schließlich die Bereitwilligkeit, auch eine noch so unwahrscheinliche „Erklärung“ als wahr zu unterstellen. Wir werden diesem Unbehagen als Vorbereitung zur Übernahme aller möglichen Irrlehren noch häufig begegnen.

Die zunehmende Unauffälligkeit der Juden hat im allgemeinen die Bereitwilligkeit der Nichtjuden, sie als ihresgleichen anzusehen, entscheidend gefördert. An dieser Feststellung wird nichts geändert, wenn darauf hingewiesen werden muß, daß gerade die offenbare Ähnlichkeit des jüdischen Nachbarn, die in ruhigen Zeiten die genannten Widersprüche nicht ins Bewußtsein treten läßt, unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Problem werden konnte. Diese Voraussetzung freilich muß gewissermaßen von außen in das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis hineingetragen werden, denn nur so kann die fortgeschrittene nachbarliche Normalität künstlich zu einer scheinbaren Anomalie werden. Wenn das aber wirksam geschieht, wenn eine aus anderen Quellen sich nährende systematische Judenhetze sich aufnahmewilliger, labiler Gemüter bemächtigt, dann kann die bis dahin obwaltende menschliche Nähe zum jüdischen Nachbarn dem neu erweckten Mißtrauen gegen ihn noch eine besondere Note hinzufügen.

In einer Studie erklärt Freud die Entstehung eines Gefühls des „Unheimlichen“66 so: Es gebe gewisse übernatürliche Dinge wie Allmacht von Gedanken, eine geheime Macht, Böses zu tun, Wiederkehr von Toten und so weiter, woran früher einmal wir selbst oder unsere primitiven Ahnen geglaubt haben. Später haben wir denn diesen Glauben aufgrund überlegener Einsichten als Aberglauben abgetan. Aber ganz sicher haben wir uns imgrunde bei unserer neuen Überzeugung nie gefühlt; und sobald etwas geschieht, was unsern alten Glauben zu bestätigen scheint, empfinden wir das als „unheimlich“. Um eine ähnliche Erscheinung handelt es sich auch in unserem Falle; und genau an dieser Stelle dürften die Ergebnisse einer anderen Untersuchung67 ihre adäquate Einordnung finden. In diesem Buch wird reichhaltiges Material beigebracht über den im Mittelalter weit verbreiteten Glauben, daß der Jude der eingefleischte Teufel sei. Im Zuge der Aufklärung und dem alltäglichen Augenschein der Gegenwart ist diese Meinung weithin verschwunden, aber ähnlich, wenn auch nicht im gleichen Grade68 wie beim psychischen Mechanismus der Verdrängung, haben solche überwundene Stadien die Tendenz, wieder zum Vorschein zu kommen. Werden sie nun, wie es durch intensive judenfeindliche Propaganda geschehen ist, künstlich wieder zum Leben erweckt, so entsteht das Gefühl des Unheimlichen, ganz wie wenn eine Zigeunerin ein Kind durch den „bösen Blick“ „krankmacht“ oder etwa eine vermeintliche Begegnung mit einem Toten stattfindet. Der „überwundene“, ins Unterbewußtsein verdrängte Aberglauben scheint sich zu bestätigen; und gerade weil wir doch so genau wußten, daß es ein Aberglauben ist, weil der jüdische Nachbar Cohn genauso spricht, sich kleidet und sich benimmt wie wir, gerade deshalb besitzt diese plötzliche Bestätigung alle Züge des Unheimlichen. Wir können nicht umhin, vor der List, vor der Verstellungskunst des Teufels zu erschauern, wenn wir erfahren, daß der harmlose Nachbar Cohn eben doch ein unheimliches Wesen ist. Für diesen Effekt spielt es keine Rolle, ob sich eine Teufelsnatur in Raffgier oder in der Teilnahme an politischen Umsturzplänen, Welteroberungswünschen und ähnlichen zerstörerischen Machenschaften offenbart. Allerdings wird der gesamte Ablauf einer solchen Reaktion nur in Ausnahmefällen eintreten. Nur wo das seelische Gleichgewicht schwer gestört ist, wird sich tatsächlich der harmlose Nachbar in einen leibhaftigen Teufel verwandeln. Wir halten daran fest, daß die Gewohnheit des täglichen Augenscheins sich viel häufiger dahin auswirkt, daß die antisemitischen Märchen nicht geglaubt werden. Immerhin ist die menschliche Psyche zu kompliziert, als daß nicht zwischen radikaler Abwehr gegen die Teufelslegende und ihrer Annahme zahlreiche Übergangsstadien möglich wären. Sie werden besonders dann eintreten, wenn in Massenversammlungen und sogenannten Schulungskursen das seelische Gleichgewicht unmittelbar angegriffen worden ist. In solchen Fällen kann ein plötzliches Irrewerden an dem bisher für wahr gehaltenen Bild des Juden leicht dazu führen, daß einige Etappen des Weges, den Freud beschreibt, zurückgelegt werden, sei es nun, daß sie nur bis zu einem leichten Mißverständnis oder zu einem konkreten Aberglauben reichen.*

Die Flucht in den Hass

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