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Bertold Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters
ОглавлениеWer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,
Die Maurer? […]
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
[…]
So viele Berichte, So viele Fragen.
Die hier zentrale Frage ist die nach der sozialen Einbindung von Arbeit, nach der gesellschaftlichen Struktur, in der und für die wir arbeiten. Ich werde in einem späteren, abschließenden Kapitel auf das weite Feld von Lebensanschauung und Lebenshaltung noch speziell eingehen. Im Folgenden möchte ich meine ganz persönliche Befindlichkeit darstellen – in welchem Umfeld und wofür ich arbeite.
Bei der in Umfragen gern gestellten Frage nach der persönlichen Identität ist meine Antwort die Reihenfolge Österreicher, Europäer, Weltbürger. Mein zentraler Bezugs- und Erfahrungsbereich ist zweifellos Österreich, wo der größte Teil meiner Familie lebt, wo ich aufgewachsen bin und wo ich berufliche und politische Verantwortung übernommen habe. Im Rahmen dieser österreichischen Identität gibt es freilich wieder eine Vielzahl regionaler Identitäten, in meinem Fall Wien und Oberösterreich. Ich bin in Wien in einer, wie es so schön heißt, „gutbürgerlichen“ Familie aufgewachsen. Insgesamt ein intellektuell vielfach durchaus progressives, arbeitsames und kulturell aktives Milieu, in dem ich mich ohne Anstrengung und Widerstand entwickeln konnte. Es war eine geistig anregende, sozial aber weitgehend in sich geschlossene Welt mit der Gefahr einer zu frühen und zu leichten Zufriedenheit.
Linz war dann meine Rettung. Wie ich später noch detaillierter schildern werde, hatte ich das Glück, als Assistent von Prof. Kurt Rothschild am Aufbau einer völlig neuen Hochschule, der heutigen Johannes-Kepler-Universität, mitzuwirken. Eine – kluge – Bedingung dafür war, dies nicht als Reisender zu machen, sondern nach Linz zu übersiedeln. Das hatte zunächst die positive Folge, dass meine Frau und ich sehr jung heirateten. Wir beide kannten in Linz zunächst niemanden und hatten dann die Chance, unser Leben selbstständig und mit eigenem Einsatz einzurichten. Es war eine sehr andere Welt, die sich in vielem von unserem wohlgepolsterten Dasein in Wien unterschied, und die einem auch half, Härte und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir haben uns in dieser neuen, selbst erarbeiteten Welt sehr wohl gefühlt und als Zeichen der Dankbarkeit unserem in Linz geborenen Sohn den Namen des oberösterreichischen Landespatrons, Florian, gegeben. Inzwischen sind wir nach Wien zurückgekehrt. Wir sind Oberösterreich und seinen Menschen aber weiterhin durch einen Wohnsitz verbunden.
Bei der Frage, wofür und für wen ich arbeite, ist ein breiter politischer und philosophischer Hintergrund zu sehen, auf den ich später eingehen werde. Ganz unmittelbar und persönlich ist die Antwort aber: mitzuhelfen an der Arbeit für ein erfülltes und sicheres Leben der „einfachen“, arbeitsamen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Ich schätze und bewundere die Personen, die sich um soziale Randgruppen und um spezielle Notfälle kümmern. Mein persönliches, fachliches und emotionales Engagement gilt aber der „Mitte der Gesellschaft“, den Menschen, deren Arbeit und Lebensführung zentral ist für ein stabiles und sozial gerechtes Gemeinwesen. Das Schicksal dieser Menschen ist wieder in großem Maß verbunden mit Sicherung und Ausbau der wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven einer demokratischen Gesellschaft. Es sind diese Menschen wie der Arbeiter, der aus dem Mühlviertel zur Voest pendelt, die alleinerziehende Angestellte im Architekturbüro, der aus bosnischer Familie stammende Monteur bei der Linz A.G., der Lehrling bei den ÖBB, die Wiener Geschäftsfrau von türkischer Herkunft, der Bäckermeister im Burgenland, der Polizist in Tirol und die vielen anderen, die in ironischer Herablassung speziell von Intellektuellen oft gerne mit dem zweifelhaften Klischee der „anständigen Menschen“ versehen werden. Diese Herablassung wird dann von „populistischen“, das heißt konkret: ewig-gestrigen, engstirnigen Gruppierungen, genutzt, um einen Gegensatz zwischen „Volk“ und „Eliten“ zu konstruieren. Nun gibt es zweifellos ökonomische und zum Teil auch kulturelle Interessenskonflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Aber es ist ein Grundelement einer humanistisch orientierten Politik, solche Interessenskonflikte in demokratisch geregelten Bahnen und nicht durch das Aufschaukeln von Ressentiments und Vorurteilen auszutragen. Es ist für eine Gesellschaft von zentraler Bedeutung, einen grundsätzlichen Konsens über gegenseitigen Respekt, sozialen Zusammenhalt und gegen Ausgrenzung zu sichern und konkret zu leben. Für mich persönlich jedenfalls stehen hinter diesen Menschen der Mitte der Gesellschaft Menschen, die ich schätze und für die ich arbeite, jeweils ganz spezifische Personen, mit denen ich im persönlichen, oft freundschaftlichen Kontakt stehe.
Natürlich ist mir bewusst, dass es eine Vielzahl anderer Bereiche gibt, die politisches Handeln und wissenschaftliche Analyse erfordern, und ich habe mich für viele dieser Bereiche auch engagiert. Aber der emotionale Bezugspunkt meines Handelns ist diese Gruppe „einfacher“, aber leider, wie die Geschichte zeigt, unter Umständen verführbarer Menschen in meiner österreichischen Heimat. Eben weil ich deren Interessen im Auge habe, weiß ich auch, dass das Schicksal dieser Menschen in einem Ausmaß, das ihnen oft gar nicht bewusst ist, von äußeren, internationalen Entwicklungen abhängt. Und das ist meine wesentliche Motivation für mein Engagement auf europäischer und internationaler Ebene.
Mein Engagement für ein vereintes Europa entstand zunächst aus dem Bewusstsein, dies sei der beste – ja der einzige – Weg zur dauerhaften Sicherung von Frieden in Europa. Ich wurde 1944 geboren und habe noch Erinnerungen an ein Wien voller Ruinen, ausgebombter Häuser, an Erzählungen von Not und Gefangenschaft. Es ist für meine Generation ein besonderes – und nicht selbstverständliches – Glück, in einer gefahrvollen Welt in ungestörtem Frieden leben zu können, und mein größter Wunsch ist es, dass auch künftigen Generationen dieses Glück zuteilwird.
Den emotionalen Bezug zu einem vereinten Europa gewann ich erstmals mit 18 Jahren. Ich hatte bei einem Aufsatzwettbewerb des Europarates den ersten Preis für Österreich gewonnen und konnte mit den Preisträgern aus acht anderen europäischen Staaten einen Sommer lang durch Europa fahren. Das Zusammenleben in dieser kleinen europäischen Gruppe, das gemeinsame Erleben der Vielfalt und der Gemeinsamkeiten Europas hat mich bleibend geprägt. Ich habe mich daher schon seit Studententagen auch institutionell-politisch für ein gemeinsames Europa eingesetzt, und es ist mir eine große Freude, nun in meiner wohl letzten öffentlichen Funktion als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik wirken zu können. Persönlich habe ich es stets als intellektuell und emotional bereichernd empfunden, in einer europäischen Institution wie der Europäischen Investitionsbank und speziell in der Europäischen Zentralbank zu wirken und so in der Praxis gemeinsame Arbeit für Europa zu erleben. Für kein Anliegen habe ich als Politiker so intensiv gearbeitet, wie für ein positives Ergebnis bei der Volksabstimmung 1994 für einen Beitritt Österreichs zur Europäischen Union.
Der Aspekt der „Weltbürgerschaft“ ist für mich differenziert zu sehen. Es gibt zweifellos eine Verantwortung aus der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Für die Mehrzahl der Menschen – und so auch für mich – kommt es bei der Konkretisierung dieser Verantwortung freilich zu Abstufungen nach emotionaler, räumlicher und geistesgeschichtlicher Nähe. Als Ökonom sehe ich die gewaltige ökonomische und politische Dynamik der Globalisierung – sowohl in Bezug auf ihre Chancen wie in Bezug auf ihre Herausforderungen – und ich bin bemüht, mitzuarbeiten an den Bestrebungen, für die Europäerinnen und Europäer eine positive Mitwirkung an dieser Dynamik zu erreichen. Von der menschlichen und politischen Seite her sehe ich die bereichernden Aspekte dieser Globalisierung im Zusammenkommen interessanter und international offener Menschen mit unterschiedlichem historischem Hintergrund, aber vereinbarer Werteorientierung. Es ist dies ein „Weltbürgertum“ auf der Basis einer gemeinsamen Sicht der Welt im Sinne von Aufklärung und gegenseitiger Achtung.
Ich habe dagegen erhebliche Probleme mit jenem Teil der Menschheit, der leider – noch? – in unterschiedlichen Formen beherrscht ist von religiöser und gesellschaftlicher Intoleranz und von Gewaltbereitschaft. Ich fühle mich aber auch fremd gegenüber manchen Mitgliedern jener strahlenden Managerklasse der Welt der kommerziellen Globalisierung, ausgebildet in exzellenten internationalen Schulen, durch zum Teil absurde Überzahlung ausschließlich gebunden an die Interessen ihrer multinationalen Dienstgeber. Diese „Multis“ sind ihre Heimat, und von diesen werden sie mit Absicht zu jeweils nur zeitlich begrenzten Aufenthalten in die jeweiligen „Gastländer“ geschickt. Zeitlich begrenzt um zu verhindern, dass sie sich mit den Interessen der jeweiligen Bevölkerung verbinden. Es ist dies das alte britische Kolonialprinzip der Verhinderung „to go native“, das zur Schaffung einer hochqualifizierten, bestens „vernetzten“, international völlig mobilen „Söldnertruppe des Kapitalismus“ führt.
Eine solche Perspektive ist freilich deutlich zu unterscheiden von der „Internationalität der Intellektuellen“, der ich mich voll zugehörig fühle. Die Internationalität der Intellektuellen habe ich am schönsten in meinen Erfahrungen als Wissenschafter, aber auch im Bereich internationaler Institutionen erlebt. Gute Wissenschaft muss international offen sein. Ich habe es stets als Privileg empfunden, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, habe wesentliche Anregungen meines Lebens von Studienaufenthalten und Gastprofessuren an europäischen und außereuropäischen Universitäten empfangen und hier auch viele persönliche Freunde gefunden. Entsprechend sehe ich es auch als Verpflichtung, für die weltweite Freiheit dieser „Republik des Wissens“ – der „République des Lettres“ zu kämpfen – eine Freiheit, die immer wieder durch autoritäre Regimes bedroht ist. So war ich zur Zeit des kommunistischen Regimes in Osteuropa bemüht, von Österreich aus Kontakte für ein offenes, kritisches Denken mit Angehörigen dortiger Universitäten zu halten. Auch heute bemühe ich mich als Präsident der Bruno Kreisky Stiftung für Menschenrechte gemeinsam mit meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, bedrohten Intellektuellen zumindest kleine materielle und symbolische Hilfe zu leisten. Ich bin ein großer Bewunderer der ja vielfach angefeindeten, von George Soros initiierten und finanzierten Open Society Foundation. Im Sinne von Karl Popper, der auch für mich eine intellektuelle Leitfigur ist, wird hier nachhaltige, konkrete Arbeit für die Freiheit des Geistes geleistet. Wie wichtig dies nach wie vor selbst in Staaten der Europäischen Union ist, zeigt der tapfere Kampf der Central European University, die ich bei ihrem vom autoritären Orban-Regime erzwungenen Umzug von Budapest nach Wien nach Kräften unterstütze.